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Whitehead

 

 

WHITEHEAD

 

Kulturelle Symbolisierung

 

Das große Interesse an Whiteheads Philosophie richtete sich bislang vornehmlich auf seine Prozessmetaphysik, und zwar so wie sie in ihrer differenziertesten Form in Prozess und Realität entwickelt wurde. Die Schrift Kulturelle Symbolisierung blieb dagegen weitgehend unbeachtet. Dennoch ist sie für ein Verständnis von Whiteheads Philosophie sowie auch für die Ausarbeitung  einer symboltheoretischen Kulturphilosophie von großer Bedeutung. Sie enthält die Ausarbeitung dreier Vorlesungen, die Whitehead im April 1927 als Barbour-Page-Lectures an der University of Virginia gehalten hat. 1927 wurde sie erstmals unter dem Titel Symbolismen. Its Meaning and Effect veröffentlicht. Nun hat Rolf Lachmann sie ins Deutsche übersetzt und herausgegeben:

 

Whitehead, Alfred North: Kulturelle Symbolisierung. 147 S., kt., € 8.50, 2000, stw 1497, Suhrkamp, Frankfurt.

 

Wie Lachmann in seiner ausführlichen Einleitung ausführt, besteht Whiteheads Absicht darin, die für das Leben aller hoch entwickelten Organismen und vor allem die für den Menschen wesentliche Symbolisierung in ihrer Verankerung in der Wahrnehmung deutlich zu machen, und zwar ausgehend von der Position, dass unsere Wahrnehmung weitaus mehr als lediglich Sinnesdaten umfasst, ja dass diese letzteren von sekundärer Relevanz sind.

 

Während des europäischen Mittelalters dominierten Symbolismen die Vorstellungen der Menschen. Die Architektur war symbolisch, die Zeremonien waren symbolisch, die Heraldik war symbolisch. Mit der Reformation setzte ein gegenläufiger Trend ein. Die Menschen konzentrierten sich nun auf die direkte Erfassung der grundlegenden Tatsachen. Symbolisierungen dieser Art stehen jedoch am Rande des alltäglichen Lebens. Es gibt grundlegendere Typen von Symbolismen,  ohne die wir  nicht leben können. Die geschriebene oder gesprochene Sprache ist solch ein Symbolismus. Das Wort ist ein Symbol, und seine Bedeutung wird durch die Ideen, Vorstellungen und Emotionen, die es im Geist des Hörers hervorruft, konstituiert. Daneben gibt es eine andere, ausschließlich geschriebene Art der Sprache, die aus den mathematischen Symbolen der Wissenschaft der Algebra besteht. Aber es gibt einen weiteren Symbolismus, der noch fundamentaler ist als die eben beschriebenen. Wir schauen auf, sehen eine farbige Gestalt vor uns und sagen: Das ist ein Stuhl. Aber was wir gesehen haben, ist nichts anderes als eine farbige Gestalt. Dieser Symbolismus von Sinnes-Präsentationen zu physischen Körpern ist der natürlichste und der am weitesten verbreitete aller symbolischen Modi.

 

In Symbolismen geht es weitgehend um die Verwendung von Sinnes-Wahrnehmungen in ihrer Eigenschaft als Symbole für primitivere Ele­mente in unserer Erfahrung. Dabei gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Symbolisierung und direktem Wissen. Direktes Wissen ist unfehlbar. Was man erfahren hat, hat man erfahren. Aber Symbolisierungen sind in dem Sinne sehr irrtumsbehaftet, dass sie Handlungen, Gefühle, Emotionen und Meinungen über Dinge hervorrufen können, die bloße Vorstellungen sind. Erfolgreiche hoch entwickelte Organismen sind nur unter der Bedingung möglich, dass ihre symbolischen Arbeitsweisen normalerweise hinsichtlich wichtiger Angelegenheiten gerechtfertigt sind. Der menschliche Geist arbeitet dann symbolisch, wenn einige Komponenten seiner Erfahrung Bewusstsein, Annahmen, Emotionen und Verwendungsweisen bezüglich anderer Komponenten seiner Erfahrung hervorrufen. Die erstgenannte Menge von Komponenten sind die „Symbole“, und die zweitgenannte Menge von Komponenten bildet die „Bedeutung“ der Symbole. Das organische Funktionieren, aufgrund dessen ein Übergang vom Symbol zur Bedeutung stattfindet, wird als „symbolische Referenz“ bezeichnet. Letztere ist das aktive synthetische Element, das von dem Wahrnehmenden beigesteuert wird. Auf diese Weise wird dem Wahrnehmenden eine Aktivität in der Erzeugung seiner eigenen Erfahrung zugeschrieben. Zumindest für den Wahrnehmenden ist die Wahrnehmung eine interne Beziehung zwischen sich selbst und den wahrgenommenen Dingen.

