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Biologie: Peter Heuer bringt den biologischen und ontologischen Artbegriff zusammen

PHILOSOPHIE DER BIOLOGIE

 

Peter Heuer bringt den biologischen und den ontologischen Artbegriff zusammen

 

Was sind Arten?

 

In der Biologie ist man sich uneinig, was unter einer Art zu verstehen ist. Peter Heuer unterscheidet in seinem mit einem Preis ausgezeichneten Buch

 

Heuer, Peter: Art, Gattung, System. Eine logisch-systematische Analyse biologischer Grundbegriffe. 344 S., Ln., € 48.--, 2009, Karl Alber, Freiburg

acht verschiedene in der gegenwärtigen Biologie verwendete Konzepte, die mehr oder weniger willkürlich sind und unverbunden nebeneinander stehen:

 

¢ Eine Art umfasst alle Populationen, deren Angehörige untereinander faktisch oder potentiell kreuzbar und von den Angehörigen anderer Populationen reproduktiv isoliert sind. Diese Definition geht auf Ernst Mayr zurück, ist aber nur auf die sich sexuell fortpflanzenden Lebewesen anwendbar.

 

¢ Arten sind „Gruppen von Individuen, die in allen Merkmalen der Gestalt, der Physiologie und des Verhaltens so weit übereinstimmen, dass sie sich von anderen Individuengruppen abgrenzen lassen“ (Lexikon der Biologie“)

 

¢  Die Biogeographie fasst Arten als Großpopulationen.

 

¢  In der Genetik versteht man unter Arten „alle Individuen, die eine potentielle Fortpflanzungsgemeinschaft bilden und deren lokale Genpools miteinander in ständiger und dauerhafter Verbindung stehen“.

 

¢ Arten werden als strukturierte Gesamtheiten verstanden.

 

¢ L. Bertalanffy versteht Arten als offene Systeme, in denen Gleichgewicht herrscht.

 

¢ In der Ökologie wird Art als eine ökologische Nische verstanden.

 

¢  Eine Art entsteht mit der Aufspaltung einer Stammart in Tochterarten und endet erst mit ihrer eigenen Aufspaltung oder mit dem Aussterben.

 

Die Unvereinbarkeit entsteht durch die unterschiedlichen Funktionen, die dem Art-Begriff zugesprochen werden.

 

Das biologische System

 

Das biologische System hilft dem einzelnen Wissenschaftler, Arten zu erkennen, denen er zuvor noch nicht begegnet ist, und macht ihn offen für Neuentdeckungen. Außerdem ordnet das System die biologischen Lehrsätze über Arten und dient als Grundlage eines Kataloges des biologischen Wissens. Das klassische biologische System ist durch eine besonders klare Ordnung gekennzeichnet. Sie ist das Ergebnis intensiver, von jeder Generation aufs neue durchgeführter und bis heute unabgeschlossener Forschungsarbeit. Mittels des biologischen Systems lassen sich alle auf der Erde vorkommenden Arten katalogisieren, wobei es etwa 2 Millionen beschriebene Arten von Organismen gibt.

 

Die in diesem System verwendeten Ordnungsebenen, Strukturen und Begriffe sind „künstlich“ erstellt.  Dabei ist das System nicht starr. Ursprünglich hat man versucht, auf allen Ebenen die Gattungen nach zwei Merkmalen zu unterscheiden – so wie nach Tieren und Pflanzen. Das hat sich jedoch als unpraktisch erwiesen. Artenreiche Gruppen wie z.B. die Insekten, die mit ca. 750´000 bekannten Arten umfangreicher als alle anderen Tierarten ist und eine große Mannigfaltigkeit an Formen aufweist, konnten erst dann angemessen sortiert werden, als man „horizontal“ zwischen den gebräuchlichen Ordnungsebenen jeweils Unter- und Überordnungen einzog. Der Taxonom muss sich also bemühen, das System so wenig wie möglich zu modifzieren, um es möglichst übersichtlich zu halten, aber trotzdem offen dafür sein, es, wo erforderlich, anzupassen. Doch überall gibt es Abweichungen von den Regeln. Das Schnabeltier z. B. weist Merkmale verschiedener Klassen, der Vögel und der Säuger, auf. Viele der verwendeten Klassifikationen sind jedoch keine reinen Kunst-Begriffe, sondern sind lebensweltlich vorgeprägt.

