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EDITIONEN

Marcuse

HERBERT MARCUSE

 

Nachgelassene Schriften

 

Seit 1984 befindet sich der Nachlass von Herbert Marcuse im Archivzentrum der Stadt- und Universitätsbibliothek in Frankfurt am Main. Nach einer Sichtung und Erfassung des 40’000 Blatt umfassenden Materials ist das Archiv seit einigen Jahren für Forschungszwecke nutzbar.

Peter-Erwin Jansen, der sich wie kein zweiter für Marcuse einsetzt, hat damit begonnen, ausgewählte Schriften daraus im zu Klampen-Verlag in Lüneburg in einer Reihe  “Nachgelassene Schriften” herauszugeben. Die einzelnen Bände sind nach thematischen Gesichtspunkten zusammengestellt, Ausgangspunkt sind jeweils die Themenbereiche, die Marcuses Denken bestimmten. Die dabei ausgewählten Arbeiten sind weitgehend ausformulierte und eigenständige Texte, die bisher unveröffentlicht oder lediglich in englischer Sprache erschienen sind.

 

Marcuse, Herbert: Nachgelassene Schriften. Band 1: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie. Herausgegeben von Peter-Erwin Jansen. Mit einer Einleitung von Oskar Negt.176 S., Ln., € 19.--, 1999, zu Klampen, Lüneburg

Antidemokratische Volksbewegungen

 

Ein  für das amerikanische Außenministerium verfertigter Text, der die Gruppierungen analysiert, die sich in Deutschland der Demokratisierung widersetzen. Vermutlich aus der Zeit um 1948.

Zur Zeit gibt es in Deutschland keine antidemokratischen Volksbewegungen. Dank der Besatzung ist Demokratie die einzig erlaubte Form des politischen Lebens. Es gibt zwar einige wenige antidemokratischen Gruppen, die im Verborgenen wirken. Welche Gruppen in Deutschland könnten aber willens und fähig sein, demokratische Formen und Institutionen zu beseitigen? Die Kommunistische Partei in Westdeutschland ist zwar noch immer eine Arbeiterpartei, aber ihr Einfluss in der Arbeiterbewegung schwindet. Die Streitigkeiten in den eigenen Reihen und die unpopuläre Identifikation mit der sowjetischen Politik geben ihnen kaum Aussicht auf Erfolg. Eine zweite Gruppe, die willens und fähig ist, die gegenwärtigen demokratischen Formen zu beseitigen, besteht aus dem großen Heer von Vertriebenen, Flüchtlingen, Arbeitslosen und verarmten Angehörigen der Mittelklasse. Ihre Gruppierung kann sich   aber nicht aus eigener Kraft organisieren und politische Zielvorstellungen entwickeln. In der jüngsten Geschichte gibt es drei Gruppen, die bereit waren, antidemokratische Bewegungen zu unterstützen: der alte preußische Landadel (er existiert nicht mehr), die Armeeführung (von ihr sind nur einige Kernbereiche übrig geblieben) und die Großindustriellen (sie orientieren sich an demokratischen Formen, weil Adenauer ihre Interessen vertritt). Deshalb ist es mit der Zukunft antidemokratischer Bewegungen in Deutschland nicht gut bestellt. Allerdings gibt es noch das Schreckgespenst einer Verbindung zwischen kommunistischen und rechtsgerichteten konservativen und militaristischen Kräften. Damit dies zu einer Gefahr werden könnte, müsste sich die ökonomische Situation aber entscheidend verschlechtern und gleichzeitig die Industrialisierung der östlichen Hemisphäre voranschreiten.

 

Das Problem des sozialen Wandels in der technologischen Gesellschaft

 

Marcuse verfasste diesen Text 1961 für das Pariser Symposium “On Social Development”.

 

Einer der wesentlichen Charakterzüge der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation ist der demokratische Verfall der Freiheit: die effiziente, reibungslose, vernünftige Unfreiheit, die ihre Wurzeln im technokratischen Fortschritt selbst zu haben scheint. Die Rechte und Freiheiten, die im Ursprung und Frühstadium der industriellen Gesellschaft so lebenswichtige Faktoren darstellten, müssen sich einem höheren Stadium dieser Gesellschaft beugen: Sie verlieren ihren überkommenen vernünftigen Wert.

