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ESSAY

Henrich, Dieter: Systemform und Abschlussgedanke Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken

Dieter Henrich:

Systemform und Abschlussgedanke

Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken

 

Spannungen in Kants Systemkonzeption

 Kants Werk lässt sich einem vielfältig gegliederten Kontinent vergleichen. Man kann eines seiner Gebiete durchforschen und sogar neu ordnen, ohne mit den anderen näher vertraut zu sein. Man kann auf diesem Kontinent auch von Land zu Land wandern und doch vom Umriss und Aufbau des Kontinents als Ganzem nur eine allgemeine Vorstellung in sehr großem Maßstab haben. Je höher die Ambitionen der Kantforschung, was historische und analytische Genauigkeit betrifft, aufgewachsen sind, um so mehr hat sie sich in diesem Sinne auch regionalisieren müssen. Das heißt nun nicht, dass die Gebiete der Kantischen Philosophie voneinander unabhängig sind. Kant hat die Philosophie vielmehr als System verstanden. Er erklärte sie sogar zu dem einzigen System im eigentlichen Sinn, weil von ihr her alle anderen Wissenschaften ihre systematische Einheit gewinnen. Dass es eine Hinsicht auf systematische Einheit gibt, welche die eigentümliche Ausbildung eines jeden Gebietes innerhalb des Kantischen philosophischen Kontinents ermöglicht, war deshalb auch niemals zu übersehen. Man kann ihr aber den eigenen Argumentationsgang unterordnen, ohne sie selbst noch zu einem eigenen Thema werden zu lassen. Kant selbst hat für eine derart eingeschränkte Orientierung auf das Grundsätzliche der kritischen Philosophie auch eine Anleitung vorgegeben: Jede Disziplin, die sich in Kantischer Untersuchungsart ausbildet, muss darauf ausgehen, die allgemeinen und notwendigen Bedingungen für einen Bereich von Wahrheits- oder Geltungsansprüchen in der Verfassung des Subjektes zu suchen, das sich unter solche Ansprüche stellt und in dem zugleich das seinen Ursprung hat, worauf sich solche Ansprüche beziehen. Auf dem so bestimmten Weg, der vom Ursprung einer Erkenntnisart den Ausgang nimmt, werden sowohl der Rechtsgrund und der Geltungsbereich als auch die innere Gliederung dieses Bereiches nach Prinzipien auszumachen sein.

Mit dieser Anleitung wird das System über seine Methode ins Spiel gebracht. Eine Methode ist, Kant zufolge, für jedes System konstitutiv, da es ohne sie nicht „nach überlegten Regeln abgefasst“ wäre und darum gar kein systematisches Ganzes ausmachen würde. Die Kantische Anleitung zum Gebrauch dieser Methode ist auch spezifisch genug, um innerhalb jedes Gebietes des Systems operativ werden zu können. Aber sie  bringt von dem, was das Ganze eines Systems ausmacht, eigentlich noch gar nichts in den Blick. Sie erlaubt es, jede Disziplin, die einen Platz in dem Ganzen des Systems hat, zu entfalten, ohne auf diesen seinen Platz durchgängig und derart Bezug nehmen zu müssen, dass durch diese Bezugnahme der Fortgang innerhalb der einzelnen Disziplin auch jederzeit mitbestimmt wird.

So gingen und gehen die Kantinterpretationen zwar allesamt von einem hinreichend genau gefassten Vorbegriff und von einem prägnanten Gesamteindruck des Kantischen Systems aus. Aber beides ist vereinbar damit, dass der Aufbau des Systems selbst in seinen Grundzügen nicht zur Deutlichkeit gebracht ist. Damit geht dann auch zusammen, dass Kant selbst kein Werk veröffentlicht hat, in dem der Aufbau des Systems sein eigentliches Thema gewesen ist. Zwar sagt er, dass in der Kritik der reinen Vernunft der Grundriss für das System entwickelt sei. Ziel des Werkes ist aber die Bestimmung der Grundlagen und der Grenzen von Erkenntnissen, die unabhängig von Erfahrungserkenntnissen möglich sind. In den folgenden moraltheoretischen Grundlegungswerken ist der Bezug auf das System dann noch weiter gelockert. Allein das unvollendete Nachlasswerk wäre seiner gesamten Anlage nach vermutlich von einer Intention geprägt gewesen, die auf das System als solches geht.

