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ESSAY

Mai, Helmut: Das Reich des Ungesprochenen

Helmut Mai: Das Reich des Ungesprochenen

 

Das Reich des Ungesprochenen – der Titel stammt vom ungarisch-britischen Wissenschaftler und Philosophen Michael Polanyi. Im englischen Original „The realm of the unspoken“ findet er sich in den Nachlasspapieren Polanyis. Polanyi hat damit auf seine Weise etwas wiederentdeckt, was in der Geschichte der Philosophie eine lange Tradition hat. Freilich ist das mit diesem Titel Gemeinte eine hochkontroverse Angelegenheit der Philosophie.

 Der erste Titel für das Gemeinte stammt von Platon. Er lautet: Ideen. Wir kennen die Ideenlehre als das Kernstück der Philosophie Platons. Die Ideen sind die wahrhaftigen Objekte der eigentlichen, übersinnlichen Wirklichkeit. Sie können nicht sinnlich wahrgenommen, sondern nur gedacht werden; sie sind ewige, unveränderliche Entitäten außerhalb von Raum und Zeit. Die Dinge der sinnenfälligen Wirklichkeit haben an ihnen nur unvollkommen teil. Die Ideen sind die ontologisch vollkommenen Urbilder, denen die Dinge dieser Welt als ontologisch minderwertige Abbilder gegenüberstehen. Und an der Spitze der Ideenwelt, die von der Welt der sinnlichen Dinge getrennt existiert, befindet sich die alles überragende Idee des Guten.

Das Zurkenntnisnehmen dieser ersten großen metaphysischen Theorie, die Platon sehr wahrscheinlich in der Orientierung an Parmenides ausgebildet hat, ist das eine. Und unbestritten dürfte der Abriss dieser Lehre unzählige Menschen zu begeistertem Nachdenken angeregt haben. Man lernt aber noch mehr über die Philosophie und ihre Geschichte, wenn man sich die Ursprünge dieser Theorie bei Platon vor Augen führt. Und diese Ursprünge zeigen sich in den sokratischen Frühdialogen.

Dort lässt Platon seinen Sokrates mit der Was-ist-X-Frage, etwa der Frage: Was ist Tapferkeit? oder der Frage: Was ist Gerechtigkeit? an seine Gesprächspartner näher herantreten. Der jeweilige Gesprächspartner hat – eventuell nach einer kurzen Sinnerläuterung – mit dieser Frage zunächst überhaupt keine Schwierigkeiten und gibt dann auch selbstsicher eine Antwort in Form einer Aussage, die in seinen Augen das Problem vollständig löst. Im weiteren Verlauf der Diskussion werden dann durch ein von Sokrates initiiertes Frage- und Antwortverfahren, den so genannten Elenchos, weitere Aussagen vom Gesprächspartner zugegeben, die entweder für sich oder zusammengenommen der ersten Aussage des Befragten widersprechen, so dass dieser gezwungen ist, seine Antwort zu revidieren oder, wenn er das nicht mehr kann, seine Ratlosigkeit in dieser Frage einzugestehen. Sein anfänglicher Wissensanspruch ist erschüttert worden. Er ist von Sokrates widerlegt worden.

Der Sokrates der platonischen Frühdialoge ist ein Sokrates des widerlegenden Argumentierens und das explizite Argumentieren hat für das abendländische Philosophieren eine zentrale Bedeutung gewonnen. Philosophieren erfordert Gesprochenes, Ausgesagtes und die Beachtung des logischen Zusammenhangs zwischen diesem Ausgesagten. Aber die sokratischen Frühdialoge zeigen auch, dass dieses Gesprochene vor dem Hintergrund eines Ungesprochenen stattfindet: Denn die Fähigkeit zur Definition des Begriffs der Tapferkeit – auf nichts anderes zielt ja die Frage: Was ist Tapferkeit? – setzt bei einem Vorwissen an. Dem Vorwissen um das, was Tapferkeit überhaupt ist. Im Hintergrund der Definitionsfrage, aber auch im Hintergrund einer ausformulierten Definition der Tapferkeit steht daher die Idee der Tapferkeit.