 

Worauf kann eine Kritik der fortgeschrittenen Industriegesellschaft gegründet werden? Wie sind ihre Maßstäbe und Kriterien beschaffen? In der Gesellschaftstheorie wie in anderen Wissenschaften sind Werte keine Tatsachen, sondern diesen entgegengesetzt. Der Gegensatz kann nur durch eine historische “Vermittlung” aufgelöst werden, die die Extreme versöhnt, indem sie ihre Form zerstört - das heißt, indem sie faktische Bedingungen schafft, innerhalb derer die Werte zur Wirklichkeit werden können.

 

Da es mithin an Gruppierungen oder Klassen fehlt, die den sozialen Wandel bewirken können, ist die Kritik auf einen hohen Grad an Abstraktion angewiesen. Theorien der Gesellschaft und ihrer Veränderung erscheinen im Augenblick als unrealistisch und spekulativ.

Hebt man allerdings diese Isolierung auf, erscheinen die Fakten in einem anderen Licht. Sie können vor dem Hintergrund einer historischen Wirklichkeit, die Kapitalismus und Kommunismus, über- und unterentwickelte Gebiete, vortechnologische und technologische Kulturen, Überfluss- und Elendgesellschaften in einer globalen Struktur zusammenfasst, “begriffen” werden. Diese Struktur ist der empirische Ausgangspunkt für die Bildung der Kriterien, anhand derer die Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft ins Werk gesetzt werden kann. Begriffe wie “gesellschaftlich notwendig”, “Arbeit”, “Muße” oder “Freiheit” werden in Bezug auf die gegenwärtig verfügbaren materiellen und geistigen Ressourcen neu definiert und dabei mit der tatsächlichen Verteilung und Nutzung dieser Ressourcen kontrastiert. Damit ist die historische Grundlage gegeben für eine objektive Bewertung der augenblicklich existierenden Gesellschaften im Hinblick auf die “optimale Entwicklung” der Menschheit, die durch das jetzt erreichte Zivilisationsstadium möglich wird.

 

Allerdings ist die Kritik in zweifacher Hinsicht mit einem Mangel behaftet. Erstens: Solange das Denken keine Basis findet, auf der es sie in Handeln übersetzen könnte, stellt sich die kritische Analyse tot oder vielleicht gerade wegen ihrer objektiven historischen Kriterien als reine Theorie dar, die von jeglicher Praxis abgeschnitten ist. Zweitens: Als Gesellschaftstheorie sieht sich die kritische Analyse mit soziologischen Kategorien konfrontiert, die der jetzigen Gesellschaft nicht mehr angemessen zu sein scheinen. Der Versuch einer immanenten Kritik der sich entfaltenden Rationalität der industriellen Zivilisation scheint von vornherein zur Ideologie zu gerinnen. Er wirkt wie ein Rückschritt von praxis­orientierter Theorie zu abstraktem, spekulativem Denken, von politischer Ökonomie zur Philosophie.

 

Jenseits des Eindimensionalen Menschen

 

1968 eröffnete Marcuse unter dem Titel “Be­yond One-Dimensional Man” eine jährlich wiederkehrende Vortragsreihe an der Universität von Los Angeles.

 

In einer eigenwilligen Transformation geht die Philosophie über Literatur und Kunst in Politik über, tendiert zu einer Verwirklichung der Philosophie, die ganz anders verläuft als die von Marx intendierte. Marcuse will dies am Beispiel des Existentialismus zeigen. In seiner Anfangsphase ist er resignativ und zielt auf die Versöhnung der absurden Realität. “Wir müssen”, sagt Camus, “Sysiphos als einen glücklichen Menschen vorstellen”. Er ist glücklich und frei, weil er die Absurdität, die ewige Vergeblichkeit seines Tuns, zu dem er verdammt ist, erkannt und zu seiner freiwilligen Aufgabe, zum Akt seiner Freiheit gemacht hat. Heute ist die Rebellion gegen die absurde Rationalität des Systems über die Revolte des Existentialismus hinausgegangen. Sie verweigert dieser schrecklichen Definition menschlicher Freiheit, die dazu dient, die tatsächliche Un

 

HERBERT MARCUSE

 

Im Rahmen der „Nachgelassenen Schriften Herbert Marcuse“  hat Peter Erwin Jansen verschiedene Reaktionen auf die Protestbewegungen der sechziger und frühen siebziger Jahre zusammengestellt

und neu – zum Teil in deutscher Erstübersetzung -  herausgegeben:

 

Marcuse, Herbert: Die Studentenbewegung und ihre Folgen. Herbert Marcuse, Nachgelassene Schriften Band 3. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Peter-Erwin Jansen. Einleitung von Wolfgang Kraushaar. Aus dem Amerikanischen von Thomas Laugstien. 254 S., Ln., €….., 2004, zu Klampen, Springe.

