PhilosophiePhilosophie

PHILOSOPHISCHE PRAXIS

Donata Romizi:
Philosophische Praxis – Eine Standortbestimmung

aus: Heft 4/2019, S. 86-93
 
 
Was ist Philosophische Praxis?
 
Die Philosophische Praxis – 1981/82 von Gerd Achenbach mit diesem Namen institutionalisiert, aber im Grunde schon immer Teil der Philosophie – ist mittlerweile fast 40 Jahre alt. Sie umfasst zwei Hauptbereiche: die philosophische Beratung und das Philosophieren in der Öffentlichkeit bzw. mit „Laien“. In diesem zweiten Sinne fungiert mittlerweile „Philosophische Praxis“ als eine hilfreiche Sammelbezeichnung, um auch Formen des Philosophierens unter ein Dach zu bringen, die unabhängig vom Achenbachschen Konzept entstanden – wie z. B. das Philosophieren mit Kindern, das Philo-Café oder das Neo-Sokratische Gespräch. Schließlich gehört zum Philosophieren in der Öffentlichkeit auch das Verfassen von philosophischen Büchern, die den Anspruch haben, allgemeinverständlich aber nicht oberflächlich zu sein.
 
In einer solchen systematischen Ordnung hat sich mittlerweile gut herauskristallisiert, was eine Philosophin oder ein Philosoph anbieten kann, die/der freiberuflich arbeiten will. Der Natur der Philosophie gemäß herrscht allerdings unter Philosophie-Praktiker*innen noch viel Uneinigkeit bezüglich des „Wie“: Wie eine philosophische Beratung zu führen sei, welcher Ansatz beim Philosophieren mit Kindern am sinnvollsten sei, wie aus einem Meinungsaustausch im Kaffeehaus ein philosophisches Gespräch werden soll usw. Es bleibt außerdem noch viel Freiraum, um neue Formen der Philosophischen Praxis zu konzipieren, zu praktizieren und zu überprüfen – was den Reiz dieser Philosophierichtung ausmacht. Denn es stellen sich dabei auch immer wieder Fragen, deren Grundsätzlichkeit ein philosophischer Geist lieben muss: Was ist Philosophie? Wie ist Philosophie als Praxis zu denken? Wie verhält sich die Philosophische Praxis zur Ethik? Welche Formen der Philosophischen Praxis sind genuin philosophisch? Was macht ein philosophisches Gespräch aus? Welches Menschenbild steckt darin? Usw.
 
Philosophische Praxis international
 
Nicht nur hat die Philosophische Praxis in den letzten Jahrzehnten an Konturen gewonnen, sie hat sich auch weltweit etabliert. Fast überall in Europa, in Süd- wie in Nordamerika, in Japan, in Korea, in Indien, in Israel usw. existieren nationale und transnationale Vereine und Gesellschaften für Philosophische Praxis. Mittlerweile kann von einer lebendigen internationalen community gesprochen werden, die seit 1994 alle zwei Jahre an stets wechselnden Orten auf einem Weltkongress (International conference on philosophical practice, ICPP) zusammenkommt. Die letzten Weltkongresse haben z. B. in Belgrad, in Bern und in Mexico City stattgefunden; der nächste wird 2020 in Moskau abgehalten werden. Auch gibt es für den theoretischen Austausch unter Praktiker*innen etablierte peer-reviewed journals, wie z.B. HACER oder die Journal of the American Philosophical Practitioners Association sowie die Jahrbücher der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis. Die internationale Webseite The Philo-Practice Agorabietet ebenfalls einen Raum für den Austausch der Philosophie-Praktiker*innen weltweit, sowie einen guten Einblick über die Vielfalt ihrer Ansätze und Tätigkeiten.
 
„Schulen“ in der Philosophischen Praxis
 
Ein klares Zeichen dafür, dass sich die Philosophische Praxis als Disziplin etabliert, ist die Entstehung von „Schulen“ – ähnlich wie z.B. in der Psychotherapie. Rund um eine bekannte Persönlichkeit bildet sich eine Gruppe, die nach einer spezifischen, erkennbaren Methode arbeitet, und die ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickelt. Die Schule tendiert dann dazu, den Anspruch zu erheben, die „echte“ Philosophische Praxis anzubieten – was in der meistens offenen und dialogorientierten community der Philosophie-Praktiker*innen mit Skepsis begegnet wird und ohnehin zu Streiten zwischen Schulen führt. Eine kurze Beschreibung von zwei Hauptschulen mag jedenfalls zeigen, wie breit das Spektrum der Auffassungen der Philosophischen Praxis ist.
 
