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ESSAY

Böhme, Gernot: Selbstinszenierung. Über Ruhm in der Philosophie

Gernot Böhme: Selbstinszenierung. Über Ruhm in der Philosophie

Gernot Böhme

Selbstinszenierung: Über Ruhm in der Philosophie


1. Vorspiel

Ich wähle zur Einführung in unser Thema einen Fall aus der Philosophie, der jüngst einige mediale Aufmerksamkeit, aber auch Beteiligung der Öffentlichkeit und der akademischen Philosophie erregt hat, nämlich die Veröffentlichung von Heideggers sogenannten Schwarzen Heften. Es handelt sich dabei um Arbeitshefte Heideggers von 1931 bis Anfang der 70er Jahre, in denen Heidegger ad hoc seine Gedanken notiert hat und in denen vieles in ungeschminkter Weise zur Sprache kommt, was in seinen veröffentlichten Schriften nur zu erschließen ist. Diese Hefte sind aber durchaus nicht hingeworfene Gedanken, bloße Notizen, sondern bündige und sprachlich zusammenhängende Formulierungen. Offenbar hat Heidegger auch hier an eine Veröffentlichung gedacht. Jedenfalls – und das ist das für uns Entscheidende – hat er testamentarisch festgelegt, dass diese Hefte erst nach Fertigstellung seiner Werkausgabe publiziert werden dürfen.
Ihre Publikation war effektvoll und hat eine neue Diskussion über Heidegger, den Mann und sein Werk erregt. Dabei ging es erneut um seinen Antisemitismus, aber auch um seine menschenverachtende Zivilisationskritik.

Nicht die Inhalte interessieren uns hier, sondern die Publikationsstrategie. Heideggers Werk ist inzwischen weltweit zum Klassiker aufgestiegen – man könnte auch sagen herabgesunken - , denn an Aktualität mangelt es ihm und was man in Deutschland mit dort üblichen Orientierung an der Geschichte der Philosophie noch klassisch werden nennen kann, heißt unter globalen Gesichtspunkten, dass Heidegger nur noch zur History of Ideas gehört. Nun hat Heidegger von Anfang an, oder besser zumindest nach 1945, ein sicheres Gespür für die medienvermittelte Publizität gehabt. Wie kaum ein anderer Philosoph hat er mithilfe von Rundfunk und Schallplatte die breitere Öffentlichkeit erreicht. Doch durch Verfügungen in seinem Testament hat er dafür gesorgt, dass er nicht zum akademisch beredeten oder beschwiegenen Klassiker herabsank, sondern durch Nachtod-Publikationen immer wieder Aufmerksamkeit erregte. Der erste Akt in dieser Richtung war seine Verfügung, sein sogenanntes zweites Hauptwerk bzw. den durch die Kehre veränderten zweiten Band von Sein und Zeit, nämlich das Ereignis , erst nach seinem Tode erscheinen zu lassen. Dasselbe gilt für das Interview, das er 1966 dem Spiegel gab. Von Journalisten hatte er ja die Nachfrage nach seiner nationalsozialistischen Vergangenheit und nach einer möglichen Distanzierung davon zu erwarten bzw. zu befürchten. Deshalb erschien dieses Interview nach seinem Tode auch mit einem gewissen Affront – obgleich es die genannten Erwartungen enttäuschte. Und die Publikation der Schwarzen Hefte ist nun ein weiterer Akt dieser posthumen Selbstinszenierung.