Dass sich regionalisierte Forschungsarbeiten mit einem hinreichend präzisen Kantischen Vorgriff unter einer liberalen und oftmals nur latenten Herrschaft eines Systemprogramms entfalten können, hat darum zum Komplement, dass die Verständigung über dieses Systemprogramm selbst unter Genauigkeitsmängeln leidet und von Zweifelsfragen bedrängt sein kann. Das hat wiederum zur Folge, dass die Prägnanz im ersten Gesamteindruck von Kants System unter dem Druck solcher Unbestimmtheiten ins Schwanken kommt. So wurde denn die  Bewegung zur Auffächerung der an Kant anschließenden Arbeiten in regionalisierte Schwerpunkte, die schon zu Kants Lebzeiten begann, von der gerade entgegengesetzten Bewegung begleitet, die darauf zielte, über das Kantische System als solches eine tiefere Aufklärung zu gewinnen.  Dabei gewannen alsbald die den Vorrang, die sich eine solche Aufklärung nur von einer Vertiefung der Kantischen Grundlegungsgedanken selbst versprechen konnten. Solche Vertiefungen haben sich dann aber stets auch als Verschiebungen und sehr bald auch als grundstürzende Veränderungen erwiesen. Viele der Initiatoren einer solchen Verschiebung haben zudem dahingehend argumentiert, dass auf jede weniger weitgehend eingreifende Weise das an Kant anschließende Philosophieren nicht aus den Schwierigkeiten herausgeführt werden kann, von denen Kants eigene Systemkonzeption unabwendbar gezeichnet sei.

Diese Grundsituation hat über lange Zeit fortbestanden, während sich die Ausrichtung der Kantrevisionen von Fichte bis Frege und von Hegel bis Heidegger vielfältig verändert hat. Während Kants Status als Entdecker eines philosophischen Kontinents auf Dauer gesichert ist, hat sich aber inzwischen die Bereitschaft zurückgebildet, in der direkten Auseinandersetzung mit seinem Werk und durch eine Vertiefung von dessen eigenen Intentionen den Ansatz für eine eigenständige und gegenwärtige philosophische Orientierung zu gewinnen. Systematisch gewichtige Rückgriffe auf Kant wie die von Thomas Nagel und Hilary Putnam neigen dazu, es mit lehrbuchnahen Erinnerungen an Kant bewenden zu lassen. Aus der in ihrer Regionalisierung immer hochkarätiger werdenden Kantforschung gehen nur wenige Impulse hervor, die in Debatten um sachliche Grundlegungsfragen zur Auswirkung kommen könnten.

Eine solche Lage kann wohl eine Gunst und auch ein Interesse für jeden Versuch freisetzen,  sich über Kants Systemkonzeption, und zwar in systematischer Absicht, so zu verständigen, dass nicht schon in den ersten Schritten, wie immer unwillentlich, der Kontakt mit Kants eigenen Intentionen unsicher wird oder, so wie bei Hegel oder Heidegger, ganz verlorengeht. Beide gingen nämlich durchaus zu Recht davon aus, dass man insbesondere über Kants Text, der unter dem Titel „transzendentale Deduktion der Kategorien“ steht, zu einer Verständigung kommen muss, die Kants Denken als Ganzes betrifft und die dabei eine Tiefendimension erreicht, über die Kant selbst keinen vollständigen Aufschluss hat geben können. Sie haben aber mit ihren Auslegungen eine den Kantischen Intentionen geradewegs entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und in jener Zeit die eigene philosophische Einsicht platzgreifen lassen wollen. Aus dem Folgenden wird dagegen hervorgehen, welche Probleme für Kants Denken gerade daraus hervorgingen, dass Kant vor die Aufgabe gestellt war, sein Systemprojekt in Einklang mit seiner Überzeugung zu halten und zu entfalten, dass in der Grunddimension, auf die sich philosophische Begründungen zuletzt immer beziehen müssen, ein Verstehen, welches in einer solchen von einem durchsichtigen Ganzen ausgehenden Klarheit gründet, nicht erreicht werden kann.