 
Eine Schule ist jene des französischen Philosophie-Praktikers Oscar Brenifier. In seiner Philosophieauffassung kommt dem Philosophieren als Tätigkeit eine absolute Priorität gegenüber der Philosophie als Theorie und Tradition zu. Das Philosophieren besteht hierbei im Üben bestimmter Fähigkeiten im Blick auf die Entwicklung einer philosophischen Haltung und Lebensform. Die Fähigkeiten, die trainiert werden, sind hauptsächlich logische, argumentative, analytische, kritische und selbstkritische: Brenifier knüpft auf seine Weise an die sokratische Tradition des Überprüfens der Meinung an und führt sehr eng getaktete Gespräche, in denen die Behauptungen des Gegenübers "gnadenlos" und fern von jeglichem Versuch eines hermeneutischen Verstehens oder einer empathischen Teilhabe auf ihre argumentative Konsistenz und Klarheit geprüft werden. Der spezifische Inhalt des Gesprächs wird dabei meistens nebensächlich. Die Inhalte und die Fragen bieten vielmehr bloß die Materie, an der das Denken und die Haltung geübt werden - wobei die Art und Weise, wie die Gesprächspartner auf seine Überprüfung reagieren, von Brenifier im existentiellen Sinne gedeutet wird. Brenifier hat lange vor allem mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet und in diesem Bereich viele Bücher publiziert, die in viele Sprachen übersetzt wurden und weltweit bekannt sind. Seit einiger Zeit haben er und seine Schüler*innen das Tätigkeitsfeld des Philosophierens in Unternehmen für sich entdeckt und sind auch in diesem (finanziell ergiebigeren) Bereich tätig.
 
Eine weitere, gut identifizierbare Schule ist jene des israelisch-amerikanischen Philosophie-Praktikers Ran Lahav, der zusammen mit der peruanischen Praktikerin Carmen Zavala die schon erwähnte Webseite The Philo-Practice Agora pflegt. Lahav war unter den ersten Philosophen, die den Impuls von Achenbach rezipierten, und er organisierte gemeinsam mit Lou Marinoff den ersten Weltkongress für Philosophische Praxis (1994, University of British Columbia, Vancouver). Lahav ist auch einer der ersten Philosophen, die eine eigene, originelle Theorie (und Praxis) der philosophischen Beratung entwickelt haben. Seit einiger Zeit hat er sich aber weg von der philosophischen Beratung hin zu einer Praxis des Philosophierens in Gruppen (philosophical companionships) bewegt. Grund dafür ist eine Philosophieauffassung, die als wesentlichen Zug der Philosophie den Ruf nach einer radikalen Änderung der Weltanschauung und der Lebensform sieht. Dementsprechend kann es in der Philosophischen Praxis laut Lahav nicht um die banalen, alltäglichen Probleme gehen, mit denen Menschen üblicherweise in die Beratung kommen. Die Philosophie kann ihre einzigartige „transformative Kraft“ am besten entfalten, wenn wir sie selbst – und zwar in Form philosophischer Texte – als Ausgangspunkt nehmen und uns ansprechen lassen. Folglich haben Lahav und seine Schüler*innen strukturierte Arbeitsweisen an Texten erarbeitet, die ermöglichen sollen, philosophische Texte in einer Gruppe zu meditieren, sprechen zu lassen und schließlich mit der eigenen Erfahrung in Resonanz zu bringen – wobei diese konzentrierte, gemeinsame Arbeit im Idealfall auch eine Resonanz unter den Teilnehmer*innen der Gruppe bewirken soll.
 
„Richtungen“ in der Philosophischen Praxis
 
Neben regelrechten Schulen sind auch allgemeine Richtungen in der Philosophischen Praxis identifizierbar (die keineswegs Schulen sind), innerhalb derer verschiedene Praktiker*innen unterschiedlich und unabhängig voneinander arbeiten.
 
