PhilosophiePhilosophie

01 2018

Manuell Knoll:
Nussbaum, Martha C.

aus: Heft 1/2018. S. 28-37
 
Spätestens seit den 2000er Jahren gilt die 1947 geborene Martha Craven Nussbaum als die prominenteste Philosophin der USA. Berühmtheit erlangte sie nicht bloß als Fachphilosophin, sondern auch als Public Intellectual, die die öffentlichen Debatten der Vereinigten Staaten mitprägte. Die große Anerkennung, die Nussbaum global zuteil wurde, wird durch über 50 honorary degrees von internationalen Colleges und Universitäten sowie eine Vielzahl an weltweiten Auszeichnungen und Akademiemitgliedschaften dokumentiert. Mit über 20 Büchern und über 20 Herausgeberschaften gehört Nussbaum zu den weltweit produktivsten Denkern und Denkerinnen. Zudem zeichnet sie sich durch eine enorme Vielfalt an Themen und Gebieten aus, die von der antiken Philosophie über die Ethik und politische Philosophie bis zum Feminismus und der Philosophie der Emotionen reichen. Zudem veröffentlichte sie Bücher über Themen wie eine umfassende geisteswissenschaftliche Bildung (liberal education), religiöse Gleichheit, die neue religiöse Intoleranz und das Verhältnis von Moralphilosophie und Literatur.
 
Biographie
 
Nussbaum wuchs an der Ostküste in Pennsylvania in Bryn Mawr auf, einem wohlhabenden Vorort von Philadelphia. Ihr Vater war erfolgreicher Partner in einer Rechtsanwaltskanzlei, die Mutter arbeitete als Innenarchitektin, bevor sie ihren Beruf für die Familienarbeit aufgab. Bereits als Schülerin faszinierten Nussbaum das Theater und insbesondere Tragödien. Nach zwei Jahren im Wellesley College schloss sie sich einer Theatergruppe an und schrieb sich an der drama school der New York University (NYU) ein. Allerdings wechselte sie bald zur Klassischen Philologie, in der sie 1969 ihren BA-Abschluss an der NYU machte. Nach dem BA wurde sie in Harvard angenommen und kozentrierte sich im Rahmen der Klassischen Philologie bald auf die Philosophie. 1972 erwarb sie ihren MA und 1975 ihr PhD. Sie war die erste Frau in Harvard, die ein Junior Fellowship erhielt, das Studenten die Finanzierung für 3 Jahre sichert. Jedoch brachte Nussbaum bereits als Studentin vor, in Harvard diskriminiert und sexuell belästigt worden zu sein.
 
Während ihres Studiums heiratete Martha Craven Alan Nussbaum, den späteren Professor für Linguistik und Philologie und Vater ihrer 1972 geborenen Tochter Rachel. Wegen der Heirat konvertierte sie vom Christentum zum Judentum, für das sie bis heute großes und kontinuierliches Interesse zeigt. Ihren jüdischen Glauben und ihr Engagement für ihn versteht sie als wichtigen Teil ihres Lebens und ihrer Suche nach Sinn. Seit 1975 konnte Nussbaum in Harvard zugleich Klassische Philologie und Philosophie unterrichten. 1982 wurde ihr vom Department für Klassische Philologie jedoch eine Festanstellung (tenure) verweigert. Nussbaum fand zwei Jahre später eine Stelle an der liberalen Brown Universität, an der sie unterrichtete, bis sie 1995 an der Universität Chicago die Professur für Rechtswissenschaft und Ethik erhielt, die sie noch heute innehat.
 
Bekannt wurde Nussbaum durch ihr 1986 erschienenes Buch The Fragility of Goodness. Im selben Jahr lud sie der indische Ökonom und spätere Nobelpreisträger Amartya Sen ein, mit ihm am World Institute for Development Economics Research (WIDER) als re-search advisor zu arbeiten. Das Institut, an dem Sen research director war, gehört zur Universität der UNO in Helsinki. Zu dieser Zeit war Nussbaum bereits in einer Beziehung mit Sen, und ein Jahr später, 1987, ließ sie sich von Alan Nussbaum scheiden. Neben ihrer Lehrtätigkeit in Brown arbeitete sie jedes Jahr einen Monat am WIDER. 1988 veran-staltete sie dort mit Sen eine Tagung, zu der sowohl Wirtschaftswissenschaftler als auch namhafte Philosophen wie Hilary Putnam, Charles Taylor und Michael Walzer beitrugen. Die Beiträge erschienen 1993 in einem gemeinsam herausgegebenen Band mit dem Titel The Quality of Life. Die Phase am WIDER, in der Nussbaum viel über Entwicklungsländer und ihre Probleme lernen konnte, dauerte bis 1993 an und war für ihre intellektuelle Entwicklung sehr bedeutsam. So konnte sie ihre ethischen Interessen durch ökonomische und politische Fragestellungen ergänzen. Zudem weitete sich ihre Perspektive – auch diejenige ihrer feministischen Anliegen – zu einer internationalen und globalen aus. Ihre philosophische Weiterentwicklung des von Sen seit 1980 konzipierten Fähigkeiten-Ansatzes, den sie mit Aristoteles abzustützen versuchte, trug stark zu ihrem späteren Ruhm bei.
 