 

Wodurch unterscheiden sich Arten von Gattungen und anderen höheren Taxa? Im Unterschied zu den Arten lassen sich von höheren Ordnungen keine Repräsentanten in der Welt finden. Die Ordnungsbegriffe des Systems sind von uns gebildete Verallgemeinerungen. Diese müssen auf das System abgebildet sein. Das Ordnungssystem wird gleichzeitig von oben und unten erarbeitet Für den Aufbau von oben sind die Kategorie Lebewesen als obere Grenze und die unterscheidenden Merkmale der Lebensformen wichtig. Die abstrakteste Unterscheidung ist die der Lebewesen in Tiere und Pflanzen. Von hier aus setzt man die Einteilung differenzierend nach unten fort. Doch gleichzeitig muss man auch auf die einzelnen Arten an der unteren Grenze des Systems blicken und von hier aus Gattungen, Familien und Ordnungen bilden. Dies geschieht durch Zusammenfassung. Dabei sind vor allem die bei allen Wesen gleichen Eigenschaften als Kriterien wichtig. Die Begriffe dünnen einerseits nach oben immer mehr aus, da immer weniger gleiche Eigenschaften auffindbar sind, andererseits werden sie immer reicher, da immer mehr und immer verschiedenere Formen unter sie fallen. Die Aufgabe des Taxonomen besteht darin, das zusammenfassende und das differenzierende Verfahren miteinander in Einklang zu bringen.

 

Zwischen den einzelnen Ordnungsebenen kann nach festen Regeln geschlossen werden, da sichergestellt ist, dass niedrigere Ordnungen alle Eigenschaften höherer Ordnungen, unter die sie fallen, aufweisen und jede Art, Gattung usw. immer nur unter je eine höhere Ordnung einer bestimmten Ebene fällt.

 

Zur Geschichte des Systems

 

Aristoteles ist einer der ersten, die sich um die Aufstellung eines natürlichen Systems bemühen. In seiner Schrift Über die Teile der Tiere bemerkt er, dass Zweiteilung zur ordnenden Bestimmung nicht ausreicht. Er verfolgt die Idee einer Ordnung, in die alle Lebewesen aufgenommen werden können und innerhalb der syllogistisches Schließen möglich ist. Eine weitere Eigentümlichkeit des aristotelischen Systems ist, dass er den Menschen zwanglos als Bluttier in seine Ordnung einsortiert.

 

Erst Gasphard Bauhin (1510-1624) ging dazu über, die Pflanzen durchgehend nach „natürlichen Merkmalen“ wie die Form von Blättern, Blüten oder Früchten zu klassifizieren, wobei er die Form der Blätter zum Hauptmerkmal erklärte. Zur Bezeichnung der Arten nahm er eine klare Trennung in Arten und Gattungen vor und benannte die Arten durch die Angabe von Gattungsnamen und ein bis drei Eigenschaften. Carl von Linné (1707-1778) baute später die Methode zu einer durchgehenden binären Nomenklatur aus. In seinem Werk Systema naturae erfasste und systematisierte er rund 8500 Pflanzen- und 4200 Tierarten. Dabei bestimmte und katalogisierte er die höheren ausschließlich nach dem Blütenaufbau und schuf ein Sy­stem, in dem das Verhältnis von Allgemeinerem zum Spezielleren konsequent extensional funktioniert. Als Vorbild diente ihm die militärische Ordnung: Jeder Ordnungsbegriff einer niedrigeren Ordnungsebene ist immer nur unter einen Ordnungsbegriff der nächst höheren Ordnungsebene subsumiert, so wie jede Kompanie nur zu einem Bataillon gehört und jedes Bataillon nur zu einem Regime

 Linné wurde vorgeworfen, dass sein System die Pflanzen eigentlich nur katalogisiert. Ein System habe jedoch zusätzlich enzyklopädische und handlungsorientierende Funktionen zu übernehmen. Dieser Mangel hat bis heute zu Schwierigkeiten bei der Aufstellung geführt. Es ist nicht gelungen, die Mannigfaltigkeit der Lebewesen derart zu strukturieren, dass es alle für uns wichtigen Eigenschaften berücksichtigt. Und es ist bislang nicht zu sehen, wie dies gelingen soll. Linné selbst glaubte an eine vom Schöpfer installierte Ordnung im Pflanzenreich, die es für den Menschen nicht aufzustellen, sondern nur zu finden gilt.