Darüber, dass es sich so verhält, hat Kant selbst freilich niemals öffentlich Rechenschaft abgelegt. Zumal in seinen Hauptschriften spielen alle Fragen, welche die Ausarbeitung der Systemkonzeption betreffen, eine gänzlich nachgeordnete Rolle. Für die gesicherte Erklärung seiner Systemkonzeption sind somit der weit fortgeschrittene Stand der Erschließung aller Texte von seiner Hand und die Handhabung von argumentanalytischen Verfahren unentbehrliche Voraussetzungen. Doch muss sich ein Versuch, Kants eigene Intentionen zu verdeutlichen, auch von dem Gestus derer freihalten, die meinen, sich kraft allseitiger Anpassung an die Kantischen Wortlaute über ihre Zeitgenossen zu erheben, und die darauf ausgehen, bisher stets verkannte Grundlehren des großen Kant endlich ins rechte Licht stellen oder gar als verbindlich durchzusetzen. Die vielen Revisionen, die sich an Kant angeschlossen und die sich dabei auf ihn berufen haben, machen es doch wahrscheinlich, dass gerade Kants Systemkonzeption in Spannungen hineinzieht und dass sie darum einer Durchklärung in eigenständigem Bemühen bedarf. Art und Ursprung dieser Spannungen sollten jedoch  in einer Weise verständlich gemacht werden, die zuvor Kants eigene Intentionen sicher in den Blick gebracht hat. Nur so lassen sich Aufschlüsse sowohl über die historische Gestalt von Kants Werk wie über die Gründe von Fehlgängen in den an Kant anschließenden Bewegungen gewinnen.

Zwei Probleme in Kants Systemprogramm

Das erste Problem betrifft das Verhältnis, das in Kants Systemkonzeption zwischen der Aufgabe einer vollständigen Entwicklung der erfahrungsunabhängigen Prinzipien alles Denkens und Erkennens auf der einen Seite und den Gründen von deren Herleitung und Rechtfertigung auf der anderen Seite besteht. Das zweite Problem stellt sich im Zusammenhang der Aufgabe, den epistemischen Status der Postulate in Kants Moraltheologie, insbesondere aber der Vernunftidee der Freiheit aufzuklären und deren Rolle als mögliche Abschlussgedanken des Systems zu verdeutlichen. Die beiden Probleme kommen allererst dadurch, dass sie in Beziehung aufeinander erwogen werden, zu ihrer eigentlichen Bedeutung und ihrer Brisanz für die Verständigung über den Aufbau von Kants Systemkonzeption insgesamt.

Kant war von der Unklarheit über die richtige Ordnung und die Gebrauchsbedingungen der Grundbegriffe des Denkens irritiert. Alle Gedanken mit dem Status, in irgendeinem Sinn Prinzip zu sein, konnten zur Formulierung und Begründung irgendwelcher Theoreme gebraucht werden, ohne dass Klarheit über die Voraussetzungen solchen Theoretisierens zu gewinnen war. Erst mit der sicheren Einsicht in den Grund des Unterschieds zwischen mathematischer und philosophischer Erkenntnis zeichnete sich für Kant die Möglichkeit ab, auch den Ort aller anderen Prinzipien im vielfältig gegliederten Aufbau von Rationalität auszumachen und sie so in dem ihnen angemessenen Gebrauch zu verstehen.