Bis in die frühen 1990er Jahre grenzte sich Nussbaum von Rawls, dessen Lehrveranstaltungen sie in Harvard besucht hatte, und vom politischen Liberalismus explizit ab. Seit den späten 90er Jahren änderte sie ihre Meinung und versteht sich mittlerweile als politische Liberalistin, die darauf hofft, dass ihr Fähigkeiten-Ansatz (capabilities approach) die Grundlage für einen „übergreifenden Konsens“ werden kann.
 
Die Bedeutung der antiken Philosophie
 
Nussbaums Faszination von der antiken Philosophie bildete sich erst während ihrem Studium in Harvard aus. Vorangegangen war ihr die Liebe für Literatur und insbesondere für antike griechische Tragödien. Sie fühlte sich jedoch von den Dozenten, die dieses Thema in Harvard unterrichteten, intellektuell nicht herausgefordert. Das war bei Gwilym Elis Lane Owen, der über die Geschichte der antiken Philosophie arbeitete, und seinem Kreis schon der Fall. Dies führte dazu, dass sie ihre Doktorarbeit bei ihm schrieb. Es könnte auch erklären, warum sie über ein Thema aus dem Bereich der Naturphilosophie schrieb, das weitab von ihren ursprünglichen und späteren Interessen lag. Ihre Dissertation über Aristoteles’ De Motu Animalium erschien 1978 als Buch, das aus einer kritischen Ausgabe von Aristoteles’ Text, einem Kommentar und fünf interpretierenden Aufsätzen besteht. Aristoteles sollte der bedeutendste antike Denker für ihre späteren Arbeiten werden und vor allem für ihre Version des Fähigkeiten-Ansatzes. G. E. L. Owen verstarb 1982. In demselben Jahr erschien die Festschrift zu seinem sechzigsten Geburtstag, die Nussbaum zusammen mit Malcolm Schofield unter dem Titel Language & Logos herausgegeben hatte.
 
Nussbaum setzte sich mit Aristoteles auch in etlichen Kapiteln von The Fragility of Goodness auseinander. Das Wort „Goodness“ im Titel bezieht sich nicht auf einen guten Charakter, sondern auf ein gutes und glückliches Leben. Thema des Buches ist die Unsicherheit und Zerbrechlichkeit eines solchen Lebens. Die Ursache dieser Fragilität sind die glücklichen und vor allem die unglücklichen Zufälle (tychê), die sich der menschlichen Kontrolle entziehen. Das Buch untersucht, wie die antiken Tragiker sowie Platon und Aristoteles die Rolle dieser Zufälle für ein gutes Leben aus ethischer Perspektive beurteilen. Dabei interessierte Nussbaum insbesondere das Phänomen, dass moralisch gute Menschen keineswegs immer ein gutes und gelingendes Leben führen können. Wie Bernard Williams, der in Shame and Necessity (1993) und anderen Texten über ähnliche Themen arbeitete, ging es Nussbaum mit ihren Untersuchungen zur antiken Ethik um einen Beitrag zur zeitgenössischen Moralphilosophie.
 
In einer Antwort auf ihre Kritiker, die 2000 in der Zeitschrift Ethics veröffentlicht wurde, nahm Nussbaum Stellung zu ihrem Verhältnis zur antiken Philosophie. Nussbaum zufolge gibt es drei gute Gründe, schwierige zeitgenössische Probleme in Form eines kontinuierlichen Gesprächs mit bedeutenden Texten der Philosophiegeschichte anzugehen: Im Gegensatz zu den meisten zeitgenössischen Arbeiten seien die klassischen Texte erstens komplex, subtil und tiefsinnig. Daher könnten sie unser Denken so lange nähren und stimulieren, bis wir selbst subtiler und komplexer würden. Zweitens präsentierten sie eine breite Auswahl an unterschiedlichen Standpunkten. Wenn wir die bedeutendsten Alternativen studierten, die die Tradition bereithalte, dann seien wir zumindest mit den wichtigsten, wenn nicht gar mit allen ernsthaften Lösungsmöglichkeiten für unsere Probleme konfrontiert. Drittens würden die klassischen Texte unser Denken zwingen, dessen zeitgenössische Selbstgefälligkeit aufzugeben und Probleme aus einem anderen und ungeläufigen Blickwinkel anzugehen. Dennoch betont Nussbaum, dass wir uns bedeutenden historischen Texten nie als einer Autorität unterwerfen sollen, sondern uns selbst anstrengen müssen, die Probleme zu lösen, die sie aufwerfen. Durch ihr Studium der Antike gewann Nussbaum eine bedeutende Erkenntnis: Das überlieferte antike Denken kann als ein Reservoir an wertvollen Einsichten und Gedanken verstanden werden, die für zeitgenössische Fragestellungen und Probleme geborgen und fruchtbar gemacht werden können.
 