 

Hegel warf Linné vor, er habe kein natürliches, sondern ein künstliches System aufgestellt und zwar sowohl für die Pflanzen wie auch für die Tiere. Er habe nicht den Grundaufbau der Pflanzen und Tiere zum Einteilungsgrund gemacht, sondern willkürlich ausgewählte Kriterien. Für Hegel muss ein biologisches System grundlegende Einteilungen vornehmen und darf nicht nur eine Aufreihung der Lebensformen sein. Diese sieht er für die Pflanzen in Einkeimblättrige und Zweikeimblättrige, und bei den Tieren in Wirbellose und Wirbeltiere. Zwar finden sich in der Natur alle möglichen Übergangsformen wie Amphibien oder Zwitter, aber diese verunmöglichen eine solche allgemeine Einteilung nicht, sondern zeigen nach Hegel vielmehr deren Notwendigkeit.

 

Der ontologische Status von Art

 

Die Konzeptionen von Arten, welche in der Philosophie entwickelt werden, beziehen sich nicht nur auf Lebewesen, sondern auf alle möglichen Arten von Gegenständen. Es stehen formalontologische Überlegungen dahinter. Bei der Begriffs- und Modellbildung innerhalb der Biologie werden dagegen auch realontologische Überlegungen angestellt. Im wissenschaftlichen Diskurs um die richtige Artkonzeption hat man Heuer zufolge diesen Unterschied nicht immer gesehen.

 

Individuenbezogene Urteile

 

Heuer unterscheidet zwischen individuenbezogenen und artbezogenen Urteilen. Bei er­steren ist zwischen bestimmenden und beschreibenden Urteilen zu unterscheiden.

 

Bestimmende Urteile, die die Art angeben, zu der ein Lebewesen gehört, zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur einen momentanen Zustand des Gegenstands betreffen, sondern in gewisser Weise zeitlos gültig sind. Sie treffen so lange zu, wie das zu bestimmende Subjekt selbst existiert. Solange ein Lebewesen lebt, gehört es zu seiner Art. Sie bestimmt, was ein Individuum oder ein Ding ist. Eigenschaften hingegen hat ein Individuum. Kasimir ist eine Katze, hat aber vier Beine.

 

Eine Beschreibung kann nicht angeben, was an einem Gegenstand oder Sachverhalt wesentlich ist, sondern bezieht sich nur auf dessen Erscheinungen. Sie kann nur angeben, wie ein Gegenstand ist, aber nicht, warum er so und nicht anders ist. Sie dringt im Unterschied zur Bestimmung nicht zu dessen Wesen und. im Unterschied zur Erklärung, auch nicht zu den Gründen seines Bestehens vor.

In der philosophischen Tradition wird der Unterschied zwischen bestimmenden und beschreibenden Urteilen üblicherweise als Unterschied zwischen Substanz-Akzidenz- und Begriffs-Gegenstands- Relation beschrieben.

 

Dass Leben keine Eigenschaft ist, merkt man, wenn man sich klar macht, was es für eine Katze heißt, ihr Leben zu verlieren. Eine tote Katze ist keine Katze mehr, sondern ein Kadaver, den man nicht mehr füttern, sondern begraben muss. Auch die Zugehörigkeit zu einer Art ist keine Eigenschaft, sondern sie macht das Dasein eines Lebewesens aus. Diesen Unterschied verpasst, wer Bestimmen auf eine Weise des Beschreibens reduziert. Bei der Reflexion über Lebewesen braucht man deshalb einen Begriff von Substanz, zu dem die wesentlichen Bestimmungen wie leben und katze-sein, aber auch die Entwicklungszustände gehören. Diese Bestimmungen sind keine Eigenschaften. Für Heuer erfüllt die Kategorie des Wesens (ousia) diese Bedingungen.