Eine Richtung könnte man als „paideutisch“ bezeichnen. Es geht um die Idee der (Selbst)Bildung des Menschen durch die philosophische Arbeit. Da der Mensch dabei ho-listisch betrachtet wird, liegt dieser Philosophieauffassung ein Vernunftbegriff zugrunde, der weit über das logisch-argumentative Vermögen hinausgeht. Ein solcher wurde und wird z.B. vom spanischen Philosophie-Praktiker und Philosophieprofessor an der Universität Sevilla, José Barrientos-Rastrojo, entwickelt. Barrientos arbeitet wiederum viel auch mit Philosophie-Praktiker*innen aus Lateinamerika. Hier ist die Philosophische Praxis weit verbreitet und nimmt meistens pädagogische Züge an, denn Philosoph*innen leisten teilweise harte Arbeit im Zusammenhang mit der Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen aus schwierigen sozialen Milieus.
 
Nicht pädagogisch, aber wohl im Sinne der Philosophie als (Selbst)Bildung arbeiten andere Philosophie-Praktiker*innen wie Lydia Amir, Heidemarie Bennent-Vahle, Thomas Gutknecht, Guro Hansen Helskog und Michael Noah Weiss – um einige Beispiele zu nennen.
 
Auch eine "phänomenologische" Richtung kann identifiziert werden, bei der das (auch leibliche) Erleben und die vortheoretische Erfahrung einen zentralen Bezugspunkt der Philosophischen Praxis bilden. Anders Lindseth und Ute Gahlings sind in diesem Rahmen unbedingt zu erwähnen, da sie im Zusammenhang mit ihren praktischen Ansätzen auch eine sehr solide theoretische Arbeit vorgelegt haben.
 
Jenseits von Schulen und Richtungen ist die Arbeitsweise der Philosophie-Praktiker*innen vielfältig wie die Philosophie selbst, denn jede/r geht vom eigenen philosophischen Hintergrund aus. Auffällig ist, dass in der letzten Zeit immer mehr Frauen die Arbeit in und an der Philosophischen Praxis weiterentwickeln (die erste Generation der Philosophie-Praktiker war sehr stark von Männern dominiert): Neben den schon erwähnten Philosophie-Praktikerinnen muss man mit Bezug auf den deutschsprachigen Raum zumindest noch Cornelia Bruell, Lisz Hirn, Natalie Knapp, Katharina Lacina, Dietlinde Schmalfuß-Plicht und Ina Schmidt als Beispiele von Philoso-phinnen erwähnen, die die Philosophische Praxis in Schrift und Tat kräftig vorantreiben.
 
Philosophische Praxis im deutschsprachigen Raum
 
Im deutschsprachigen Raum gibt es inzwischen mehrere solide Institutionen, die die Sorge um die zukünftige Entwicklung der Philosophischen Praxis tragen. In Deutschland befindet sich der Sitz der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP), die gerade eine Phase der schwungvollen Erneuerung durchlebt – wie nicht zuletzt ihre neue Webseite veranschaulicht. Außerdem gibt es seit einigen Jahren einen Berufsverband für Philosophische Praxis (BV-PP), der nicht nur einen Bildungsgang und eine Akademie zur Philosophischen Praxis anbietet, sondern auch eine wertvolle Arbeit in Hinblick auf die Klärung des Berufsprofils und des Berufsethos leistet. Nicht zu vergessen ist, dass Gerd Achenbach selbst nach wie vor sehr aktiv ist, auch im Rahmen der von ihm geleiteten Gesellschaft für Philosophische Praxis.
 
In Österreich bietet seit 2014 die Universität Wien (die größte Hochschule im deutschsprachigen Raum) unter der wissenschaftlichen Leitung von Konrad P. Liessmann einen Universitätslehrgang als (Aus)Bildung zur Philosophischen Praxis an - in Kooperation mit dem ältesten österreichischen Verein der Philosophie-Praktiker, der Gesellschaft für angewandte Philosophie (mehr dazu unten). Einige Alumni des Universitätslehrgangs haben außerdem den Kreis akademisch philosophischer Praktiker/innen gegründet, dessen Namen auf ihr Alleinstellungsmerkmal (die akademische (Aus)Bildung) verweist.
 