 

Der Band enthält insgesamt 20 Texte zu den Themen Kuba, Vietnam, Studentenbewegung, Israel und Angela Davis. Enthalten sind Marcuses kritische Briefe an Angela Davis wie auch der Briefwechsel mit Rudi Dutschke. Nachfolgend sind fünf  der wichtigsten Texte kurz  zusammengefasst.

 

Rede vom 3. Mai 1961

 

Marcuse wirft den kapitalistischen Ländern vor, sie kämpften dagegen, dass rückständige Länder eine Gesellschaftsform einführen, die sich von unserer grundlegend unterscheidet - mit einer Agrarreform, der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und Banken sowie einer völligen Umverteilung von Eigentum und Macht. Dies  findet in einem heftigen Kampf gegen mächtige Interessengruppen statt, die sich der Reform widersetzen. Genau darin sieht Marcuse das Wesen der Revolution. Und eine Gesellschaft, die sich in einem offenen Bürgerkrieg befindet, sich die bürgerlichen Freiheitsrechte nicht leisten. Marcuse erinnert daran, dass es während der amerikanischen Revolution keine bürgerlichen Freiheitsrechte für die britischen Loyalisten gab. Marcuse verabscheut deshalb die Heuchelei, mit der man Castros Unterdrückung der bürgerlichen Freiheitsrechte als einen Hauptgrund für den Kampf gegen die kubanische Revolution darstellt.

In der ganzen Welt sind die Interessengruppen, die den Bewegungen zur Einführung einer neuen Gesellschaftsordnung im Wege stehen, mit den Vereinigten Staaten verbündet. Marcuse sieht eine rapide Umwandlung unserer eigenen Gesellschaft in eine unfreie, die schon die gleichen Tendenzen aufweist, die wir in anderen Ländern anklagen.

 

Die innere Logik der amerikanischen Politik in Vietnam. Beitrag zu einem Sammelband, 1967

 

Die offizielle Begründung für die amerikanische Vietnampolitik lautet: „Wir kämpfen für die Freiheit“. Faktisch wird jedoch für eine Militärdiktatur gekämpft, die sich ohne amerikanische Bomber keine vierundzwanzig Stunden halten könnte. „Wir kämpfen für die Freiheit“, heisst hier, eine Militärjunta zu unterstützen, deren Macht auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht. Amerika führt Krieg gegen eine einheimische Bevölkerung, die radikale Agrarreformen durchführen und die Ausbeutungsherrschaft der traditionellen herrschenden Klasse abschaffen will. Die Macht des ausländischen Kapitals soll beseitigt werden und dabei wird die einheimische Regierung angegriffen, die von dieser Macht abhängig ist. Ein Erfolg würde zur Enteignung des ausländischen Kapitals und zur Beseitigung der korrupten Unterdrückungsregime, die für rückständige Nationen charakteristisch sind, führen. Die Existenz eines gigantischen Militärapparates ist ein integraler Bestandteil der US-Ökonomie und hat eine aggressive Außenpolitik zur Voraussetzung. Eine diesbezügliche Wende hätte tiefgreifende ökonomische und politische Veränderungen zur Folge. Zudem benötigt die Wohlstandsgesellschaft ein Feinbild, das die Bevölkerung in einen Zustand der permanenten psychosozialen Mobilmachung versetzt.

 

Analyse eines Exempels. Rede von Marcuse in Frankfurt im Mai 1966.