 

Ein Kriterium hat die Aufgabe, Arten voneinander abzugrenzen. Mit seiner Hilfe lässt sich entscheiden, ob eine neue beschriebene Form tatsächlich eine neue Art ist oder nur eine Varietät oder Rasse einer bereits bekannten. Dabei müssen die Arten oder Formen zuvor längst (z.B. auf Grund morphologischer Merkmale) beschrieben sein.

 

Das wissenschaftliche Bestimmen wird als Einordnen in das System verstanden. Dabei wird die Was-ist-das-Frage von der Wohin-soll-ich-das-ordnen-Frage überlagert. Ursprünglich hingegen ist „Bestimmen“ einfach gleichbedeutend mit Wiedererkennen der Artform. Bestimmungsbücher und Bestimmungsschlüssel sowie das ganze taxonomische System dienen dem Feldbiologen im Umgang mit einer ihm unbekannten Art als Hilfsmittel, um das fehlende Wiedererkennenkönnen des Artwesens zu kompensieren. Aber dieses an Kriterien orientierte Klassifizieren ist nur eine unterstützende Technik. Sie ist nur im Rahmen einer etablierten Bestimmungspraxis sinnvoll. Das Bestimmen wirklich ersetzen kann es nicht. Die Sicherheit ist nicht dieselbe wie beim durch Wiedererkennen (der Art nach) geprägten ursprünglichen Bestimmen. Dabei ist die Dialektik des Bestimmens folgende: Ursprünglich erkennen wir Wildtiere wie Meisen oder Spatzen als Artwesen. Wissenschaftlich ordnen wir Arten in ein System. Wenn wir mit Kenntnis des Systems Lebewesen beobachten, wird das ursprüngliche Erkennen durch dieses Ordnen überlagert. Ein Vorteil des systemgestützten Ordnens ist, dass es uns ein Stück weit ermöglicht, auch mit unbekannten Lebewesen umzugehen. Ordnen allein bleibt jedoch immer schematisch. Es bedarf zusätzlich des Erkennens, um ein Bestimmen im vollen Wortsinn zu werden.

 

Heuer zufolge fasst man Eigennamen am besten als Gegenstandsbezeichnungen auf, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht wie Artbegriffe klassifizieren oder bestimmen, sondern identifizieren und individualisieren. Eigennamen bestimmen nicht, sondern sie benennen. Der Unterschied zwischen Beschreiben, Bestimmen und Benennen wird deutlich, wenn man sich überlegt, inwieweit die unterschiedlichen Urteile dazu beitragen, ein Lebewesen wiederzuerkennen. Ein bestimmendes Urteil ermöglicht es, ein Ding zumindest der Art nach wiederzuerkennen, wenngleich nicht als identisches Einzelwesen. Dafür, etwas wiederzuerkennen, reicht es nicht, dass der vormals benannte Gegenstand erneut aus der Pluralität der anderen herausgegriffen wird. Vielmehr muss man ihn als etwas, dem man schon einmal begegnet ist, wieder erkennen. Dies geschieht durch den (internen) Vergleich mit einem Erinnerungsbild, einem Schema, welches wir uns von jedem Gegenstand, den wir als Individuum kennen lernen und wieder erkennen wollen, bilden und merken müssen. Allerdings ist es lebensweltlich kaum möglich, unsere Wiedererkennungsurteile derart abzusichern. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als uns auf die Basiskompetenz des  identifizierenden Erkennens anhand von Ähnlichkeiten mit einem Erinnerungsbild zu verlassen.   

 

Die übliche Sprachform, um einen Gegen­stand identifizierbar zu machen, ist die Vergabe von Eigennamen. Sie ist natürlich nur dort sinnvoll, wo wir es mit wiedererkennbaren Individuen zu tun haben. Zum Wiedererkennen gehört aber mehr als nur die Kenntnis eines Namens, nämlich die der Individualität. Niedere Tiere, wie Schnecken, muss man kennzeichnen, wenn man sie als Individuum sicher wieder erkennen will.  Sie unterscheiden sich für uns nur numerisch von den anderen Individuen ihrer Art, da sie keine von uns wahrnehmbare Individualität ausbilden, sondern nur eine Artform. Wir können sie daher nur der Art nach erkennen.