In der Schweiz ist das Netzwerk philo praxis.ch ein überwiegend deutschsprachiger Verein mit Mitgliedern aus der Deutschschweiz, der Romandie, dem Tessin und Deutschland. Mit der Mehrsprachigkeit des Landes ringen die Schweizer Philosophie-Praktiker*innen einerseits; andererseits kann dieses Merkmal wohl auch eine Ressource bilden – wie der gelungene Weltkongress in Bern 2016 gezeigt hat.
 
Probleme in der Philosophischen Praxis
 
Im deutschsprachigen Raum und generell sind Philosophie-Praktiker*innen mit einigen Problemen und Herausforderungen konfrontiert.
Das erste gravierende Problem besteht in den vielen pseudophilosophischen Tätigkeiten, Angeboten und Initiativen, die zwar als Philosophische Praxis, Philosophieren in der Öffentlichkeit oder philosophische Beratung präsentiert werden, allerdings keine genuin philosophische Qualität besitzen. Einige sind einfach schlecht. Andere sind nicht unbedingt schlecht, haben aber mit Philosophie wenig zu tun. Es gibt sicherlich viele Menschen, die ein hilfreiches Gespräch mit anderen Menschen führen können, ohne dass dieses Gespräch ein philosophisches wäre. Es gibt auch Menschen, die anhand einer mehr oder weniger philosophischen Frage ein lebendig diskutierendes Publikum wunderbar unterhalten können und dabei jeglicher genuin philosophischen Qualität entbehren. Wenn solche Tätigkeiten als „philosophisch“ bezeichnet werden, verliert das Konzept der Philosophischen Praxis an Glaubwürdigkeit – in primis in den Augen der Philosoph*innen.
 
Einige Philosophie-Praktiker der ersten Generation teilten die Hoffnung, dass der Markt selbst für die Qualität der Philosophischen Praxis sorgen wird, indem „Pseudo-Philosophie-Praktiker*innen“ aufgrund der mangelnden Qualität ihrer Arbeit schnell wieder vom Markt verschwinden würden. Dies scheint aber nicht unbedingt der Fall zu sein. Auch jemand, der keine philosophische Qualität anbietet, kann Klient*innen finden, wenn diese meinen, das Angebot hätte ihre Bedürfnisse gut erfüllt: Ob die Praxis nun genuin philosophisch war, können Nicht-Philosoph*innen ohnehin schwer einschätzen. Ebenso wenig gilt, dass Philosophie-Praktiker*innen, die gute philosophische Arbeit leisten, auf dem Markt unbedingt reüssieren. Es sind zusätzlich gute unternehmerische Fähigkeiten notwendig, um z.B. der Konkurrenz von großen Philosophiefestivals, Fernsehsendungen und anderen großen Veranstaltungen und Unternehmen nicht zu unterliegen. Zwar boomt zurzeit die „Philosophie für jedermann“, aber weder handelt es sich immer wirklich um (gute) Philosophie noch sind gute Philosophie-Praktiker*innen unbedingt daran mitbeteiligt.
 
Das Problem der Qualitätssicherung
 
Das Problem der „Qualitätssicherung“ lässt sich nicht dadurch lösen, dass die guten Philosophie-Praktiker*innen sich darüber einigen, was als „genuin philosophisch“ gelten soll. Abgesehen von der Zirkularität, die sich ergäbe, wenn man entscheiden müsste, wer die „guten“ Philosophie-Praktiker*innen sind (denn das Qualitätskriterium müssten sie erst dann liefern), ist gerade die Frage, was „genuin philosophisch“ sei, eine der umstrittensten in der community. Vor allem denken nicht wenige Philosophie-Praktiker*innen, dass es höchst unphilosophisch wäre, diesbezüglich einen Konsens erzwingen zu wollen.
 
Es gibt aber andere Möglichkeiten, dem Problem zu begegnen. Ich möchte hier zwei nennen; beide gehen davon aus, dass ein philosophisches Arbeiten nur unter der Voraussetzung der Kenntnis philosophischer Traditionen (Wissen und Methoden) möglich ist. Das ist nicht selbstverständlich, denn es gibt auch Philosophie-Praktiker*innen, die von einer spezifischen Philosophieauffassung ausgehen, auf dieser Basis lernbare Ansätze und Methoden entwickeln und schließlich meinen, dass auch Nicht-Philosoph*innen damit als Philosophie-Praktiker*innen arbeiten können - selbst in Unkenntnis der (restlichen) philosophischen Tradition.
 