Soviel als Vorspiel. Im Folgenden soll es nun um das Verhalten von Philosophen gehen, das man Selbstinszenierung nennen kann. Die Frage dabei ist, inwiefern deren Verhalten durch bestimmte Grundzüge unserer Zivilisation bzw. unserer kapitalistischen Entwicklung zu erklären ist. Dabei sollte man im Sinn behalten, dass unser Thema, durch den Rahmen dieses Philosophiefestivals vorgegeben, nämlich Ruhm, einen schillernden Inhalt hat, den man für die Wissenschaft in eine Reihe von Ausdrücken bzw. Begriffen zerlegen könnte, wie Reputation, Ehre, Ansehen, Image, Bekanntheit, Bedeutung. Bei der Aufzählung dieser spezifizierten Ruhmbegriffe fällt gleich ins Auge, dass ein Unterschied zu machen ist bezüglich der jeweiligen Öffentlichkeit: Handelt es sich um die akademische Öffentlichkeit bzw. die Öffentlichkeit der jeweiligen Fachgenossen oder um die allgemeine Öffentlichkeit? Dabei sind Reputation und Ansehen eher Ausdrücke, die den Ruhm in der akademischen Gemeinschaft ausmachen, während Image und Bekanntheit Ausdrücke für Ruhm in der allgemeinen Öffentlichkeit sind – also beim Publikum keine Kenntnis des Werkes voraussetzen. Der Ausdruck Ehre – man denke an Preisvergabe und Verleihung von Doktorwürden ehrenhalber – steht gewissermaßen in der Mitte, insbesondere deshalb, weil sie häufig gar keine Wertung und Würdigung des Werkes enthalten. Der Ausdruck Bedeutung dagegen hat offenbar für beide Öffentlichkeiten einen Sinn, wobei allerdings die Bedeutung, die man in der breiten Öffentlichkeit einem Philosophen zuschreibt, unterstellt, dass er eben auch nach Maßstäben der Fachkollegen von Bedeutung ist.

2. Das Medienzeitalter

Ein Grund dafür, dass Autoren, hier speziell Philosophen, nicht einfach wie Mauerblümchen darauf warten, dass man sie entdeckt, sondern sich selbst in Szene setzen, könnte die Tatsache sein, dass wir im Medienzeitalter leben. Wir haben ja schon gesehen, dass Heidegger ein deutliches Bewusstsein dafür hatte. Andererseits gab es für seine Strategie, seinen Ruhm im Nachtod zu erhalten bzw. immer wieder aufzufrischen, ein bedeutendes Vorbild längst vor dem Medienzeitalter nämlich Goethe, der ebenfalls testamentarisch verfügte, dass sein Hauptwerk, der Faust II erst nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte. Wir sprechen vom Medienzeitalter von dem Zeitpunkt an, wo das Spektrum der Medien, das es natürlich schon vorher gab, durch Rundfunk, Film, Fernsehen und schließlich das Internet erheblich erweitert wurde. Vorher basierte die Bekanntheit und dann auch der Ruhm eines Philosophen im Wesentlichen auf dem Medium Buch. Hinzu kam aber eine ausgedehnte Kultur des öffentlichen Austauschs von Briefen, wie er für die Naturwissenschaft im 17. Jh. von Mersenne und für Literatur im 18. Jh. von Gleim organisiert wurde. Die Kanalisierung von Bekanntheit kulminierte zu der Zeit darin, dass man einen Eintrag in die damals führenden Enzyklopädien bzw. Lexika erhielt. Eigene Aktivitäten spielten für diese Entstehung von Bekanntheit und Anerkennung eines Philosophen noch kaum eine Rolle. Zwar verteilte man seine Werke an Freunde und las sie auch in Freundeskreisen vor. Aber diese Aktivitäten erreichten weder die akademische Öffentlichkeit im Ganzen noch die breite Öffentlichkeit. Natürlich gab es bereits das Rezensionswesen und auch spezielle Zeitschriften dafür, die für die Ausweitung von Bekanntheit über den Freundeskreis des Autors und die Mund-zu-Mund-Empfehlung hinaus sorgten.
Warum nun brachte das Medienzeitalter nicht nur eine Erweiterung des Spektrums der Medien - vor allem durch die technischen Medien- , sondern auch einen Wandel des Verhaltens von Autoren? Warum setzt der philosophische Autor nicht mehr einfach auf den Ernst seiner Fragestellung und die Qualität seines Werkes? Das liegt daran, dass sich nicht nur das Spektrum der Medien, sondern das zu adressierende Publikum ungeheuer erweitert hat. Diese beiden Entwicklungen gehen Hand in Hand und bedingen sich teilweise auch gegenseitig. Wenn im 18. Jh. und zum Teil noch im 19. Jh. der mögliche Adressat von philosophischen Publikationen die kleine und in sich einigermaßen geschlossene Gesellschaft der Gebildeten war und dann über das humanistische Gymnasium die immer noch relativ kleine Schicht, die man das Bildungsbürgertum nannte, so ist das lesende und mehr oder weniger gebildete und l sogar akademisch gebildete Publikum heute tendenziell die Gesamtgesellschaft. Das bedeutet, dass heute ein Autor, den man als bekannten oder auch bedeutenden Philosophen bezeichnet, jemand ist, dessen Anerkennung weit über die Grenzen der Fachgenossenschaft hinausreicht. Er ist im Kantischen Sinne weniger ein Schulphilosoph als ein Weltweiser.