 

Alle Ökonomie ist politische Ökonomie im weitesten Sinne. Das System der fortgeschrittenen Industriegesellschaft ist global. Zum einen in dem Sinne, dass es alle Dimensionen der menschlichen Existenz privat und öffentlichen den herrschenden gesellschaftlichen Mächten ausliefert. Zum anderem in dem Sinn, dass es für dieses System überhaupt keine äußeren Faktoren mehr gibt, dass die geographisch am weitesten entfernten Kräfte zu zentralen Kräften des Systems werden. Kontrolliert und mobilisiert wird das Innere des Menschen  – die Triebstruktur, das Denken und Fühlen, selbst die Spontaneität. Die oppositionelle Jugend weigert sich mitzumachen, es ist ein Ekel vor dem Lebensstil der Gesellschaft im Überfluss, der sich hier durchsetzt. Nur diese Negation ist artikuliert, nur dieses Negative ist die Basis der Solidarität, nicht aber das Ziel: sie ist Negation der totalen Negativität, die das System der „Gesellschaft im Überfluss“ durchherrscht.

 

Die Gesellschaft benötigt einen Feind, dessen bedrohende Macht die repressive und destruktive Ausbeutung aller materiellen und intellektuellen Rohstoffe rechtfertigen muß. Der Kontrast zwischen gesellschaftlichem Reichtum einerseits, der methodischen Verschwendung im Angesicht von Armut und Elend wirkt auf den Menschen als konstante Repression und die verwalteten Menschen antworten mit einer diffusen Aggressivität. In letzterer sieht Marcuse  eine der gefährlichsten Faktoren für die kommende Entwicklung. Dazu gehört auch die ungeheure Brutalisierung der Sprache, an die die Menschen allmählich gewöhnt werden.

 

Gibt es eine reale Basis der Solidarität für die sozial und geographisch so verschiedenen Gegenkräfte, gibt es eine Basis für eine konkrete Solidarität? Marcuses Antwort: Keine außer der Solidarität der Vernunft und des Sentiments. In dieser instinktiven und intellektuellen Solidarität sieht er die stärkste radikale Kraft.

 

Die Pariser Revolte im Mai 68. Vortrag am 23. Mai 1968 in San Diego

 

In jener Nacht im Mai 1968, als die Studenten ihre Barrikaden räumen mussten, gab es insgesamt etwa achthundert Verletzte. Der junge Anführer Cohn-Bendit, der die Barrikaden organisiert hatte und die ganze Zeit mit dabei war, sagte nach der verlorenen Strassenschlacht: „Jetzt gibt es nur noch eins, nämlich den Generalstreik“. Innerhalb von einer Stunde brachte er die großen Gewerkschaften dazu, für den kommenden Montag den Generalstreik auszurufen. In diesem Fall haben die Studenten den Arbeitern gezeigt, wo es lang geht. Und die Arbeiter sind ihnen gefolgt. Sie Studenten waren buchstäblich die Avantgarde – die Avantgarde einer Aktion, die sich spontan in eine Massenaktion verwandelt hat. Und das ist der entscheidende Punkt: Was in Paris erlebt wurde, ist die Wiederkehr einer revolutionären Tradition, die in Europa seit Anfang der zwanziger Jahre eingeschlafen war. Die studentische Opposition hat sich von Anfang an auch gegen die Kommunistische Partei in Frankreich gerichtet, die als Teil des Establishment angesehen wurde.

 

Die Bewegung war zuerst auf die Universität beschränkt und die Forderungen waren erst akademischer Natur – die Forderungen nach einer Universitätsreform. Dann kam aber ganz schnell die Erkenntnis, dass die Universität ein Teil der Gesellschaft ist, ein Teil des Bestehenden. Deshalb wurde bereits vor dem Ausbruch dieser Ereignisse der Versuch unternommen, die Arbeiter aktiv zu gewinnen. Als die Studenten dann auf die Strasse gingen, sind die Arbeiter ihnen gefolgt. Sie haben ihre eigenen Forderungen – nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen – mit dem akademischen Forderungen der Studenten verbunden. Damit ist die Studentenbewegung zu einer breiten sozialen Bewegung worden, zu einer sozialistischen Bewegung. Sie ist gleichzeitig ein Protest gegen das ganze System der Werte, Ziele und Leistungen, die in der bestehenden Gesellschaft gefordert und praktiziert werden. Und deshalb kann man von einer Kulturrevolution sprechen.

 

Ganz anders die Situation in Berlin. Die Studentenbewegung ist hier ganz entschieden mit der offenen Feindseligkeit der Bevölkerung konfrontiert. In dieser Situation ist es ein heikles Unterfangen, sich auf eine Konfrontation mit der Polizei einzulassen.