In Kants Werk finden sich zahlreiche Beschreibungen der Geschichte der Philosophie als einer solchen über Jahrtausende fortdauernden Verwirrung. Die Philosophen versagten schon bei Entwicklung der Idee ihrer eigenen Wissenschaft, hatten folglich für deren Bearbeitung keine sichere Richtschnur, blieben unwissend über den Weg, den sie zu nehmen hätten und waren deshalb jederzeit im Streit über die Entdeckungen, die jeder von ihnen für sich gemacht zu haben vorgab. So brachten sie „ihre Wissenschaft zunächst bei anderen und endlich sogar bei sich selbst in Verachtung“ (B 872). Diese Diagnose ist nicht etwa der Metaphysik allein, sondern der Philosophie insgesamt gestellt!

Geht man davon aus, dass Kant auf eine Jahrtausende währende Verwirrung zurücksah, in die er sich selbst einbegriffen wusste, bevor es ihm gelang, sich langsam und mühevoll aus ihr zu befreien, dann versteht man ohne weiteres, dass er sich die Aufklärung über das gesamte System der Vernunft nicht von einem handstreichartigen Zugriff versprechen mochte. Zwar waren der beharrliche Wille, solche Aufklärung zu erreichen, und die Idee, wie sie wirklich erreicht werden kann, unabdingbare Voraussetzungen für das kritische Unternehmen. Aber sie bringen dies Unternehmen nur auf seinen Weg, ohne ihm etwa auch schon seinen Erfolg zu sichern. Dem entspricht, dass Kant zeitlebens gerade die kritische Philosophie als Arbeit und als Aufstieg verstanden und beschrieben hat. Sie positioniert Prinzipien und geht dabei selbst von anderen Prinzipien aus, die im gemeinen Bewusstsein sicher verankert sind, hinsichtlich deren  also nicht zu fürchten ist, für sich schon zur Ursache neuer Verwirrungen werden. Die Philosophie  muss damit rechnen, neue Entdeckungen zu machen und damit auch zu Wendungen auf dem Wege der Aufklärung genötigt zu werden. Dass Kant über die Folge seiner Hauptwerke zu Änderungen innerhalb der Anlage seiner Konzeption kam, ist also in dem Selbstverständnis begründet, aus dem diese Konzeption hervorging. Er hätte darum solche Änderungen, deren es viele gab, durchaus offenlegen können. Er unterließ es aber wohl deshalb, weil er fürchtete, das kritische Unternehmen als solches könne sich damit nur neue Widerstände zuziehen.

 

Die Summe nach der Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft

In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Vorrede) und in der Kritik der praktischen Vernunft (A l62/3) findet sich jeweils eine der berühmten Stellen, in denen Kant eine noch offene Aufgabe der kritischen Philosophie erwähnt, die vor der Errichtung eines Systems dieser Philosophie gelöst werden muss: Die Einheit der theoretischen Vernunft mit der praktischen muss unter einem gemeinschaftlichen Prinzip dargestellt werden. Die Kritik der praktischen Vernunft geht so weit, die Ableitung von allem in diesen beiden Gebieten aus einem einheitlichen Prinzip zu verlangen. Nachdem Fichte sein Programm einer Ableitung der theoretischen und der praktischen Philosophie in einem einzigen Gang vorgestellt und ausgeführt hatte und nachdem Schelling in dem Titel seiner zweiten Schrift dafür das Ich als Prinzip in Anspruch genommen hatte, konnte man kaum umhin, Kants Andeutungen zu diesem Programm seiner Nachfolger in Beziehung zu setzen.