Das allgemeine Publikum zu erreichen, hat aber seine Schwierigkeiten und verlangt vom Autor Zusatzaktivitäten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass mit der Ausweitung des Medienspektrums und des lesenden Publikums die Zahl der Produkte, sprich der Bücher, ebenfalls sich ungeheuer und das heißt ins Unübersehbare erweitert hat. Diese Situation verlangt vom philosophischen Autor heute eigene Aktivitäten.

So kann bereits die Wahl des Verlages entscheidend sein, denn die Verlage unterscheiden sich in Bezug auf Vermarktungsstrategien, Marktpräsenz und vor allem durch Kontakte zu Rezensionsorganen beträchtlich. Aber auch für die Abfassung des Werkes und seine Darstellungsart spielt der Bezug auf das anvisierte Lesepublikum für den Autor eine große Rolle. Die Verwissenschaftlichung der Philosophie im akademischen Bereich verlangt vom Autor die Berücksichtigung von so etwas wie einer Forschungsfront: Um seinen Beitrag zu lancieren, muss er sich auf all das beziehen, das zu der entsprechenden Fragestellung bereits publiziert und vor allem jüngst publiziert wurde. Für das breitere Publikum kommt es darauf an, den Zeitgeist zu treffen. Das geschieht meist intuitiv, und so konnte beispielsweise Wolfgang Fritz Haug für den an sich unbescholtenen Hans-Georg Gadamer in seinen Publikationen der 30er und 40er Jahre eine Anpassung an den rechtskonservativen Zeitgeist feststellen. Wichtiger aber noch, jedenfalls für das breite Publikum, ist die Anknüpfung an laufende Trends und wenn möglich der Bezug der philosophischen Fragestellung auf die Aktualität, d.h. die laufenden öffentlichen Debatten. Was ferner für den inneren Zirkel der akademischen Philosophie die Forschungsfront ist, bedeutet für die breitere Öffentlichkeit die Anknüpfung an bereits bekannte und etablierte Namen. So wird man, so innovativ man selbst sein mag, seine Gedanken besser verkaufen, wenn man sie in ein Buch, sagen wir über Platon oder Kant, verpackt.
Das alles verlangt von dem Philosophen unserer Zeit viel mehr als die Hingabe an die Sache, verlangt eine bewusste Einstellung auf das Publikationswesen. Auf der anderen Seite wird es zunehmend schwierig zu beurteilen, ob ein Philosoph, der öffentlichen Erfolg erlangt, also berühmt wird, auch bedeutend ist, nämlich in dem Sinne, dass sein Werk Aussicht hat, zum Klassiker kanonisiert zu werden.