Noch 2011 in Creating Capabilities erklärte Nussbaum, dass Aristoteles die wichtigste westliche historische Quelle für ihren Fähigkeiten-Ansatz ist. Dennoch war ihr wohl zunehmend bewusst geworden, dass ihre Interpretation seiner politischen Philosophie, die sie in den späten 1980er und den 90er Jahren in verschiedenen Aufsätzen vorgelegt hatte, anachronistisch ist. Aristoteles war weder Sozialdemokrat avant la lettre noch Demokrat, wie sie behauptet hatte (Nussbaum 1990). Vor allem war der antike Denker, der Frauen geringschätzte und für die Existenz von „Sklaven von Natur“ argumentierte, im Gegensatz zu Nussbaum kein Egalitarist (vgl. Knoll 2009). Nussbaum rang mit diesen Problemen bereits Ende der 80er Jahre (Nussbaum 1988). Bei ihrer Arbeit an The Therapy of Desire (1994) hatte sie sich näher mit der hellenistischen Ethik und Lebenskunst und insbesondere mit den Stoikern beschäftigt. Deren Studium machte ihr, wie sie später wiederholt erklärte, einige große Defekte von Aristoteles’ Denken bewusst. Denn im Gegensatz zu den Stoikern vertritt Aristoteles weder den Gedanken einer allgemeinen Menschengleichheit noch eines gleichen Werts oder einer gleichen Würde aller Menschen. Zudem fokussiert Aristoteles’ politische Philosophie im Gegensatz zum Kosmopolitismus der Stoiker auf die griechische Polis. Daher war ihm Nussbaums Überzeugung fremd, dass es moralische Verpflichtungen gegenüber Menschen gibt, die jenseits der eigenen Landesgrenzen leben. Die hellenistische Philosophie und insbesondere die Stoiker sind die wichtigste Quelle für Nussbaums Philosophie der Emotionen.
 
Der Fähigkeiten-Ansatz
 
Amartya Sen sah den primären Zweck und Nutzen seines Fähigkeiten-Ansatzes darin, dass sich durch ihn die Lebensqualität in Entwicklungsländern bewerten und vergleichen lässt. Seinen Ansatz verstand er als Alternative zu Methoden der Entwicklungsökonomie, die er für mangelhaft hielt. Ein immer noch verbreiteter Ansatz behauptet, die Lebensqualität in einem Land lasse sich mit dem Maßstab des Bruttosozialprodukts pro Kopf messen. Ein derartiges Verfahren ist jedoch wenig aussagekräftig, weil es die Verteilung der Ressourcen nicht berücksichtigt und einem Land mit wenigen sehr reichen und vielen armen Menschen eine gute Lebensqualität bescheinigen würde. Zudem vernachlässigt dieser reduktionistische Ansatz eine Vielzahl von Gütern, die für die Lebensqualität relevant sind, wie etwa den Zugang zu Erziehung und Bildung, die Beziehung zwischen den Geschlechtern und Volksgruppen oder die rechtlichen und politischen Verhältnisse in einem Land. Ein differenzierterer Ansatz, der von Sen und Nussbaum aber auch zurückgewiesen wird, versucht die Lebensqualität in einem Land mit dem subjektiven Kriterium zu messen, wie weit die Individuen ihre Wünsche und Präferenzen als erfüllt ansehen. Durch Umfragen lässt sich etwa ermitteln, ob die einzelnen Menschen mit ihrem Gesundheitszustand oder ihrem Bildungsstand zufrieden sind und auf der Basis der Ergebnisse die Lebensqualität in einem Land beurteilen. Dieser Ansatz hat allerdings auch schwerwiegende Probleme, denn die subjektiven Einschätzungen stimmen in vielen Fällen nicht mit der objektiven Situation überein.
 