 

Artbezogene Urteile

 

Urteile über Arten haben einen anderen Status als solche über Einzellebewesen. Es gibt nichts in der Welt, auf das man zeigen und sagen kann: „Dies ist die Art Katze.“ Trotzdem gleicht der Satz „Die Katze hat vier Beine“ der Form nach einer Beschreibung. „Die Katze“ ist Substanz, „hat vier Beine“ Akzidenz. Es ist eine artbezogene Beschreibung. Beschreibende Urteile über Arten drücken Typisches aus. Sie haben normativen Charakter. In der Literatur werden sie als generische Sätze bezeichnet. Im Unterschied zur Bestimmung eines Einzelwesens ist hier statt eines wahrgenommenen Individuums eine Art als ganzes unter einen Begriff zu subsumieren. Artbezogene identifizierende Urteile sind denen auf der Individualebene analog. Man kann Arten taufen und umbenennen. Mit Hilfe der Namen machen wir Arten intersubjektiv identifizierbar. Artbezogene bewertende Urteile auf der Artebene setzen diese in Relationen zu anderen Arten.

 

Die Lehrsätze der Artenkunde sind artbezogene beschreibende Urteile der Form „Die Katze hat vier Beine“.  Sie sind zu unterscheiden von artbezogenen bestimmenden Urteilen wie „Die Katze ist ein Säugetier“. Artbezogene bestimmende Urteile haben keinen normativen, sondern einen definitorischen Sinn. Lehrsätze über Arten lassen sich nicht als Allaussagen formulieren. Der Satz „Alle Arten haben vier Beine“ ist nicht wahr. 

 

Generische Urteile bilden ein einheitliches Wissenssystem. Sie dürfen einander nicht widersprechen. Sie dürfen auch den empirischen Beobachtungen nicht entgegenstehen, wenngleich sie sich nicht unmittelbar auf einzelne Fälle beziehen. Generische Sätze beruhen des weiteren nicht auf den Privatmeinungen einzelner Forscher, sondern sind intersubjektiv gültig. Sie können durch den einzelnen nicht nach Belieben geändert werden. Vielmehr können einzelne Forscher auf Grund ihrer Forschungsergebnisse Veränderungen vorschlagen, welche erst nach entsprechender Prüfung umgesetzt werden. Auch können sich die Lebensformen der Arten in einem oder einigen Merkmalen ändern. In solchen Fällen muss die wissenschaftliche Gemeinschaft reagieren und die generischen Sätze anpassen.

 

Die generischen Sätze über Lebewesen unterscheiden sich der logischen Form nach, im Geltungsanspruch und in der Vorhersagegewissheit von den Gesetzen der Physik. Die generischen Sätze der Biologie werden als


kategorische Urteile formuliert: Sie gelten unbedingt (d. h. sie werden unabhängig von allen Vorbedingungen und sonstigen störenden Umständen formuliert), aber nicht ausnahmslos (d. h. es kann Fälle geben, für die sie nicht gelten, obwohl sie unter die Regel fallen). Die Ausnahmen sind als mehr oder weniger normale Abweichungen zu verstehen. Heuer versteht generische Sätze über Lebewesen gleichwohl als Naturgesetze mit der Begründung, es seien die spezifischen Gesetze der eigenständigen Wissenschaft Biologie, Gesetze des Lebens und damit Naturgesetze.  Die verbreitete Annahme, Naturgesetze seien generell als ausnahmslos geltende hypothetische Sätze zu verstehen, hält er für die Folge eines Physikalismus.