Es lässt sich aber doch auch leicht einsehen, dass Kants Bemerkungen eine ganz andere Zielrichtung hatten. Hätte er für das spätere System einen Ableitungsgang im Auge gehabt, der von einem ersten Grundgedanken anhebt und der von ihm aus nach strengen Herleitungsregeln prozediert, so wäre eine Stufenordnung entstanden, die der Metapher von einem allmählichen Aufstieg kaum entsprochen hätte. Einer ersten Erkundung des Aufbaus der Rationalität in der Vielgliedrigkeit ihrer Funktionen innerhalb der „Kritik“ müsste ein anderer, der nunmehr eigentlich systematische Begründungsgang folgen, der mit dem ersten aber in der gesamten Domäne seines Gehaltes koinzidiert. Kant hat dagegen einen Aufstieg im Sinn gehabt, der Stufe um Stufe zu einer besseren Durchsicht den Aufbau aller Arten der rationalen Denk- und Erkenntnisweisen führt und so allererst ein System einzurichten erlaubt.

Nun unterrichtet uns die Kritik der reinen Vernunft selbst auch darüber, dass Kant einen Begriff von einem Prinzip und auch von einem höchsten Prinzip hatte, der nicht darauf festgelegt ist, die Einheit eines einzigen Ursprungs für das in Anspruch zu nehmen, was unter dem Prinzip betrachtet wird. Ein Prinzip ist ein Begriff, der vielfältig Besonderes nach einer allgemeinen Hinsicht ordnen und jedem Besonderen seine Stelle in einem Ganzen bestimmt. In diesem Gebrauch ist die Definition von „Prinzip“ geradewegs in Beziehung zur Aufgabe einer Systembildung zu setzen. In den beiden Stellen seiner moraltheoretischen Hauptwerke gab Kant nun zu erkennen, dass er für das Ganze der Philosophie, das ihre besonderen Gebiete einschließt, noch nicht in den sicheren Besitz eines solchen Prinzips gekommen sei, das alle Vernunftordnungen als einen einzigen gegliederten Gesamtzusammenhang begreifen und darstellen lässt.

Im gesamten Oeuvre Kants findet sich nur noch eine einzige Stelle, in der er die Hinweise der moraltheoretischen Hauptwerke der achtziger Jahre noch einmal aufgenommen hat, und zwar im ersten Konvolut des Nachlasswerks (S. 124). Hier erklärt Kant, dass sich die Vernunft selbst zu dem Ganzen eines Systems konstituiert, indem sie „ein Ganzes von Physik und Moral aus einem Prinzip“ stiftet. Hier ist deutlich, dass die Verhältnisbestimmung, nicht etwa die Ableitung  des einen aus dem anderen es ist, was im System unter der Anleitung einer Idee entwickelt wird.

Das gesamte Nachlasswerk ist seiner Anlage nach von der Metapher des Aufstiegs beherrscht: Die Kritik hat im Ausgang von der Erklärung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung einen Begriff von der Natur zu begründen und von da aus den „Übergang“ zur Physik zu gewinnen, also die Natur als ein Ganzes, das Gegenstand der Erfahrung sein kann, zu beschreiben. So begründet sie eine Metaphysik der Natur, der sie eine nach vergleichbaren Vernunftprinzipien zu einem Ganzen gebildete Metaphysik der Moral an die Seite stellen kann. Der „Übergang“ zur Naturtheorie ist also nicht als Abstieg, sondern als ein Schritt innerhalb der gesamten Aufstiegsbewegung zu verstehen. Von da aus kann der weitere Aufstieg zu einem Prinzip vollzogen werden, welches diese beiden Gebiete in ein Verhältnis zueinander bringt und auch in Beziehung auf dies ihr Verhältnis die Gesamtordnung eines Systems erreicht. Damit ist dann das „ab-solute Ganze“ des Systems der Vernunfterkenntnis realisiert. Es ist deutlich, dass Kant in dieser Konzeption zumindest die Aussicht auf ein System für durchgebildet hält, die er fünfzehn Jahre vorher nur vage anzeigen konnte.