Martha Nussbaum
 
Im Gegensatz zum subjektiven Ansatz zur Messung der Lebensqualität und zu relativi-stischen Verständnissen des Guten verteidigt Nussbaum mit Aristoteles eine philosophische Theorie des guten Lebens, die sie als objektiv ansieht. Ihre Theorie sei deshalb objektiv, weil sie sich auf universelle menschliche Wesensmerkmale gründet. Diese werden allerdings geschichtlich und kulturell verschieden ausgeformt. Im Zentrum von Nussbaums Konzeption des Menschen steht eine offene Liste mit den spezifisch menschlichen Eigenschaften wie die Sterblichkeit und die Abneigung gegen den Tod, die Bedürfnisse des menschlichen Körpers, das Erleben von Freu­de und Schmerz, die Verbundenheit mit anderen Menschen sowie eine Lebensführung gemäß der praktischen Vernunft. Auch wenn Nussbaum ihre essentialistische Konzeption des Menschen in Anknüpfung an Aristoteles gewinnt, argumentiert sie dafür, dass ihr kein metaphysischer Realismus zugrundliegt.
 
Nussbaum entwickelte ihre ethische und politische Theorie auf der Grundlage ihrer Liste mit den spezifisch menschlichen Eigenschaften. Von entscheidender Bedeutung sind dabei die menschlichen Fähigkeiten (capabilities). Denn diese, die sie aristotelisch als menschliche Potentiale etwas zu tun und zu sein begreift, bilden den Kern von ihrer Theorie der sozialen Gerechtigkeit und des guten Lebens. Nussbaum geht davon aus, dass die Menschen ihre verschiedenen Fähigkeiten, etwa ihr Vermögen zu denken, soziale Beziehungen einzugehen oder freudvolle Erlebnisse zu haben, in ihrem Leben entfalten wollen. Derartige Fähigkeiten müssen entwickelt werden, bevor die Menschen die Tätigkeiten (functionings) ausüben können, die ihnen jeweils entsprechen. Ein zentraler Gedanke von Nussbaums politischer Philosophie ist, dass Regierungen moralisch dazu verpflichtet sind, sich um Menschen zu kümmern, deren Grundfähigkeiten noch nicht voll entfaltet sind. Normative Grundlage dieses Gedankens ist, dass menschliche Fähigkeiten einen moralischen Anspruch auf ihre Entfaltung haben. Die Gerechtigkeit einer bestehenden Gesellschaft oder Nation lässt sich nicht danach beurteilen, ob sie in der Lage ist, ihren Bürgern Reichtum oder andere Güter zu verschaffen, sondern ob sie es vermag, die Entfaltung einer Liste von zentralen Fähigkeiten sicherzustellen. Gelingt dies einer Regierung, was vor allem einen entwickelten Wohlfahrtsstaat mit einem umfassenden Gesundheits- und Bildungssystem voraussetzt, dann verhilft sie ihren Bürgern zu einem guten Leben. Das politische Handeln darf allerdings nur auf die Entwicklung der Grundfähigkeiten und nicht auch auf bestimmte Tätigkeiten abzielen. Den Bürgern muss es selbst überlassen bleiben, welche der hervorgebrachten Fähigkeiten sie handelnd zu verwirklichen wünschen und welche nicht. Diese Forderungen begründet Nussbaum mit dem großen Wert, der der individuellen Entscheidungsfreiheit und insbesondere der Entscheidungsfähigkeit (capability of choosing) zukommt.
 
Zwischen Nussbaums und Sens Fähigkeiten-Ansätzen gibt es viele Gemeinsamkeiten. Der wichtigste Unterschied besteht nach Nussbaum darin, dass Sen nie eine Liste mit den menschlichen Grundfähigkeiten aufgestellt hat. In Creating Capabilities (2011) erweitert Nussbaum ihre Liste um die klassischen Menschenrechte wie Rede-, Versammlungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit und erklärt, ihr Fähigkeiten-Ansatz sei eng mit der Menschenrechtsbewegung verbündet.
 
Feministischer Liberalismus
 
Bereits bei ihrer Arbeit am Fähigkeiten-Ansatz am WIDER konzentrierte sich Nussbaum auf die Fähigkeiten von Frauen und ihre ungleichen Entwicklungschancen.1995 erschien der Band Women, Culture, and Development. A Study of Human Capabilities, den sie zusammen mit Jonathan Glover herausgegeben hatte. Wie der Vorgängerband The Quality of Life (1993) brachte dieser Sammelband ökonomisches und philosophisches Denken zusammen. Der Fokus lag aber diesmal auf den Problemen von Frauen in Entwicklungsländern und insbesondere auf Martha Chens Feldstudie über das Recht auf Arbeit von Frauen in Indien und Bangladesch. 1999 erschien Nussbaums erstes umfangreiches feministisches Werk Sex & Social Justice und nur ein Jahr später folgte ihr Buch Women and Human Development. The Capabilities Approach. Gemäß dem Internationalismus ihres Feminismus geht es Nussbaum in ihren Arbeiten weniger um weiße Frauen aus der Mittelschicht der USA, sondern vor allem um arme Frauen in Entwicklungsländern, die mit Hunger, Analphabetismus und verschiedensten Diskriminierungen zu kämpfen haben. Ihren Feminismus versteht sie als zugleich humanistisch und universalistisch. Damit ein Universalismus in der modernen Welt überzeugen kann, muss er für Nussbaum zudem eine Form des politischen Liberalismus darstellen.
 