 

Die Unterschiede zwischen alter und neuer Linke  Festvortrag am 4. Dezember 1968 - zum 20jährigen Bestehen von The Guardian.

 

Marcuse sieht die linke Bewegung mit zwei Widersprüchen konfrontiert. Einerseits unterdrückt und zerstört die gegenwärtige Gesellschaft die menschlichen und natürlichen Möglichkeiten, frei zu sein und sein Leben selbst zu bestimmen. Andererseits verspürt ein großer Teil der Bevölkerung kein Bedürfnis nach einer Veränderung. Das ist der eine Widerspruch. Der andere ist die Frage: „Können wir etwas besseres anbieten?“. Die linke Bewegung kann dies deshalb nicht, weil sich deren Ziele, Werte und Moral schon in ihren Aktionen zeigen muss. Der neue Mensch, so Marcuse, muss jetzt schon sein. „Wir können aber nur im kleinen die Vorbilder für das abgeben, was der neue Mensch sein könnte. Die Alternative, die genau das zum Ausdruck bringt, ist der Sozialismus und zwar der libertäre Sozialismus, der immer schon der eigentliche Sozialismusbegriff war“. Die Leute sagen: „Wo ist dieser Sozialismus. Zeigt ihn uns doch. Wir werden sagen, er wird in Kuba aufgebaut. Er kämpft in Vietnam gegen das Supermonster. Aber die Leute schauen sich um und sagen: Der Sozialismus, den wir sehen, ist das was wir in der Sowjetunion haben.“ Und das heisst für sie: Sozialismus ist ein Verbrechen.

Eine radikale Veränderung ohne Massenbasis ist undenkbar. Aber eine Massenbasis zu bekommen ist mit dieser Voraussetzung genauso undenkbar. „Was fangen wir mit diesem Widerspruch an?“

 

Marcuse sieht als Antwort: Aufklärung und Erziehungsarbeit. Förderung des politischen Bewusstseins. Darüberhinaus eine Überprüfung einiger lieb gewordener Begriffe. Dazu gehört derjenige der Machtübernahme. In einem Land wie den Vereinigten Staaten das Pentagon besetzen und eine neue Regierung einsetzen zu wollen, dürfte ein utopisches Bild sein. Was dagegen für Marcuse anzustreben ist, ist eine diffuse und weitreichende Desintegration des Systems. Der zweite Begriff, den es zu überprüfen gilt, ist die Rolle der Arbeiterklasse. Immer mehr hochqualifizierte lohnabhängige Angestellte und Techniker haben im materiellen Produktionsprozess eine entscheidende Position inne. Über die traditionelle Industriearbeiterklasse sind neue Arbeiterklassen entstanden die das Spektrum der Ausgebeuteten erweitern.

Marcuse plädiert dafür, anstatt einer grossen zentralisierten Bewegung lokales und regionales politisches Handeln gegen bestimmte Missstände zu initiieren, dazu sollen Unruhen, Ghettoaufstände usw. gehören. Diese Gruppen sollen an vielen Stellen zugleich aktiv sein, eine Art politischer Guerillabewegung im Frieden.

 

Hier lasse sich, freut sich Martin Büsser in der sozialistischen Jungen Welt, „ein Denker entdecken, der gar nicht anders als radikal links interpretiert werden kann“. Es sei der brauchbarste unter den nachgelassenen Schriften, weil sich hier konkrete Stellungnahmen zu politischen Ereignissen finden, die in dem Maße nie Eingang in Marcuses „offizielle“ Schriften gefunden haben. Umgekehrt gibt Gottfried Oy in der Frankfurter Rundschau zu bedenken, dass es das Schicksal von Intellektuellen, die sich zu stark an soziale Bewegungen binden, ist, „nach dem Abebben dieser Bewegungen in Vergessenheit zu geraten“. Allerdings im Falle Marcuses zu Unrecht, „wie etwa seine hochaktuellen Analysen zur Intellektualisierung und Immaterialität der Arbeit“ zeigten. Und in der Süddeutschen Zeitung meinte Tim B. Müller, Marcuse gehöre zu denjenigen, „deren Nachleben beginnt, wenn keiner mehr mit ihnen rechnet.