 Auch Platons Schüler Aristoteles steht noch in dieser Tradition des Ungesprochenen. Das darf nicht vergessen werden, obwohl es richtig ist, dass Aristoteles anders als Platon den Allgemeinbegriffen – das Mittelalter nennt sie Universalien – keine selbständige Existenz getrennt von den Einzeldingen zubilligt. Die Anknüpfung an Platon zeigt sich bei Aristoteles darin, dass er an zentraler Stelle seiner Philosophie das gleiche Wort verwendet, das Platon verwendet hatte, um von Ideen zu sprechen: Es ist das griechische Wort eidos, das soviel bedeutet wie Aussehen.

Das Eidos einer Sache – so sagt Aristoteles in seiner berühmten „Metaphysik“ – macht das eigentliche Wesen einer Sache – ihre Ousia – aus. Dieses Wesen einer Sache wird in einem unmittelbaren Sachkontakt erfasst und kann dann aufgrund dieses unmittelbaren Sachkontakts artikuliert und definiert, d.h. ausgesprochen werden. Es sind nur relativ wenige Stellen im überlieferten aristotelischen Schriftencorpus, – darunter das berühmte Kapitel Metaphysik Theta 10 – die klar belegen, dass Aristoteles in dieser Tradition des Ungesprochenen steht und um Formen der Wahrheitserfassung weiß, die bereits stattgefunden haben, bevor ein Aussagesatz gebildet und behauptet und mithilfe seiner und weiterer Aussagesätze argumentiert wird. Auf diese Stellen und das dort für die unmittelbare Wahrheitserschließung in Anspruch genommene Erkenntnisvermögen des nous hinzuweisen, ist umso wichtiger, als Aristoteles aus heutiger Sicht als ein ausschließlich argumentierender Philosoph erscheint, dem jede Berufung auf Wahrheit diesseits der Aussage und außerhalb diskursiver Begründung fremd ist.

In der Tat findet bei Aristoteles eine entscheidende Konzentration hin auf die Wahrheit der Aussage statt. Ein Aussagesatz ist im Gegensatz zu anderen Sätzen, etwa Bitten oder Befehlen, dadurch gekennzeichnet, dass er wahr oder falsch sein kann. Er ist wahr, – gemäß der Korrespondenztheorie der Wahrheit – wenn der Sachverhalt, auf den er sich bezieht, auch tatsächlich besteht, andernfalls ist er falsch. In seiner „Topik“ formuliert Aristoteles Regeln für Diskussionen, die einem Diskussionspartner helfen sollen, entweder eine einmal in Form einer Aussage aufgestellte These erfolgreich zu verteidigen oder aber als Opponent diese These erfolgreich zu widerlegen. Die „Topik“ ist die Urform der aristotelischen Logik, der Syllogistik. Wichtig für die Diskussion sind vor allem die so genannten dialektischen Schlüsse, in denen von plausiblen Prämissen aus argumentiert wird.

Die in der „Topik“ formulierten Regeln für den rationalen propositionalen Diskurs bleiben dann auch für das Mittelalter und die scholastische Methode, die sich in Quaestionen und Disputationen dokumentiert, bestimmend. Aristoteles gilt hier ja schlechthin als „der Philosoph“. Das Mittelalter und die Scholastik kennen allerdings noch eine von der reinen Argumentation unabhängige Orientierung: Die geoffenbarte und durch die Kirche und ihr Lehramt tradierte Wahrheit des christlichen Glaubens. Demgemäß ist im Mittelalter die Philosophie ja auch die Magd der Theologie, die ancilla theologiae.