Der Ausgangspunkt von Nussbaums Version des Liberalismus ist der Gedanke des gleichen Werts aller menschlichen Wesen aufgrund ihrer menschlichen Grundfähigkeiten zu entscheiden und zu denken. Aus dem gleichen Wert aller Menschen leitet sie ihre Forderungen nach gleichem Respekt und gleichen Rechten, Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten für Männer und Frauen ab. Gender-Gerechtigkeit erfordere daher eine Überwindung aller nicht gerechtfertigten Ungleichheiten. Ein weiteres Merkmal von Nussbaums Feminismus ist, wie sie in Sex & Social Justice erklärt, dass er die gesellschaftliche Herkunft von Wünschen, Präferenzen und Emotionen untersucht. Diese Untersuchungen bestehen sowohl aus Begriffsanalysen als auch aus empirischen Studien, die sich auf Arbeiten aus der Kognitionspsychologie und der Anthropologie stützen. Als letztes Merkmal führt Nussbaum an, dass ihr feministischer Liberalismus trotz dessen radikaler Kritik an den Geschlechterverhältnissen auf ein mitfühlendes Verständnis zwischen Männern und Frauen zielt. Nussbaums Anliegen ist nicht bloß die Überwindung von Ungerechtigkeiten. Vielmehr geht es ihr um die Verwirklichung von Vergebung, Sorge und Vertrauen sowie von Emotionen wie Liebe, Fürsorge und Anteilnahme. Nussbaum ist sich bewusst, dass die angeführten Merkmale ihres Feminismus häufig als sich widersprechend angesehen werden. Dennoch argumentiert sie dafür, dass ihre Kombination kohärent und aussichtsreich ist.
 
Philosophie der Emotionen
 
Nussbaum entwickelte die Grundgedanken ihrer Philosophie der Emotionen bereits in den 1980er Jahren. Seit The Therapy of Desire (1994) erklärte sie wiederholt, dass die Stoiker deren zentrale Quelle sind. Die frühen Texte von Nussbaums Philosophie der Emotionen erschienen in dem 1990 veröffentlichten Essayband Love’s Knowledge. Der Titel des Bandes hatte – zumindest rückblickend betrachtet – programmatischen Charakter. Denn wie ihre späteren Arbeiten richtet er sich gegen die gängige Gegenüberstellung von einer emotionslosen Vernunft und Emotionen, die keine Verbindung zu unseren Gedanken haben. Eine Emotion wie Liebe ist der Vernunft nicht diametral entgegengesetzt, sondern besitzt eine kognitive Dimension. Emotionen sind nicht einfach elektrische Impulse oder irrationale Triebkräfte, sondern tragen zur Erkenntnis der Welt bei. Denn sie enthalten Einschätzungen und Werturteile. Nussbaum versteht Emotionen als Formen einer intelligenten und bewertenden Interpreta-tion der Welt, die für unser Leben äußerst wichtig sind. Emotionen sind die Weise, in der Menschen erfassen, wie es um ihre unsicheren Projekte in der Welt und um ihre Bindungen zu Personen steht, die jenseits ihrer Kontrolle sind. Liebe zu einem Menschen und schmerzliche Trauer um einen verstorbenen Angehörigen sind Reaktionen, die uns anzeigen, wie wichtig und wertvoll diese Menschen für uns sind. Derartige Reaktionen sind verknüpft mit Gedanken über die Personen, die wir lieben oder um die wir trauern. Furcht vor dem Tod ist so rational wie der Ärger über jemand, der unser Leben oder das einer geliebten Person bedroht.
 
Nussbaums Theorie der Emotionen ist von großer Bedeutung für ihren Ansatz in der Ethik und der Rechtsphilosophie. Moralphilosophie hat für sie weniger mit rationalen allgemeinen Prinzipien zu tun. Vielmehr muss sie rationale und emotionale Aspekte gleichermaßen berücksichtigen. Bei ethischen Urteilen können Emotionen nicht einfach beiseitegeschoben werden, wie dies in der Geschichte der Philosophie oft erfolgte. Vielmehr fordert Nussbaum von Moralphilosophen, dass sie Emotionen als einen bedeutenden Bestandteil ihres Gegenstands betrachten. Eine angemessene ethische Theorie muss ihr zufolge eine angemessene Theorie der Emotionen entwerfen, die u. a. deren Entwicklung in der Kindheit und deren kulturelle Herkunft einbezieht. Emotionen seien sowohl für ein gutes und glückliches Leben als auch für ethische und rechtliche Bewertungen relevant. Tötet jemand etwa eine Person in einem emotionalen Zustand wie Ärger, der auf eine ratio-nal nachvollziehbare Provokation oder Bedrohung zurückgeht, dann mildere dies die Schuld des Täters.
 