Hält man sich an diese Erklärung, so ist das Bild von Kants System in einer  wichtigen sachlichen Hinsicht noch unvollständig: Sein „Deduktion“ genanntes Begründungsverfahren ist gänzlich unberücksichtigt geblieben. Bezieht man nun diese Dimension Kantischen Denkens, die stets als seine tiefste und bedeutendste philosophische Leistung galt, in die Erwägungen ein, die sich auf seine Systemkonzeption konzentrieren, dann kommt auch diese Konzeption in ein anderes Licht und, wie sich zeigen wird, sogar in ein Zwielicht, so dass sie ein Anlass zu neuem Nachdenken werden muss.

Die Bedeutung der Deduktionen

Was bislang hinsichtlich seiner Systemkonzeption auszumachen war, läuft auf ein Programm hinaus, das grundsätzlich auch aufgrund der analytischen Methode hätte ausgeführt werden können, die Kant schon im Jahr 1762 in Vorschlag gebracht hatte. Sie sollte darauf ausgehen, die Grundbegriffe unseres Denkens so eindeutig wie möglich zu bestimmen und die Weisen zu denken und zu erkennen voneinander zu unterscheiden, in denen diese Grundbegriffe in Gebrauch genommen werden. Nimmt man einmal kontrafaktisch an, dass Kant damals bereits in den Besitz einer angemessenen Einsicht in die Vielfalt der rationalen Fähigkeiten und in ihre Verfugung miteinander hätte kommen können, so ließe es sich denken, dass ein solches analytisches Verfahren den Aufbau dessen, was „Vernunft“ heißt, hätte durchsichtig machen können, womit es zu einem System der Philosophie geführt hätte.

Mit der Einsicht in die Besonderheit der Erkenntnis von Gegenständen, die unabhängig von der Erfahrung erfolgt, war der Philosophie aber eine ganz anders angelegte Aufgabe zugewachsen. Es oblag ihr nun, die Möglichkeit solcher Erkenntnis zu verstehen und sie damit in ihrem jeweiligen Geltungsgebiet zu rechtfertigen. Kant war sich dessen sicher, dass man in einem solchen Begründungsgang auf Aktivitäten des Subjekts, die in jeden Wissensgewinn eingehen, und auf epistemische Grundfunktionen zurückgehen müsse, welche als Regeln diese Aktivitäten anleiten.

Erst sehr spät in der Geschichte der Kantforschung ist Klarheit darüber erreicht worden, dass Kant nicht deshalb von Deduktionen sprach, weil er die Rechtfertigung von Erkenntnisansprüchen nach den strengen Regeln wahrheitserhaltenden Schließens aufbauen wollte. Wäre dies seine Absicht gewesen, so würde die Integration der Deduk-tionsgänge in den Systementwurf keine Veränderungen in dem Bild nach sich ziehen, das gerade eben von diesem System gezeichnet worden ist. Kant hat aber seine Rechtfertigungsargumente aus einem ganz anderen Grund und mit Beziehung auf ein anderes Methodenvorbild als Deduktionen bezeichnet.

Die juristische Deduktion von Besitzansprüchen geschieht zwar den Schlussregeln gemäß,  wird aber dadurch, dass sie ihnen entspricht, nicht in dem gekennzeichnet, was ihr eigentümlich ist. Kant hat sie zum Muster für seine philosophischen Begründungen gemacht, weil auch er die Legitimität von Ansprüchen, und zwar auf den Besitz von Erkenntnis, begründen wollte. Diese Art der juristischen Begründung wies aber auch Eigentümlichkeiten auf, die sie zum einzig existierenden Vorbild für den Aufbau der Begründungsgänge machte, die Kant in solchen Sachen für angezeigt hielt. In einem Rechtsstreit muss man sich nicht auf den gesamten Zusammenhang einlassen, in dem eine strittige Sache und in dem der Anspruch auf sie zustandegekommen sind. Von Gewicht ist einzig die Bezugnahme auf einige wenige Aspekte der Sache und des auf sie gehenden Anspruchs, nämlich auf solche Umstände des Ursprungs beider, die dann auch über die Legitimität des Anspruchs entscheiden.