 Mit Descartes kommt es dann zu einem Neuansatz in der Philosophie. Descartes vollzieht eine dezidierte Abkehr von der durch Aristoteles geprägten scholastischen Tradition und dem subtilen, lediglich plausiblen gelehrten Diskurs. Das zeigt sich an seinem berühmten Grundsatz, dem wohl berühmtesten philosophischen Grundsatz aller Zeiten: cogito ergo sum – ich denke, also bin ich. Ich kann an der Wahrheit sämtlicher Vorstellungen, die ich habe, zweifeln, aber ich kann nicht daran zweifeln, dass ich es bin, der diese Vorstellungen hat, und dass ich bin, wenn ich diese Vorstellungen habe. Es ist nicht eigentlich eine Schlussfolgerung, die Descartes hier zieht, trotz des „ergo“ in der Formulierung des Grundsatzes. Es ist vielmehr die unmittelbare Einsicht in die Gewissheit der eigenen Existenz, die in jedem Bewusstseinsakt liegt, die durch diesen Grundsatz formuliert wird. Hinter dem cogito ergo sum steht also eine Intuition und kein verkürzter Syllogismus. Der Mathematiker Descartes hatte kein Problem mit der Berufung auf die Intuition, die neben der Deduktion eine der beiden Säulen des vernünftigen Vorgehens ist. Vom Ausgangspunkt der absolut sicher gestellten Sphäre der Subjektivität ist dann für Descartes sogar noch ein Gottesbeweis möglich.

Descartes’ heißes Bemühen um einen absolut sicheren Anfang in der Philosophie kann uns daran erinnern, dass das reine Argumentieren in der Philosophie seine Grenzen hat. Diese Grenzen zeigen sich am Argument selbst. Wenn ein Argument ein Ganzes von Aussagen ist, bei dem eine dieser Aussagen – die Konklusion – diejenige ist, die begründet werden soll, während die übrigen Aussagen – die Prämissen – dazu dienen, die Begründungsleistung zu erbringen, dann müssen wir zwei Dinge prüfen, um sicher zu sein, dass die Konklusion wahr ist: Einmal müssen wir prüfen, ob das Argument gültig ist, d.h. ob es tatsächlich rational ist, die Konklusion für wahr zu halten, falls die Prämissen wahr sind. Und zum zweiten müssen wir prüfen, ob die Prämissen wahr sind. Dieser zweite Punkt ist der philosophisch Interessantere. Denn bei der Zurückweisung eines Arguments in der Philosophie geht es zumeist um die Zurückweisung der Wahrheit der Prämissen des Arguments. Zwar kann ich für die Wahrheit dieser Prämissen in neuen Argumenten argumentieren, so, dass diese Prämissen die Konklusionen der neuen Argumente sind, aber dann habe ich wieder neue Prämissen, die ihrerseits zu begründen wären. Will man also einen unendlichen Regress vermeiden, dann muss man andere Wege zur Sicherstellung der Wahrheit der Prämissen eines Arguments finden als den Weg der Deduktion. Die Tradition der Philosophie bietet hier die unmittelbare Einsicht in die Wahrheit der Prämissen, die durch das Erkenntnisvermögen der Intuition geleistet wird, als Weg an.

 Das Verhältnis zur Intuition ändert sich dann entscheidend bei und mit Kant. Die Transzendentalphilosophie, die alle Erkenntnis auf das erkennende Subjekt zurückbezieht, kennt Anschauung und Begriff als die beiden voneinander unabhängigen Stämme der Erkenntnis. Aber es ist die sinnlich-empirische Anschauung, die Kant für die einzige ganz unproblematische Form der Anschauung hält, indem er hier den Grundgedanken der britischen Empiristen in seine Philosophie integriert. Im Bemühen, die Bedingungen der Möglichkeit objektiver Gegenstandserkenntnis zu formulieren, kommen dann noch die zwei reinen Anschauungen Raum und Zeit, für Kant Vorstellungen der Subjektivität, hinzu. Aber die intellektuelle Anschauung, das traditionelle geistige Sehen, wird von Kant aus der Philosophie verbannt. Nur die empirische Erfahrungsermöglichung kann noch Gebilde rechtfertigen, die wie die reinen Verstandesbegriffe, die im Anschluss an Aristoteles von Kant auch Kategorien genannt werden, nicht direkt sinnlich gegeben sind. Kant markiert daher den überaus mächtigen Anfang einer Entwicklung in der neuzeitlichen Philosophie, von der ab es verpönt ist, in der Philosophie, die Kant selbst noch spekulative Philosophie nennt, etwas „zu sehen“.