 

In der Analyse muss die gesamte Aktivität, die in der Wahrnehmung der symbolischen Referenz involviert ist, dem Wahrnehmenden zugeschrieben werden. Die symbolische Referenz setzt das Bestehen einer Gemeinsamkeit zwischen Symbol und Bedeutung voraus, die ohne Berücksichtigung des realisierten Wahrnehmenden angegeben werden kann. Aber sie setzt auch eine bestimmte Aktivität des Wahrnehmenden voraus, die ohne Berücksichtigung des besonderen Symbols oder seiner besonderen Bedeutung betrachtet werden kann.

 

Warum sagen wir, dass das gesprochene    (oder geschriebene) Wort „Baum“ für uns ein Symbol für Bäume ist? Beide, das Wort selbst und die Bäume selbst, haben hinsichtlich des Eintretens in unsere Erfahrung denselben Stellenwert. Wenn man die Frage ab­strakt betrachtet, müsste es genauso vernünftig sein anzunehmen, dass Bäume das Wort „Baum“ symbolisieren, wie umgekehrt, dass das Wort „Baum“ Bäume symbolisiert. Es gibt in der Verwendung der Sprache eine doppelte Referenz: von den Dingen zu den Wörtern auf der Seite des Sprechers und von den Wörtern zurück zu den Dingen auf der Seite des Hörers. Wenn in einem Akt menschlicher Erfahrung eine symbolische Referenz vorliegt, so gibt es stets zwei Komponenten mit einer gewissen objektiven Beziehung zwischen ihnen, und diese Beziehung variiert in verschiedenen Fällen stark.

 

Unsere Wahrnehmung der äußeren Welt ist in zwei inhaltlich verschiedene Typen geteilt. Ein Typ ist die uns vertraute direkte Präsentation der gegenwärtigen Welt, die durch unsere Projektion unserer direkten Sinnesempfindungen entsteht. Es gibt keine reinen Sinnesempfindungen, welche zuerst erfahren und dann z. B. in unsere Füße als ihre Gefühle oder auf die gegenüberliegende Wand als ihre Farben „projiziert“ werden. Die Projektion ist ein integraler Bestandteil der Situation und genau so ursprünglich wie die Sinnesdaten. Wir nehmen nicht entkörperte Farbe oder entkörperte Ausdehnung wahr, sondern vielmehr die Farbe und die Ausgedehntheit der Wand. Die Erfahrungstatsache ist „Far­be dahinten auf der Wand für uns“. Daher sind Farbe und räumliche Perspektive abstrakte Elemente, die die konkrete Art charakterisieren, in der die Wand in unsere Erfahrung eingeht. Sie sind daher relationale Elemente zwischen dem „Wahrnehmenden in jenem Moment“ und jener anderen gleichermaßen aktualen Entität oder Menge von aktualen Entitäten, die wir die „Wand in jenem Moment“ nennen. Das Wort „Erfahrung“ ist daher eines der trügerischsten Worte in der Philosophie. Unsere Erfahrung hat drei wichtige unabhängige Modi, die jeweils ihren Anteil von Komponenten zum individuellen Entstehen eines konkreten Moments menschlicher Erfahrung beitragen. Zwei davon sind perzeptiv, der dritte ist der Modus der begrifflichen Erfahrung. Von den ersten beiden nennt Whitehead den einen Modus der „präsentativen Unmittelbarkeit“, den anderen Modus der „kausalen Wirksamkeit“. Beide führen in die menschliche Erfahrung Komponenten ein, die wieder in aktuale Dinge der aktualen Welt und in abstrakte Attribute, Qualitäten und Relationen unterschieden werden können. Sie „objektivieren“ die für uns aktualen Dinge in unserer Umgebung. Der eine Modus „objektiviert“ aktuale Dinge unter dem Anschein präsentativer Unmittelbarkeit. Der andere „objektiviert“ sie unter dem Anschein kausaler Wirksamkeit. Die synthetische Aktivität, durch die die zwei Modi in eine Wahrnehmung verschmolzen werden, bezeichnet Whitehead als „symbolische Referenz“. Durch sie werden die verschiedenen Aktualitäten, die in den zwei Modi auf jeweils verschiedene Weisen erschlossen werden, entweder identifiziert oder zumindest als in unserer Umgebung aufeinander bezogene Elemente korreliert. Das Ergebnis ist, was die aktuale Welt für uns ist.