Die erste Möglichkeit, um für philosophische Tiefe zu sorgen, entspricht einem Vorschlag von Leon de Haas [1, 14-15]: Ein*e Philosophie-Praktiker*in arbeitet erst dann genuin philosophisch, wenn er/sie auf eine für andere Philosoph*innen nachvollziehbare Weise zeigen kann, wie sein/ihr Ansatz an die philosophische Tradition anknüpft. Das entspricht dem klassischen philosophischen Gestus des „Rechenschaft-Gebens“, oder der justification. Es ist üblich und verständlich, dass ein*e Philosophie-Praktiker*in nur an bestimmte Autor*innen, Richtungen oder Methoden der Philosophie anknüpft. Den Anspruch der justification wird er/sie aber nur mittels einer soliden und umfangreichen philosophischen Kompetenz erfüllen können. Wenn nun andere Menschen ohne eine ähnliche philosophische Kompetenz den selben Ansatz bloß als Technik lernen und ihrerseits anwenden, sind sie damit noch lange keine Philosophie-Praktiker*innen, denn ohne solide Philosophiekenntnisse kann man wohl keine Philosophie „praktizieren“.
 
Die andere Möglichkeit, um für philosophische Qualität zu sorgen, betrifft die (Aus)Bildung der Philosophie-Praktiker*innen. Eine gute und umfassende philosophische (Aus)Bildung scheint eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung zu sein, um „genuin philosophisch“ arbeiten zu können. In der Regel kann gegenwärtig nur an Universitäten eine umfassende philosophische (Aus)Bildung erworben werden. Zwar ist ein akademisches Philosophiestudium noch mangelhaft in Bezug auf die Philosophische Praxis - zumal die akademische Philosophie die Philosophie nur als Wissenschaft pflegt [2, 14]: Es bleibt aber unwahrscheinlich, dass ein*e Philosophie-Praktiker*in ohne Philosophiestudium genuin philosophisch und gut im Sinne der Philosophie arbeiten kann (es gibt natürlich Ausnahmen, die aber - eben - solche sind). Die Tatsache, dass es immer noch viele Philosophie-Praktiker*innen ohne akademische philosophische (Aus)Bildung gibt, zeigt auch einen immer noch bestehenden Mangel in der Professionalisierung der Philosophischen Praxis (immerhin entstand die Philosophische Praxis auch als Anspruch, Philosophie als freien Beruf pflegen zu können). Es gibt wohl keine Anwälte, die kein Jurastudium oder Ärzte, die kein Medizinstudium haben. Ich habe oft Mediziner*innen gehört, die darüber klagten, dass ihr Medizinstudium sie nicht gut auf die ärztliche Praxis vorbereitet habe. Niemand von ihnen hat aber je behauptet, er/sie könne auch ohne Medizinstudium Arzt/Ärztin sein. Ähnlich ist ein Philosophiestudium notwendig, um als Philosoph*in freiberuflich gut arbeiten zu können, auch wenn es meistens keine hinreichende Vorbereitung auf die Praxis bietet. Eine zusätzliche spezifische (Aus)Bildung wäre dann vonnöten: Eine solche bieten derzeit im deutschsprachigen Raum die Universität Wien, der Berufsverband für Philosophische Praxis und Gerd Achenbach.
 
Die Ablehnung im akademischen Kontext
 
Ein weiteres großes Problem, das mit dem Thema (Aus)Bildung zusammenhängt und im deutschsprachigen Raum besonders ausgeprägt ist, ist die zugleich unbegründete und verbreitete Ablehnung der Philosophischen Praxis im akademischen Kontext. Während es z.B. in Italien zwei etablierte universitäre postgraduale (Aus)Bildungsprogramme gibt, die auf der Kooperation zwischen Universität und Philosophie-Praktiker*innen basieren (Universität Venezia, Universität Roma Tre), ist die Philosophische Praxis an deutschsprachigen Universitäten sehr wenig präsent, und die Universitäten zeigen sich an einer Kooperation mit Philosophie-Praktiker*innen nicht interessiert - nicht einmal, wenn sie im Bereich der Philosophie praxisorientierte Curricula aufbauen (Philosophie und Management, Ethik für Mediziner usw.). Das überrascht nicht, besteht doch gegenüber der Philosophischen Praxis im deutschsprachigen universitären Milieu oft eine gewisse Geringschätzung. Nun mag der Grund in der vorhin erwähnten Problematik des verbreiteten Dilettantismus liegen, aber es kam bisher von akademischer Seite auch kaum eine ausformulierte Kritik am Konzept der Philosophischen Praxis, eine, die im philosophischen Sinne dieses Namens würdig wäre, eine, die Möglichkeiten und Grenzen des Konzeptes gründlich reflektiert und auch über den Tellerrand der empirischen aktuellen Realität zu sehen imstande ist. Somit entsteht ein Teufelskreis, denn das aktuelle Problem des Dilettantismus kann ohne den Beitrag der Universitäten noch weniger gelöst werden.
 