Diese Orientierung auf den Ursprung und die gleichzeitige Einschränkung im Aufgabenbereich, die bei einer Konzentration auf die quaestio juris geradezu gefordert ist, waren für Kant in den wichtigsten seiner Deduktionen von besonderem philosophischem Interesse. Die Legitimität von Erkentnisansprüchen lässt sich nur mit Bezug auf den Ursprung und damit auf die Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis einsichtig machen. Um so verfahren zu können, musste Kant aber von im Bewusstsein des Subjekts gelegenen oder aufzuschließenden epistemischen Grundtatsachen ausgehen, die er nicht zuvor und auch nicht nachträglich in einer erschöpfenden Analyse durchsichtig machen konnte, obwohl sie durchaus nicht einfach sind und somit einer solchen Analyse eigentlich zugänglich sein sollten.

Grenzen für die Grundlegung

Kant hatte eingesehen, dass der Bereich, den er in seinen Begründungsgängen zu erschließen hatte, „tief eingehüllt“ ist (A 88). Das hieß für ihn nicht nur, dass die Bemühungen um den Gewinn eines Ausgangs für eine Deduktion von Dunkelheiten umlagert sein müssen. Er war schon 1762 zu dem Ergebnis gekommen, dass es in unserer Erkenntnis komplexe Grundbegriffe gibt, deren Analyse für immer jenseits unserer Möglichkeiten liegt. Nunmehr hatten sich Deduktionen auf den Ursprung von Erkenntnisweisen auszurichten, konnten sich also nicht auf die Analyse von logischen Formen beschränken, sondern mussten die im Subjekt vollzogenen epistemischen Aktivitäten zum Thema machen, innerhalb deren solche logische Formen in Gebrauch kommen. Was nun auch immer über den Status solcher Sachlagen des näheren zu sagen ist - ihre erschöpfenden Beschreibung hat Kant jedenfalls für unmöglich gehalten. Sie lassen sich nur aus einem im Vollzug selbst schon gelegenen reflektierten Wissen von ihnen und dann auch nur in einigen Hinsichten verdeutlichen, die für ihren Gebrauch von Bedeutung sind, womit sie dann aber auch einen Ansatz für den Aufbau einer Deduktion zu bieten vermögen.

Sowohl von der empirischen Psychologie wie auch von der rationalen Psychologie der einfachen res cogitans, der er den Status entzogen hatte, überhaupt Wissen zu sein, hatte Kant  die Dimension der epistemischen Grundtatsachen zu unterscheiden, auf die sich die Deduktion von Wissensansprüchen zu beziehen hat. In Beziehung auf sie haben wir wohl ein spontan generiertes reflektiertes Wissen, aber gar keine Aussicht auf den Aufbau einer Wissenschaft, welche diese Dimension zu ihrer Domäne machen könnte. So ergibt sich das ungewohnte und ungewöhnliche, in der Sache aber auch ungewöhnlich interessante und attraktive Konzept, demzufolge die am tiefsten reichenden Begründungen in einer Dimension ihren Ausgangspunkt haben, die als ganze in ein unaufhebbares Dunkel gehüllt ist.

Kant hat Physik und Psychologie unter dem Titel „Physiologie“ zusammengefasst und war zugleich überzeugt davon, dass es eine Physiologie der Vernunft nicht geben könne, und zwar nicht nur deshalb, weil die Rationalität nicht als Erfahrungstatsache gelten kann, sondern allein schon deshalb, weil sie gar nicht zur Domäne irgendeiner Wissenschaft werden kann, die es sich zur Aufgabe macht, diese Domäne zu durchdringen und einen erschöpfenden Aufschluss über sie zu geben.