3. Ästhetische Ökonomie

Unter ästhetischer Ökonomie ist eine Phase der kapitalistischen Entwicklung zu verstehen, in der ein Großteil der Waren nicht mehr für einen praktischen Gebrauch oder für den physischen Konsum bestimmt ist, sondern zur Ausstattung des Lebens und der Inszenierung eines bestimmten Lifestyles. Was ursprünglich bereits von Walter Benjamin festgestellt worden war, nämlich dass die Waren auf dem Markt inszeniert werden, setzt sich heute fort in der Inszenierung des Käufers. Diese Verhältnisse haben auch den Bereich der sogenannten geistigen Produkte, speziell der Philosophie erfasst. Allgemein hat Bourdieu in seinem Buch Die feinen Unterschiede dargestellt, wie Kulturgüter der Distinktion in der Gesellschaft dienen. Sehr schön sind diese Verhältnisse in Nathalie Sarrautes „Sagen die Dummköpfe“ dargestellt. Hier schildert sie, wie die Zugehörigkeit zu gewissen, speziell intellektuellen Kreisen verlangt, dass man über bestimmte aktuelle Neuerscheinungen sprechen kann. Der Anglist und Autor Dietrich Schwanitz hat allgemeiner daraus die Konsequenz gezogen, in einem Buch bereitzustellen, was an minimalem Wissen man parat haben muss, um mitreden zu können. Schwanitz hat auch einmal einen Roman vorgelegt, in dem er die akademische Szene im Zeitalter des Feminismus und der sexuellen Liberalisierung parodistisch darstellt.
Dient das Buch der Inszenierung des Käufers, so muss umgekehrt der Autor das Buch inszenieren bzw. seinen Tauschwert dadurch erhöhen, dass es von ihm stammt. Das heißt aber, er muss nicht nur sein Buch bekanntmachen, sondern sich selbst bekanntmachen, um das Buch zu lancieren: In dem Sinne wird der Philosoph als öffentliche Person selbst zur Ware, besser gesagt zur Marke. Das Mindeste, was man dafür haben muss, ist eine Homepage und einen Wikipedia-Eintrag. Natürlich ist das im Prinzip schon für innerakademische Verhältnisse bekannt. So haben die Wissenschaftssoziologen herausgefunden, dass in der Naturwissenschaft jeder Aufsatz im Durchschnitt nur einen Leser findet – und das heißt, die meisten gar keinen -, weil die Aufmerksamkeit der Leser sich mehr noch als am Inhalt an den Namen der Autoren orientiert. Wer schon bekannt ist, wird auf diese Weise noch bekannter.

Dieses Prinzip des Autors hat also bereits innerakademisch eine Funktion. Es stammt ursprünglich daher, dass seit der Renaissance in der Wissenschaft weniger die Reproduktion des schon Bekannten, als vielmehr die Neuentdeckung zu Ansehen führte. Deshalb mussten letztere quasi durch den Autor gesiegelt werden bzw. der Autor musste seine Priorität feststellen und sichern. Dieses Prinzip hat die Philosophie für den innerakademischen Diskurs in etwa übernommen. Für den allgemeinen Markt aber gilt: Da es in der Philosophie nicht im strengen Sinn einen Fortschritt gibt, muss der Autor sich als Querdenker gerieren, d.h. als jemand, der unkonventionell Paradoxes oder gar Skandalöses anzubieten hat. Natürlich gilt auch hier das Merton-Prinzip – Wer hat, dem wird gegeben - : Ein Buch wird auch deshalb gekauft, weil es aus einer bestimmten Quelle, also von einem bestimmten Autor stammt.

Das bedeutet aber, dass der Philosoph auf dem Markt sich selbst ein bestimmtes Image geben muss. Dieses Image braucht keineswegs fest zu sein, es kann inkonsistent sein, es kann auch schillern. Doch in jedem Fall entfremdet sich der Philosoph durch seine Selbstinszenierung auf dem Markt, d.h. es tritt eine potentielle Lücke zwischen dem Image, das mitseinem Namen verbunden ist, und seinem wahren Selbst und seiner Privatheit auf. Das ist gerade für einen Philosophen problematisch, insofern sein Philosoph-sein nach Sokrates gerade durch die Einheit von Person und Wissen und nach Kierkegaard durch den Ernst definiert ist. Das hat dazu geführt, dass Philosophen schon zu Lebzeiten ihre Tagebücher oder Denkbücher veröffentlichen. Sie setzen sich dadurch als Personen in Szene - zwar nicht erst wie Heidegger, der ja doch primär noch auf das Werk gesetzt hatte, zur Inszenierung im Nachtod. Doch dieses Einbringen der eigenen Person in die Öffentlichkeit löst das Problem nicht – nämlich die Einheit von Person und Gedanken herzustellen, sondern gerät ihnen zur weiteren Imagepflege.