 

Generische Sätze sind darüber hinaus in     einem bestimmten Sinne normativ. Der Satz „Die Katze hat vier Beine“ enthält im Unterschied zu „Kasimir ist schwarz“ eine Norm: Er drückt aus, wie eine gesunde, ordentliche, normale und typische Katze zu „sein hat“ hat. Sie reglementiert, was wir normalerweise von einer Katze zu erwarten haben. Der Satz erinnert uns daran, wie eine gesunde Katze aussieht und sich verhält und gibt uns damit die Möglichkeit, eine gesunde von    einer verstümmelten oder missgeborenen Katze zu unterscheiden. Es handelt sich hier um Lehrsätze. Mit ihnen wird das Wissen über Arten konserviert und weitervermittelt: Zu jeder Art gibt es ganze Listen solcher Sätze. Diese kann man rein „theoretisch“ lernen, ohne jemals einem Vertreter der Art begegnet zu sein.  Die Biologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit solchen Lehrsätzen operiert. Die meisten ihrer wissenschaftlichen Aussagen haben diese Form.

 

Hält man die verschiedenen Arten von Normen nicht auseinander, kann es dahin kommen, dass man als unmoralisch zu bewertende Handlungsweisen oder Haltungen, wie etwa Faulheit, und angeborene oder durch Krankheit entstandene schlechte körperliche oder geistige Verfassung von Personen als Normverstöße der gleichen Art bewertet.

 

 

Art als Wesen

 

Weder Klassen- noch Typenmodelle können den Artbegriff wirklich erfassen. Eine Katze, die in ein Fangeisen geraten ist und dabei   eines ihrer Beine verloren hat, bleibt eine Katze. Nach dem Klassenmodell würde sie jedoch zwingend aus der Klasse der Katzen ausgegrenzt. Diese Position hat die Schwierigkeit, dass Artzugehörigkeit ganz formal betrachtet wird, als bloße Zusammenfassung auf Grund von irgendeiner Gleichheit oder Ähnlichkeit. Unser Wissen über Arten bezieht sich aber auf eine Vielzahl sich verändernder und endlicher Einzelwesen. Das Allgemeine hat hier, im Reich des Lebens, sozusagen auch eine unmittelbare Beziehung zu jedem der Einzelnen. Es hilft uns die Einzelwesen zu erkennen und zu beurteilen. Das kann das Klassenmodell nicht erfassen. 

 

Heuer zufolge kann mit dem auf Aristoteles zurückgehenden ousia- Begriff die Katze als Wesen besser erfasst werden. Er sieht den ousia-Begriff als Bindeglied zwischen philosophischen und biologischen Auffassungen und verwendet dabei die Hegelsche Denkfigur von Wesen und Erscheinung. Hegel erläutert in seiner Enzyklopädie (§ 250) am Beispiel von Missgeburten, dass wir Normsetzungen brauchen, um Ausnahmen zu erkennen: „Um dergleichen Gebilde als mangelhaft, schlecht, missförmig betrachten zu können, dafür wird ein fester Typus vorausgesetzt, der aber nicht aus der Erfahrung geschöpft werden könnte, denn dies gibt auch jene so genannten Missgeburten, Missförmigkeiten, Mitteldinge u.s.f. an die Hand.“

 

Heuer versteht das Verhältnis von Art und Individuum als paradigmatischen Fall aller Wesenslogik. Arten als solche sind nicht wahrnehmbar, sondern nur die zu ihnen gehörenden, d. h. sie verkörpernden und sie repräsentierenden Individuen. In diesem Sinne ist die Art als ein Wesen zu verstehen, welches in Gestalt der Individuen erscheint. Dabei sind Art bzw. Artwesen und Individuum sowohl begrifflich als auch ontologisch aufeinander bezogen. Die Art gäbe es nicht ohne die Individuen und diese nicht ohne die Arten. Arten bringen Individuen hervor und werden von diesen erhalten.

 

Hinter der Suche nach dem „wahren Wesen“ einer Art  verbirgt sich unsere gemeinschaftliche Mühe, den zutreffenden Kanon von generischen Sätzen über sie herauszufinden. Dieser Kanon zeichnet sich dadurch aus, dass er diejenigen Eigenschaften von Einzelindividuen, die zu einer Art gehören, pro­gnostiziert, die mit erwarteter Regelmäßigkeit (wenngleich nicht notwendigerweise immer) auftreten. Den verlässlichsten Kanon dieser Sätze zu finden, ist Aufgabe der speziellen Biologie.