 Umso erstaunlicher und wichtiger ist dann das Auftreten der Phänomenologie in der Geschichte der Philosophie. Husserl gelang es, sich zumindest zeitweise aus der Umklammerung durch die neukantianische Philosophie zu befreien, die um das Jahr 1900 herum die weltweit tonangebende Philosophie war. Mit seinen „Logischen Untersuchungen“ vollzieht er den phänomenologischen Durchbruch und öffnet damit gleichsam ein Fenster ins Freie. Besonders die VI. Logische Untersuchung, in der von der kategorialen Anschauung die Rede ist, ist hier zu nennen.

Wenn wir eine grüne Tafel sehen, dann sehen wir Grünes und wir sehen eine Tafel, aber wir sehen beides nicht in der gleichen Weise. Die Tafel, das Ding, an dem sich die Eigenschaft „grün“ findet, wird nicht wie das Grün in einer sinnlichen Anschauung gesehen, sondern in einer kategorialen Anschauung, d.h. in einer Anschauung, die die Kategorie – hier: Ding bzw. Substanz – sehen lässt. In der kategorialen Anschauung ist die Kategorie unmittelbar gegeben. Sie ist nicht abstraktes Produkt des Verstandes wie bei Kant, der die Kategorientafel aus der Urteilstafel ableitet.

Diese von Husserl wieder neu eruierte Möglichkeit des Sehens von Kategorien in der kategorialen Anschauung war dann für Heidegger ein ganz entscheidender Schlüssel bei seinem Bemühen, die ontologische Fragestellung nach dem Sein zu erneuern. Heidegger geht dabei insofern über Husserl hinaus, als für Husserl der in der kategorialen Anschauung gegebene Gegenstand immer ein gegebener Gegenstand innerhalb des Bewusstseins bleibt. Trotz anfänglicher Schwankungen hält Husserl an der von Descartes begründeten und von Kant systematisierten Philosophie der Subjektivität entschieden fest. Anders Heidegger, der in „Sein und Zeit“ das „Bewusstsein“ durch das „In-der-Welt-sein“ des „Daseins“ abzulösen versucht und damit den bei Husserl begonnenen stillen Durchbruch zu den Sachen selbst erst eigentlich zu vollenden meint.

Trotz dieses grundlegenden Unterschiedes zwischen Husserl und Heidegger was ihre Stellung zur Subjektivitätsphilosophie anlangt vollziehen beide auf ihre je eigene Weise ihr Philosophieren als ein geistiges Sehen. Dieses Sehen ist beileibe kein sprachloses Sehen, sondern es geschieht in engster Verbindung mit der überlieferten Sprache. Denn nur die überlieferte Sprache hat bei geeigneter Handhabung das Potenzial, jene von der Phänomenologie gesuchte ursprüngliche Anschaulichkeit der Sachverhalte auch tatsächlich an den Tag zu bringen.

Im Unterschied zu Husserl, für den die Philosophie im Grunde erst mit Descartes beginnt, erkennt Heidegger die geschichtlichen Bezüge der Phänomenologie zur Antiken Philosophie. Aristoteles wird für ihn der erste Phänomenologe, aber das ist nicht der Aristoteles der „Topik“, sondern das ist der Aristoteles von „Metaphysik Theta 10“; dieser kennt nicht nur die Wahrheit der Aussage, sondern er kennt auch die Wahrheit im Sinne von Erschlossenheit, d.h. Wahrheit in dem Sinne, dass man überhaupt einen Zugang zu einem Wirklichkeitsbereich hat oder eben nicht hat. Auf der Basis dieses Zugangs lassen sich dann wahre Aussagen über diesen Wirklichkeitsbereich formulieren. Aber dieser Zugang selbst hat nicht die Struktur einer Aussage.