4. Philosophische Berühmtheit

Man versteht unter einem Philosophen heute in der Regel einen Philosophieprofessor, soweit haben sie es gebracht. Doch dabei wird vergessen, dass durch die ganze nachsokratische Geschichte der Philosophie hindurch immer wieder bedeutende Philosophen Nichtakademiker waren, genauer für die spätere Zeit: nicht Professoren für Philosophie. Letzteres trifft beispielsweise für Nietzsche und Schopenhauer zu. Auch heute gibt es viele Philosophen außerhalb der akademischen Welt und sie beherrschen auf dem Markt und in den Medien, was dort an Philosophie geschieht und gekauft wird. Dass die Fach-Philosophen in der breiteren Öffentlichkeit kaum gehört werden, liegt an zwei Gründen. Einerseits war es bis vor kurzer Zeit, oder in gewissem Sinne ist es noch heute, für einen Fach-Philosophen verpönt, in Tageszeitungen zu publizieren bzw. im Fernsehen aufzutreten. Dadurch versäumen sie allerdings eine der wesentlichen Aufgaben der Philosophie, nämlich sich um das zu kümmern, „was jedermann interessiert“, also nach der Kantischen Definition Philosophie als Weltweisheit. Andererseits sind sie in der Regel zu einen Auftritt vor dem allgemeinen Publikum gar nicht in der Lage. Ihre Sprache ist komplex, trocken und rein argumentativ. Was ihnen fehlt, ist die Rhetorik. Für Letzteres muss man daran erinnern, dass Platon wirkmächtig die Philosophie gerade von der Rhetorik bzw. der Sophistik unterschieden hat: Die Philosophie kümmere sich um das Wahre, die Rhetorik erwecke Schein. Diese Lage, in der die akademische Philosophie nur mühsam die allgemeine Öffentlichkeit erreicht, und in der gerade nichtakademische Philosophen für das breite Publikum erfüllen, was die Menschen von der Philosophie erwarten, hat verständlicherweise zu einem Ressentiment der Fach-Philosophen gegenüber den „Fernseh-Philosophen“ geführt. Ressentiment: Das bedeutet, dass die Fach-Philosophen eigentlich auch einen breiteren Einfluss wünschten und gerne dem allgemeinen Publikum bekannt wären.

Ich sehe davon ab, für diese Analyse Belege beizubringen, um nicht dem einen oder dem anderen Kollegen zu nahe zu treten. Stattdessen wähle ich ein Beispiel aus der Literatur, was sich auch empfiehlt, weil sich an einer literarischen Gestalt klarer zeigen lässt, was ich theoretisch dargelegt habe.

Es geht um das Buch Doranos Wende, das ich zusammen mit meiner verstorbenen Frau seinerzeit geschrieben habe. Dieser Roman enthält die Geschichte eines Sprachphilosophen namens Giovanni Dorano, dem außerordentlich viel an seiner Reputation, aber eben auch an seiner öffentlichen Geltung liegt. Seine Philosophie versteht er als Phänomenologie der Sprache. Das bedeutet, dass er die Sprache im lebendigen Sprachgeschehen untersucht, also als gesprochene Sprache, und das bedeutet im Wesentlichen als Sprache des Alltags. Er macht dabei Gebrauch von Searle‘s Sprechakttheorie und zeigt, dass ein und derselbe Satz je nach Praxis-Zusammenhang unterschiedliches bedeuten kann. So ist der „positive Satz“ es regnet, gesprochen im Kreise von Erwachsenen, die sich zu einem Spaziergang anschicken, eine Verneinung - es geht nicht: es regnet – oder eine Warnung: zieht euch entsprechend an. Die zentrale Behauptung von Dorano ist nun, dass es in der gesprochenen Alltagssprache praktisch keine Propositionen bzw. Behauptungen gibt. Ein Satz, wie Der Eimer ist schwer, prädiziertiert dem Eimer nicht einfach das Prädikat schwer. In diesem Sinne wird er kaum im Alltagsdiskurs verwendet, vielmehr hat er den Charakter einer Beurteilung und die sagt nämlich, dass der Eimer zu schwer ist oder zumindest nur mühsam getragen werden kann.