Nussbaum legte ihre kognitive und evaluative Theorie der Emotionen in ihrem 2001 erschienenen Werk Upheavals of Thought auf über 600 Seiten dar. Der Untertitel des Buches, in dem sie einen analytischen Rahmen für ihre späteren Überlegungen zu diesem Thema entwirft, lautet The Intelligence of Emotions und hat daher explizit programmatischen Charakter. Wie bereits in Love’s Knowledge unterstreicht Nussbaum in ihrem Werk die Bedeutung der Literatur – aber auch anderer Kunstformen – für die Moralphilosophie. Eine angemessene Interpretation der Emotionen setze nicht bloß eine Auseinandersetzung mit traditionellen philosophischen, sondern auch mit literarischen Texten voraus, weil der komplizierten kognitiven Struktur von Emotionen zumindest partiell eine narrative Form zu Eigen wäre. So beinhaltet eine Emotion wie Liebe eine Geschichte unserer Beziehung zu dem geschätzten Objekt, die einen bestimmten Zeitraum umfasst. Letztlich reicht diese Geschichte bis in unsere Kindheit zurück, weil wir in ihr unsere Bindungsmuster ausbilden. Der Ausgangspunkt von Upheavals of Thought ist Nussbaums persönliche Erfahrung ihres Kummers und ihrer Trauer nach dem Tod ihrer Mutter.
 
Nussbaum bezeichnet ihre Theorie der Emotionen durchgehend als neostoisch, weil sie zwar von den Vorstellungen der antiken Stoiker ausgeht, diese jedoch signifikant weiterentwickelt. Im Gegensatz zu den antiken Stoikern bezieht sie etwa auch die emotionale Entwicklung in der Kindheit und die Emotionen von Tieren ein. Dabei unterstreicht sie deren Gemeinsamkeiten mit denjenigen der Menschen. Zudem stützt sie sich auf moderne[U1]  Wissenschaften wie die Anthropologie und die zeitgenössische Psychologie. Nussbaum differenziert zwischen einerseits Emotionen und andererseits Begierden, Stimmungen und Handlungsmotiven. Zudem bemüht sie sich um die Klärung der Frage, ob Emotionen auch nicht-kognitive Einstellungen wie Gefühle oder Körperbewegungen umfassen.
 
Nach Upheavals of Thought setzte sich Nussbaum in mehreren Werken mit bestimmten Emotionen auseinander. Das zentrale Thema von Hiding from Humanity (2006) sind die Emotionen Scham (shame) und Abscheu (disgust) und deren Bedeutung für Recht und Gesetz. Die These des Buchs ist, dass Scham und Abscheu – im Gegensatz zu Ärger und Furcht – unzuverlässige Wegweiser und Ratgeber für öffentliche Angelegenheiten und Verfahren sind. In Political Emotions (2013) untersucht Nussbaum die Frage, wie eine liberale und würdevolle Gesellschaft (decent society) durch öffentliche Emotionen wie Vaterlandsliebe oder Mitgefühl unterstützt und stabilisiert werden kann. Insbesondere geht es ihr, wie der Untertitel des Buchs verdeutlicht, um die Bedeutung der Emotion Liebe für Fragen der Gerechtigkeit. Ihre Analyse setzt vor allem auf der Ebene des Nationalstaats an, wobei die USA und Indien im Fokus ihres Interesses stehen. Im Zentrum der Argumentation von Anger and Forgiveness (2016) steht eine Analyse des Ärgers und die These, dass diese Emotion in normativer Hinsicht immer problematisch ist, sei es im persönlichen, sei es im öffentlichen und politischen Bereich. So sind etwa Vergeltung und Rache an einem Übeltäter nicht dazu in der Lage, den von ihm angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Weitere Themen des Buchs sind eine kritische Untersuchung der Vergebung als Haltung, die den Ärger im Bereich des Fehlverhaltens ersetzen könnte, und der Werte Großzügigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit, die Vertrauen und Versöhnung unterstützen könnten.
 