 Indes – der Aristoteles der „Topik“ gewinnt in der Geschichte der Philosophie dann doch wieder die Vormacht: Er tut dies in Form der Analytischen Philosophie, die in unserer Gegenwart in einer Weise zur herrschenden Form des Philosophierens geworden ist, wie es bisher wahrscheinlich noch keiner philosophischen Richtung vergönnt war. Das hat sicherlich mit den traditionellen Kennzeichen dieser Art des Philosophierens zu tun: Die Konzentration auf die objektiv feststellbaren Spuren, die das Denken in der Sprache hinterlässt, die Forderung nach klarer Argumentation, die Wertschätzung der Begriffsanalyse sowie der formalen Logik, die Arbeit an Einzelproblemen statt an einem System – all dies übt eine hohe Attraktivität gerade auf junge Studierende aus, die voller Elan gewillt sind, sich die philosophische Welt zu erobern. Der Siegeszug der Analytischen Philosophie in unserer Gegenwart wäre aber nur unvollständig erklärt, würde man nicht den Gesamtkontext, in dem diese Entwicklung steht und dessen spezieller Ausdruck sie ist, mit einbeziehen. Dieser Gesamtkontext ist der Prozess der Rationalisierung, Technologisierung und Verwissenschaftlichung der Welt, durch dessen konsequentes Vorantreiben man sich die Zukunftsfähigkeit in allen Bereichen zu sichern hofft. Und so wird die Analytische Philosophie innerhalb dieses Prozesses wahrgenommen als die Verwissenschaftlichung der Philosophie, durch die die Philosophie zukunftsfähig gemacht wird. Eine derart verwissenschaftlichte Philosophie verspricht dann auch Kompetenzen zu vermitteln, durch die der ausgebildete Philosoph endlich einen Platz im „System der Bedürfnisse“ einer Gesellschaft einnimmt: Er ist der Fachmann für Argumente, etwa im Bereich der Ethik, eine Art Argument-Ingenieur oder Argument-Manager, der dem Bedürfnis einer perfekt argumentativ verwalteten Welt des gesellschaftlichen Denkens Rechnung trägt.

Die Analytische Philosophie betreibt die Verwissenschaftlichung der Philosophie natürlich im Rekurs auf die eigenen wissenschaftlichen Bestände der Logik, Argumentation und Begriffsanalyse, aber besonders dadurch, dass sie zu der modernen Wissenschaft und ihren Ergebnissen gleichsam auf Tuchfühlung zu gehen sucht. Die Verwissenschaftlichung der Philosophie soll im Groß-Bündnis von Logik, Analytischer Philosophie, Wissenschaftstheorie und – vor allem – den Wissenschaften geschehen. Dabei ist die Autorität der Wissenschaften die primäre. Die Philosophie genießt in diesem Verbund nur so etwas wie eine sekundäre Autorität. Sie ist daher auf dem besten Wege, zu einer ancilla scientiae bzw. ancilla scientiarum, einer Magd der Wissenschaft zu werden. In der Tat hat man auch schon von einer neuen Scholastik gesprochen, die in die akademische Philosophie der Gegenwart eingekehrt sei. Diese neue, wissenschaftliche und das Englische als Leitsprache benutzende Scholastik unterscheidet sich von der mittelalterlichen nicht nur durch das Beiseitelassen der Lehren der Kirche. In ihr ist auch ein Teil des lumen naturale, nämlich der intuitive, für das „geistige Sehen“ zuständige, außer Kraft gesetzt. Denn die Analytische Philosophie lehnt dieses intuitive Vermögen als legitime Kraft des Philosophierens ab und beschränkt sich auf die unbedenkliche Analyse und Argumentation.