 

Der Grund, weswegen niedrig entwickelte Organismen keine Irrtümer begehen, besteht nicht primär darin, dass sie nicht denken, sondern dass sie keine Wahrnehmungen im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit haben. Darunter versteht Whitehead das, was man üblicherweise als „Sinnes-Wahrneh­mungen“ bezeichnet. Präsentative Unmittelbarkeit ist unsere unmittelbare Wahrnehmung der gleichzeitigen äußeren Welt, die als ein konstitutives Element unserer eigenen Erfahrung erscheint. Diese Erscheinung wird be­wirkt durch die Vermittlung von Qualitäten wie z.B. Farben, Geräusche usw., die mit demselben Recht entweder als unsere Sin-

 

nesempfindungen oder als die Qualitäten der aktualen Dinge, die wir wahrnehmen, beschrieben werden können. Diese Qualitäten sind relational zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und den wahrgenommenen Dingen. Sie können daher nur dadurch isoliert werden, dass sie von ihren Implikationen im Schema der räumlichen Relationen der wahr­genommenen Dinge zueinander und zum wahrnehmenden Subjekt abstrahiert werden. Die Relationalität räumlicher Ausdehnung ist ein vollständiges Schema, das neutral zwischen dem Beobachter und den wahrgenommenen Dingen besteht. Es ist das Schema der Morphologie der komplexen Organismen, die die Gemeinschaft der gleichzeitigen Welt ausmachen. Die Art, in der jeder aktuale physische Organismus in die Beschaffenheit seiner Zeitgenossen eingeht, muss sich diesem Schema anpassen. Die wichtigsten Charakteristiken der präsentativen Unmittelbarkeit sind:

 

¢ die einbezogenen Sinnesdaten hängen von dem wahrnehmenden Organismus und seinen räumlichen Relationen zu den wahrgenommenen Organismen ab;

¢ die gleichzeitige Welt erscheint als ausgedehnt und als ein Plenum von Organismen,  und

¢ die präsentative Unmittelbarkeit ist ein wichtiger Faktor in der Erfahrung nur weniger hoch entwickelter Organismen.

 

Die Einstellung der Menschheit gegenüber der Symbolisierung zeigt eine instabile Mischung aus Anziehung und Abneigung. Nüchtern kalkulierende Menschen wollen nicht Symbole, sondern Tatsachen. Ein klarer theoretischer Ver­stand mit seinem großen Enthusiasmus für die exakte Wahrheit um jeden Preis fegt Symbole als bloße Täuschungen beiseite. Die Symbolisierung ist jedoch der Textur des menschlichen Lebens inhärent. Die symbolischen Elemente wie­der­um haben im Leben eine Tendenz zum Wildwuchs, ähnlich der Vegetation in einem tropischen Wald. Ein kontinuierlicher Prozess des Beschneidens und des Anpassens an eine Zukunft, die immer neuer Formen des Ausdrucks bedarf, ist in jeder Gesellschaft eine notwendige Aufgabe. Die erfolgreiche Anpassung aller Symbole an Änderungen der sozialen Struktur ist das höchste Zeichen von Weisheit in der gesellschaftlichen Staatskunst.