Nussbaums Rolle als Public Intellectual
 
Durch ihre publizistischen Angriffe auf Alan Bloom und Judith Butler wurde Nussbaum 1987 einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Bloom gilt als einer der erfolgreichsten Schüler des deutschamerikanischen Philosophen Leo Strauss und übte in den USA – obwohl er sich selbst nicht als konservativ versteht – einen erheblichen Einfluss auf die neokonservative Bewegung aus. 1987 erschien seine kulturkritische Schrift The Closing of the American Mind, in der er vor allem die höhere Bildung in den USA kritisierte. In ihrer Polemik, die 1987 in der New York Review of Books veröffentlicht wurde, nahm Nussbaum vor allem Anstoß an Blooms elitärem Bildungsverständnis. Die Ablehnung, die Nussbaum gegenüber ihrer eigenen aristokratischen Erziehung empfand, führte später zu einer Zurückweisung alles Elitären und jeglichen Strebens nach Ungleichheit („the deforming lust for inequality“). Das war auch ein Grund dafür, warum sie die feministische Philosophin Judith Butler ablehnte. Butler wurde vor allem durch ihre Bücher Gender Trouble (1990) und Bodies That Matter (1993) berühmt. Ihre Arbeiten werden häufig mit dem Poststrukturalismus in Verbindung gebracht. Nussbaums ausführlicher Kritik an Butler, die 1987 in The New Republic veröffentlicht wurde, ging die Veröffentlichung von Butlers Buch Excitable Speech: A Politics of the Performative (1997) voraus. Nussbaums Kritik richtete sich vor allem gegen Butlers zu „postmodernen“, zu „quietistischen“ und zu „symbolischen“ Feminismus, der zu wenig auf die realen und materiellen Probleme von gewöhnlichen Frauen fokussiert sei. (vgl. Boynton 1999)
 
Zehn Jahre nach ihrem Angriff auf Alan Bloom legte Nussbaum in Cultivating Humanity (1997) ihre eigenen Vorstellungen über eine umfassende geisteswissenschaftliche Bildung (liberal education) vor. Der Untertitel des Buchs, in dem sie ihr Bildungsideal eng mit ihrem Bürgerideal verknüpft, lautet A Classical Defense of Reform in Liberal Education. In ihrer Schrift untersucht Nussbaum die höhere Bildung in den USA, der sie einen guten Gesundheitszustand bescheinigt, vor allem anhand von 15 Colleges und Universitäten. Zudem verteidigt sie im Anschluss an Diogenes, den Kyniker, und die Stoiker eine schwache Variante des Kosmopolitismus. Im Gegensatz zur starken Variante verlangt eine solche nicht, dass die vorrangige Loyalität eines Bürgers allen Menschen auf der Welt zu gelten habe. Allerdings muss eine schwache Variante neben der Bindung an eine Nation, Region oder an andere Gruppen auch mit einer starken Loyalität gegenüber den anderen Bürgern der Welt einhergehen. Die starke Variante des Kosmopolitismus hatte Nussbaum in ihrem Essay Patriotism and Cosmopolitism vertreten, der 1994 zusammen mit 29 kontroversen Repliken in der Boston Review veröffentlicht wurde. Dieser Essay erschien zusammen mit elf der überarbeiteten Erwiderungen und fünf neuen Repliken 1996 erneut in dem Band For Love for Country?. Sowohl in Cultivating Humanity als auch in ihrem Essay trat Nussbaum dafür ein, dass es eine zentrale Aufgabe der Erziehung sei, ein substanzielles Wissen von der Verschiedenheit der Kulturen, Menschen und sexuellen Orientierungen, von nicht-westlichen Kulturen sowie den zahlreichen Weltproblemen zu vermitteln.
 
Nussbaums Bildungsideal zielt nicht bloß auf wissenschaftliches Verständnis ab, sondern auch auf die Entwicklung der Vorstellungskraft und Liebesfähigkeit der Bürger. Zudem verlangt es die Befreiung des Geists von tradierten Denkweisen und Denkgewohnheiten sowie die Kultivierung aller menschlichen Anlagen für die Aufgaben des Lebens und des Bürgers. Dazu seien vor allem drei Fähigkeiten erforderlich: (1) die auf Sokrates zurückgehende Kompetenz zur kritischen Untersuchung seiner selbst und der eigenen Tradition; (2) die Fähigkeit, sich als menschliches Wesen zu sehen, das mit allen anderen Menschen durch ein Band der Anerkennung (recognition) und Anteilnahme (concern) verbunden ist; (3) die Befähigung sich vorzustellen, wie es wäre, eine andere Person mit einer anderen Lebensgeschichte zu sein (narrative imagination). Als Beispiel, wie letztere Fähigkeit eingeübt werden kann, führt Nussbaum eine Aufgabe aus dem Fach „Englisch“ an. Die Studenten wurden aufgefordert, sich vorzustellen, schwul oder lesbisch zu sein und in einem Brief darüber zu berichten, wie sie dies ihren Eltern eröffnen und ihnen ihren Lebensstil erklären.
 