 Für die Philosophie besteht aber gar keine Notwendigkeit, auf diese Kraft des geistigen Sehens zu verzichten und sich damit auf Dauer ihrer Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu begeben. Und zwar gerade dann nicht, wenn sie die Wissenschaften, wie es auch richtig ist, hochschätzt. Es ist der eingangs zitierte und erwähnte Michael Polanyi, dessen Forschungen an dieser Stelle ins Spiel kommen und von Bedeutung werden. Denn Polanyi hat als Wissenschaftler ersten Ranges, der in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts mit Männern wie Planck, Einstein und Schrödinger in Berlin naturwissenschaftliche Spitzenforschung betrieb, in späteren Jahren auf die stille Dimension dieses Tuns hingewiesen.

Wissen und Wissenschaft gehen nach Polanyi nicht in einer Kette von expliziten Aussagesätzen auf, die gleichsam mit Kreide auf eine gigantische Tafel geschrieben werden. Es ist immer eine Person vonnöten, die das Geschriebene versteht und es auf eine Realität bezieht. Dieser stille, implizite und durch die Person des Wissenschaftlers vollbrachte Realitätsbezug ist vor allem für die Dynamik in der Wissenschaft verantwortlich. Denn wenn ein Wissenschaftler auf ein Problem stößt, dann ist das ein Realitätskontakt, der ihn zu weiteren Forschungen veranlassen kann, um dann am Ende vielleicht zu einer akzeptablen Hypothese zu kommen.

So rekonstruiert Polanyi die Entdeckung des heliozentrischen Systems durch Kopernikus nicht so, dass hier lediglich eine gegenüber dem ptolemäischen System bessere Rechnungsmethode für die Planetenbewegungen angeboten wird. Vielmehr war Kopernikus zunächst in noch ganz vager und unbestimmter Weise auf die Realität des heliozentrischen Systems gestoßen. Kopernikus hatte gefühlt, gespürt, gesehen, dass da etwas ist, und er ist dieser persönlichen Sicht konsequent nachgegangen, auch wenn er noch nicht in der Lage war, sie klar und deutlich zu formulieren. Es hat dann bekanntlich noch einige Zeit gedauert, bis die Entdeckung des Kopernikus allgemeine Anerkennung gefunden hat. Aber ohne das vertrauensvolle Festhalten an dieser Intuition durch Kopernikus, die er zu Lebzeiten nicht in der Lage war, ausreichend zu belegen, wäre es dazu nicht gekommen.

Wenn also die zurecht so hoch geschätzte moderne Wissenschaft das implizite und intuitive Vermögen des Menschen gerade für ihre bahnbrechenden Durchbrüche verwendet und weiter verwenden wird, wieso soll dann die heutige Philosophie eine Art freiwilligen Verzicht leisten und sich nicht auch derjenigen impliziten und intuitiven Vermögen des Menschen offen bedienen, die auf ihrem Feld das Reich des Ungesprochenen erschließen?

Gewiss, das intuitive Vermögen des Wissenschaftlers ist auf objektive Bestätigung durch die empirische Anschauung angewiesen, die irgendwann erfolgen muss. Die Philosophie hat diese Möglichkeit der objektiven empirischen Bestätigung im Experiment dagegen nicht. Aber würde das intuitive Vermögen des Wissenschaftlers nicht die grundsätzliche Kompetenz haben, Wirklichkeit zu erschließen, was freilich noch nicht heißt, eine wahre Aussage zu präsentieren, dann wäre schwerlich erklärbar, wieso die moderne Wissenschaft jenen ungeheuren Erfolg hat, den sie nun einmal hat.