Die meisten Universitätsprofessor*innen der Philosophie scheinen im Unterschied zu ihren Kolleg*innen aus anderen Disziplinen nicht zu glauben, dass ihre Studierenden mit dem gelernten Wissen und mit den gelernten Kompetenzen auch außerhalb des akademischen Kontextes etwas anfangen können - nämlich beruflich. Sie scheinen nicht zu glauben, dass jemand, der Philosophie studiert hat, anderen Menschen etwas anzubieten hat. Eine self-fulfilling prophecy? Auch kommen sie nicht auf die Idee, sich mit Philosophie-Praktiker*innen auszutauschen, wenn sie akademisch über lebensnahe Themen arbeiten, z.B. um zu erfahren, was sich in philosophischen Gesprächen über Tod, Verlust, Liebe, Arbeit zeigt. Hier scheint die empirische Realität für sie wieder uninteressant zu werden.
 
Philosophische Praxis trifft auf akademische Philosophie: der Wiener Universitätslehrgang
 
Seit 2014 existiert an der Universität Wien der Universitätslehrgang "Philosophische Praxis" als einzige akademische (Aus)Bildung zur Philosophischen Praxis im deutschsprachigen Raum. Die Gründung und erfolgreiche Entwicklung des Universitätslehrgangs ist das Resultat einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Universität und Philosophie-Praktiker*innen, insbesondere den österreichischen Praktiker*innen der Gesellschaft für angewandte Philosophie, mit der die Universität Wien einen Kooperationsvertrag geschlossen hat. Geleitet, koordiniert und begleitet wird der Universitätslehrgang von Konrad P. Liessmann (wissenschaftliche Leitung), Donata Romizi (wissenschaftliche Koordination) und einem wissenschaftlichen Beirat, zu dem u.a. Gerd Achenbach und Thomas Macho gehören. Der Universitätslehrgang ist ein 2-jähriges, berufsbegleitendes, postgraduales Bildungsprogramm, das i.d.R. ein schon abgeschlossenes Philosophiestudium voraussetzt. Ausnahmen sind nur dann möglich, wenn der/die Bewerber*in über genügend Philosophiekenntnisse verfügt (z.B. durch ein anderes geisteswissenschaftliches Studium) und sich dazu verpflichtet, ein zusätzliches philosophisches Programm (samt entsprechenden Prüfungen) parallel zum Universitätslehrgang und vor dessen Ende zu absolvieren. Im Universitätslehrgang unterrichten sowohl akademische Philosoph*innen als auch (österreichische und internationale) Philosophie-Praktiker*innen - manchmal im Teamteaching.
 
Hinter der Gründung des Universitätslehrgangs standen drei hauptsächliche Absichten: Erstens soll er als Qualitätssicherungsmaßnahme dem Dilettantismus im Berufsfeld Philosophische Praxis entgegenwirken. Zweitens wird der Universitätslehrgang als Chance gesehen, um den Austausch zwischen Philosophischer Praxis und akademischer Philosophie zu fördern. Drittens soll ausgebildeten Philosoph*innen die Möglichkeit geboten werden, ihre Berufschancen und Arbeitsweisen zu erweitern.
 