Das alles klingt ganz vernünftig und wäre sicher auch ausbaufähig. In unserem Zusammenhang interessiert aber vielmehr, wie Dorano seine Theorie lanciert. Mit welchen Strategien richtet er das allgemeine Interesse auf sein Buch, wie gelingt es ihm, eine solche Theorie, der man allenfalls eine Aufmerksamkeit im beschränkten Zirkel der Sprachphilosophie zutrauen würde, zu einem Buch zu machen, das Chancen hat, ein Bestseller zu werden? Zunächst: Nachdem er das Manuskript an seinen Verleger geschickt hat, verschwindet er auf rätselhafte Weise. Damit richtet sich das Interesse der Öffentlichkeit auf seine Person. Zwar verschwinden immer wieder Menschen, aber „Der bekannte Sprachphilosoph Professor Dorano spurlos verschwunden“ ist schon eine Schlagzeile wert. Die zweite Strategie besteht darin, dass er seine Theorie gar nicht primär als seine ausgibt, sie vielmehr als eine Konsequenz aus der Sprachphilosophie Kants präsentiert. Das ist zwar riskant, weil in der Fach-Philosophie Kant in der Regel nicht als Sprachphilosoph gilt. Dorano muss also eine Sprachphilosophie Kants überhaupt erst erfinden, um dann mit Hilfe dieses großen Namens seine eigene Sprachphilosophie lancieren zu können. Diese Erfindung hat einige Aussicht, Interesse zu erregen, denn man hat in der Tat Kant gerade wegen der Vernachlässigung der Sprache kritisiert. Es war vor allem Herder, der gegen Kants Kritik der reinen Vernunft eine Meta-Kritik der reinen Vernunft veröffentlichte, ein Buch, das gerade diese Vernachlässigung der Sprache gegen Kant ausführte. Dorano präsentiert nun der Öffentlichkeit einen Antwortbrief von Kant an Herder, einen Brief, der nach seinen Angaben aus Königsberg stammt, einem damals noch unzugänglichen russischen Sperrgebiet. In diesem Brief Kants findet sich bereits die These, die Dorano dann zum Zentrum seiner Sprachphänomenologie machen wird, nämlich dass es in der Alltagskommunikation nicht um urteilen, sondern um beurteilen gehe. Kant musste zur Formulierung dazu seine Zweiheit von Erscheinung oder Objekten der Wissenschaft und den nooumena erweitern, indem er als dritten Typ von Seiendem Dinge, nämlich das Zu-handene der Alltagswelt einführte. Die Konsequenz dieser Strategie ist, dass Dorano sein Buch nicht etwa als Wende in der Sprachphilosophie ankündigt, sondern als Kantische Wende in der Sprachphilosophie.

Damit kommen wir zur dritten Strategie, einer Strategie, die mit der Verwendung des Ausdrucks Wende bezeichnet ist. Dorano, wie viele akademische Zeitgenossen, bezieht sich damit implizit auf das breite Ansehen, das die Theorie der Wissenschaftsentwicklung von Thomas Kuhn hat. Nach Kuhn ist die durchschnittliche wissenschaftliche Tätigkeit als Normal Science zu bezeichnen. Sie besteht in der Ausarbeitung und empirischen Ausfüllung einer paradigmatischen Theorie. Dieser ruhige und sichere Normalbetrieb der Wissenschaft wird aber durch Umbrüche, sogenannte Turns, unterbrochen und auf eine neue Basis gestellt, indem nämlich ein altes Paradigma durch ein neues abgelöst wird. Bei dem gegenwärtigen Verwenden der Ausdrücke Paradigmawechsel oder Turn wird dabei übersehen, dass Kuhns Theorie als historische rückblickend ist und weder eine gegenwärtige Wissenschaftsentwicklung beschreibt, noch eine zukünftige antizipiert. Es hat sich jedoch eine Mode der Verwendung des Ausdrucks Paradigma und des Ausdrucks Turn entwickelt, die man propagandistisch oder strategisch nennen kann. Es werden gewisse Entwicklungen oder Theorien als paradigmatische Wende oder Turn bezeichnet, um ihnen das Flair zu geben, dass sie die relevante Zukunft sind. So liest man vom pictural turn oder spatial turn – und Dorano präsentiert seine Sprachphänomenologie als einen Turn in der Sprachphilosophie.

Ob er damit recht hat, bleibt offen. Doch für ihn kommt es vor allem darauf an, dass er in der Öffentlichkeit als der große Neuerer in der Sprachphilosophie wahrgenommen wird – und dass man sein Buch kauft.