Neben der höheren Bildung und dem Weltbürgertum ist die Religion ein wichtiges Thema derjenigen Schriften Nussbaums, die sich an eine breitere Öffentlichkeit wenden. In dem umfangreichen Buch Liberty of Con- science (2008) verteidigt sie, wie der Untertitel deutlich macht, die US-amerikanische Tradition religiöser Gleichheit. Garantiert wird diese vor allem durch die Trennung von Kirche und Staat, die auch die Religionen der Minderheiten vor der Mehrheit schützt. Die gleiche Gewissens- und Religionsfreiheit und damit die religiöse Fairness sieht sie sowohl von rechts als auch von links bedroht. Von rechts geht die Bedrohung vor allem von konservativen evangelikalen Christen aus, denen zufolge ihre Form des christlichen Glaubens die USA als Nation definieren sollte. Wäre ein solches Programm zur Etablierung einer monotheistischen Staatsreligion erfolgreich, würden alle nicht-evangelikalen Christen zu Bürgern zweiter Klasse, wodurch die bürgerliche Gleichheit unterminiert würde. Von links sieht Nussbaum die religiöse Fairness von radikalen Atheisten und arroganten Säkularisten wie dem Philosophen Daniel Dennett bedroht, die mit Verachtung auf die Gläubigen und ihre Überzeugungen herabblickten. Die linke Abwertung religiöser Menschen verärgert Nussbaum besonders, weil sie sich selbst als gläubige und religiöse Jüdin versteht. In Liberty of Conscience analysiert sie die von ihr geschätzte US-Tradition rechtlicher religiöser Gleichheit, von der die Europäer ihres Erachtens einiges lernen könnten.
 
Ihr zweites Buch zu religiösen Themen, das an Liberty of Conscience anschließt, ist die 2012 erschienene Schrift The New Religious Intolerance. Während es in den USA über lange Zeiträume primär Vorurteile gegenüber Katholiken und Juden gab, konstatiert Nussbaum für die Gegenwart vor allem ein Anschwellen der „religiösen Furcht“ vor Muslimen. Trotz unterschiedlicher Traditionen im Umgang mit religiösen Fragen trifft letzterer Befund auch auf Europa zu, wo über das Verbot von islamischen Kopftüchern, Burkas und Minaretten kontrovers diskutiert wird. In ihrem Buch The New Religious Intolerance analysiert Nussbaum die aus diesen parallelen Entwicklungen resultierende Politik der Furcht, die es zu verstehen und zu überwinden gelte. Bei ihren Analysen kann sie sich auf ihre Untersuchungen in Liberty of Conscience stützen und auf die Vorarbeiten, die sie im Bereich der Philosophie der Emotionen geleistet hat. Letzterer Bereich bildet den Schwerpunkt ihrer Arbeiten der zurückliegenden 20 Jahre und entwickelt sich immer mehr zum Zentrum ihres Werks.
 
Literatur von Martha Nussbaum, auf die im Text mit Jahresangabe verwiesen wird:
 
Nussbaum 1988, “Nature, Function, and Capability: Aristotle on Political Distribution”. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy, suppl. vol., 145–184 (dt. in Nussbaum 1999).
 
Nussbaum 1990, Aristotelian Social Democracy. In: Douglass, R. Bruce/Mara, Gerald M./ Richardson, Henry S. (Hg.), Liberalism and the Good, New York/London 1990, 203–252 (dt. in Nussbaum 1999).
 
Nussbaum 1999, Gerechtigkeit oder das gute Leben, hrsg. von Herlinde Pauer-Studer, Frankfurt am Main.
 
Sekundärliteratur:
 
Abbey, Ruth, The Return of Feminist Liberalism, Montreal/Kingston, Ithaca, 2011.
 
Alexander, John M., Capabilities and Social Justice. The Political Philosophy of Amartya Sen and Martha Nussbaum, Aldershot u. a. 2008.
 
Boynton, Robert, Who Needs Philosophy? A profile of Martha Nussbaum. In: The New York Times Magazine, Nov. 21, 1999 (www.robertboynton.com/articleDisplay.php?article_id=55).
 
Gutschker, Thomas, Aristotelische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 2002.
 
Knoll, Manuel, Aristokratische oder demokratische Gerechtigkeit? Die politische Philosophie des Aristoteles und Martha Nussbaums egalitaristische Rezeption, München/Paderborn 2009.
 
UNSER AUTOR:
 
Manuel Knoll ist Professor für Philosophie an der Istanbul Şehir University.