Auch die Philosophie sollte sich daher der Erschließungskompetenz der intuitiven Vermögen des Menschen neu anvertrauen, ohne allerdings zu glauben, dass sie dadurch zu unfehlbaren Ergebnissen kommt. Der Kontakt mit dem Reich des Ungesprochenen fordert in der Philosophie immer Gesprochenes, das dann den üblichen Kontrollen unterzogen werden kann und muss, die wir auf der Ebene des expliziten Denkens kennen. Wie sehr in der Philosophie das Ungesprochene das Gesprochene fordert, wird gerade anhand des äußerst umfangreichen und auf mannigfache Weise ausartikulierten Denkens der Phänomenologen Husserl und Heidegger deutlich, bei denen das Ungesprochene die anerkannte Basis ihres Philosophierens ist. Aber auch da, wo das Gesprochene im Fokus des Philosophierens steht, gilt gewissermaßen umgekehrt, dass es auf Ungesprochenes verweist. So in der Philosophie Hegels. Zwar lehnt Hegel in der Nachfolge Kants und mit Blick auf Schelling die intellektuelle Anschauung als einen „wie aus der Pistole geschossenen“ unvermittelten Denkakt ab, aber das heißt nicht, dass Hegels Dialektik nicht auch Intuition oder wie er selbst sagen würde: Spekulation in Anspruch nähme. Der spekulative Charakter seiner Dialektik zeigt sich in den ungewöhnlichen Zusammenhängen, die Hegel zwischen Begriffen erspäht und die durch keine herkömmlichen Begriffsanalysen gedeckt sind. Hegel entwickelt Zusammenhänge zwischen Begriffen, er bringt Begriffe zusammen, die in der gewöhnlichen Auffassung getrennt sind. Die Vernunft ist das Vermögen, das diese Leistung des Zusammenbringens erbringt, und das vollständige Durchlaufen dieser dialektisch vermittelten Begriffszusammenhänge ist die Philosophie, von der bereits Hegel glaubte, sie in den Stand einer Wissenschaft erhoben zu haben. Hegel knüpft hier direkt an eine Charakterisierung der Dialektik durch Platon an, der zum ersten Mal von Dialektik als der Grunddisziplin der Philosophie gesprochen hatte. Nach Platon ist der Dialektiker nämlich ein synoptikos, ein Synoptiker, einer der die Dinge zusammensieht.

 Vielleicht liegt hier für all diejenigen, die sich wie ich für die Neuanerkennung und Neuinkraftsetzung des intuitiven und impliziten Vermögenskreises des Menschen in der Philosophie stark machen, das wichtigste aktuelle Aufgabenfeld: Denn je mehr die Philosophie sich spezialisiert und kompartimentiert, umso stärker dürfte das Bedürfnis nach dem begründeten Erkennen übergreifender Zusammenhänge werden; übergreifende Zusammenhänge, die durch kein interdisziplinäres Gespräch etabliert werden können, sondern nur durch das persönliche Eintreten eines Philosophen, der es gelernt hat, derartige Zusammenhänge zu sehen und sachgerecht zu formulieren. Das Geschäft der Philosophie ist unbestritten ein analytisches, aber es geht nicht darin auf, ein analytisches zu sein. Philosophie ist analytische Philosophie, aber sie ist auch – wenn man das so sagen darf – synthetische – zusammenbringende – Philosophie. Aber auch diese Bezeichnung deckt nicht all das ab, was der Kontakt mit dem Reich des Ungesprochenen der Philosophie ermöglichen kann. Das Wissen um die Definition eines vorgefundenen Begriffs, die Einsicht in erste Prämissen einer Argumentation, das Sehen eines Dinges als Ding, die Erfahrung der Realität – immer spielt hier ein geistiges Sehen eine Rolle, das die philosophische Tradition neben der Argumentation als einen der beiden Zweige des philosophischen Denkens kennt und das unsere Gegenwart nicht aus Angst vor der Irrationalität verwerfen sollte. Denn als Alternative dazu zeichnet sich ein verarmtes Denken ab, das immer mehr unter die Botmäßigkeit der Wissenschaft gerät.

Gelingt es uns, das sehende Denken gleichsam wieder in seine alten Rechte neben das argumentierende Denken einzusetzen, dann ist mir um die Unabhängigkeit der Philosophie auch in Zukunft nicht bange. Sicherlich führt eine solche Unabhängigkeit auch immer wieder zu Fehlschlägen und zu Wagnissen, die scheitern. Aber sie lässt auch die Möglichkeit zu, dass es in der Geschichte der Philosophie noch einmal zu einer überraschenden Wende kommt, die unser heutiges Denken von Grund auf verändern könnte.