Angesichts des geringen Ansehens, das die Philosophische Praxis im deutschsprachigen akademischen Milieu genießt, war die Entscheidung der Universität Wien mutig, dieses Projekt und die entsprechende Pionierarbeit zu unterstützen - und sich dabei auf eine Kooperation mit den Philosophie-Praktiker*innen einzulassen. Zugleich war diese Entscheidung in Hinblick auf die Sorge um die Erweiterung der Berufschancen der akademischen Philosoph*innen verantwortungsvoll sowie mit der Selbstverpflichtung der Universität Wien zur so genannten "Third mission" kohärent. Mit diesem Ausdruck wird das Bemühen von Hochschulen bezeichnet, die hier gewonnenen und gepflegten Erkenntnisse auch für Gesellschaft und Öffentlichkeit zugänglich und fruchtbar zu machen - was auch ein Hauptanliegen der Philosophischen Praxis ist.
 
Die Zusammenarbeit zwischen Universität und Philosophie-Praktiker*innen war (und ist immer noch) eine Herausforderung für beide Seiten: Sie verlangt Mut, Geduld, Anpassungsfähigkeit und die Bemühung darum, dem jeweils Anderen verständnisvoll und neugierig zu begegnen. Allein die Planung des Universitätslehrgangs hat zwei Jahre in Anspruch genommen. Diese Arbeit trägt jetzt aber Früchte: Der Universitätslehrgang ist inzwischen weltweit bekannt, in der international community der Philosophie-Praktiker*innen eingebettet, und mit einigen internationalen Kooperationspartnern (der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis, der Universität Sevilla, der Universität Rom, der Universität Strathclyde / Glasgow) im Hinblick auf gemeinsame Projekte vernetzt. Er wird von Menschen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum besucht, die nach dem Abschluss entweder eine eigene Philosophische Praxis gründen oder das Gelernte in die eigenen beruflichen Tätigkeiten einfließen lassen. Die Bewerbungen für den aktuellen (3.) Zyklus sind im Vergleich zum vorigen um 50 % gestiegen und einige Alumnae und Alumni sind in der Philosophischen Praxis sehr erfolgreich unterwegs. Gewiss ist es immer noch ein gewagtes Unternehmen, eine Philosophische Praxis zu gründen und nur von dieser leben zu wollen. Aber die Fälle, in denen das gelingt, nehmen stetig zu - und diese Entwicklung hängt mit dem Thema der Qualitätssicherung sicherlich eng zusammen.
 
Die österreichische „Lebens- und Sozialberatung“
 
Abschließend, eine folkloristische und kafkaeske Note aus Österreich. In Österreich hat die eigentümliche Berufsgruppe der „Lebens- und Sozialberater*innen“ das Monopol über das philosophische Gespräch bezüglich lebensrelevanter Themen. Nur wer eine Ausbildung zur Lebens- und Sozialberatung abgeschlossen hat, darf ein solches philosophische Gespräch anbieten - nicht aber Philosoph*innen! Das verlangt die österreichische Gewerbeordnung. Die Ausbildung zur Lebens- und Sozialberatung setzt freilich weder eine philosophische (Aus)Bildung voraus noch enthält sie etwas Vergleichbares. Trotzdem ist das „philosophische Gespräch“ (genau so bezeichnet) eine der offiziellen Methoden der Lebens- und Sozialberater*innen. Diese Lage ist nicht nur grotesk, sondern ein aussagekräftiges Phänomen der Gegenwart: Jenes dialogische Nachdenken über die menschliche Erfahrung, das Leben, die Gesellschaft und die Welt, das jahrtausendelang Sache der Philosophie war, wird von „Lebensberater*innen“ (?!) und Psychotherapeut*innen für sich reklamiert. Somit ändern sich die Voraussetzungen und das Menschenbild, die einem solchen Nachdenken zugrunde liegen, völlig - mit Folgen, die aus philosophischer Perspektive zugleich interessant und unheimlich sind. Die akademische Philosophie schweigt übrigens auch dazu.
 
UNSERE AUTORIN:
 
Donata Romizi arbeitet an der Universität Wien als Senior Lecturer am Institut für Philosophie und als wissenschaftliche Koordinatorin des postgradualen Universitätslehrgangs „Philosophischen Praxis“.
 
Im Text genannte Literatur
 
(1) De Haas, L.: „An Essay on the Justification of Philosophical Practice“, in: De Haas,
Skeptical Interventions. A Critical View of Philosophical Practice, digital booklet 2018.
 
(2) Böhme, Gernot: Einführung in die Philosophie: Weltweisheit, Lebensform, Wissenschaft, Suhrkamp 1994