Aus dieser methodischen Selbstverständigung der Kritik ist sicher auch eine Erweiterung von Kants Diagnose der Ursachen hervorgegangen, welche die Philosophie über Jahrtausende in einer Verwirrung gehalten haben. Sie wurde nicht nur von einer leeren Aussicht auf übermenschliches Wissen irritiert, so dass sie nicht dazu kam, sich auf die Untersuchung der Zuordnungen im Gefüge der rationalen Leistungen zu konzentrieren. Zudem war sie von der Aussicht auf eine Selbsterkenntnis genarrt, die mit der wissenschaftlichen Beschreibung der Natur, über alle Unterschiede hinweg, doch das Ziel einer möglichst erschöpfenden Beschreibung und Erklärung einer Domäne von Gegenständen teilen wollte. Das kritische Unternehmen musste die Philosophie auch aus dieser Illusion herausführen.

Deduktion und System

Dass aber mit der Einfügung der Deduktionen in das System Probleme aufkommen, welche die Konzeption der Systematik betreffen, lässt sich  aus der Position erschlies-sen, die Kant seiner transzendentalen Deduktion der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft angewiesen hat. Die Deduktion hat  zwar im Programm einer Legitimierung apriorischer Erkenntnis eine schlechthin zentrale Bedeutung, ist aber im Textkorpus der Kritik geradezu ein Fremdkörper. Man hat die transzendentale Deduktion der Kategorien als eine eigenständige Schrift zu verstehen, nach dem Typ selbständiger Druckschriften modelliert, die Deduktionsschriften hießen und die in den juristischen Bibliotheken seiner Zeit längst zu vielen Tausenden versammelt waren. Er konnte deshalb davon ausgehen, so auch vor seiner Leserschaft die Rechtfertigung dafür gewonnen zu haben, diesen Abschnitt der Kritik in Sprache, Argument und Gliederung in einem ganz anderen Stil als das Gesamtwerk abzufassen. Die Kritik zeigt sich damit in einer literarischen Verfassung, die sie von ferne einem Lehrbuch des Naturrechts vergleichbar macht, in das an prominenter Stelle eine eigene Deduktionsschrift zur Legitimierung etwa des Eigentumsrechts oder des Vernunftrechts insgesamt eingefügt worden ist.

Ein Gegensatz zwischen den Implikationen beider Programme, der Anlage der Konzeption des Systems und der des Methodenprogramms der Deduktion, muss konstatiert werden, wenn man diese in eine sachliche Beziehung zueinander versetzt. Das System geht darauf aus, in immer weiter voranschreitendem Aufstieg Klarheit über die gesamte Ordnung und die innere Gliederung der Vernunftleistungen unter einem höchsten Prinzip zu gewinnen, das sie als ein gegliedertes Ganzes begreifbar macht. Die Deduktion muss sich den Weg zu den Ursprüngen von Erkenntnisweisen bahnen. Als Methode muss sie zudem jederzeit dessen inne sein, dass es ihr verwehrt bleibt, in der Domäne der Ursprünge zu irgendeiner erschöpfenden Erkenntnis oder gar zu einer systematischen Durchsicht zu gelangen.

Wenn es aber die Aufgabe des Systems ist, die Rationalität in ihrem ganzen Umfang zu erschließen, dann wird doch das Ziel, Klarheit in eine Gesamtordnung zu bringen, mit der Erkenntnis, im eigentlichen Grundlegungsbereich auf weit eingeschränktere Zie-le festgelegt zu sein, in irgendeiner Weise zusammengeführt werden müssen. Eine solche Zusammenführung schließt dann aber auch ein, dass erwogen werden muss, wie das für das System konstitutive Verfahren des Aufstiegs mit dem für die Deduktion charakteristischen Verfahren, das immer zunächst einmal ein Rückgang ist, zusammenwirken kann und auf überzeugende Weise methodisch zusammenzufügen ist.

Damit haben wir eine Fragestellung erreicht, die von Kant selbst nicht formuliert worden ist. Nimmt man sie nicht auf, dann kann man weder den Druck aller der Probleme erfahren, der mit dahin wirkte, dass Kant eine philosophische Systematik so weit in die unbestimmte Zukunft hinausschob, noch auch seine späten und spätesten Äußerungen zu diesem Thema zum Ganzen seines Werkes in eine durchdachte Beziehung bringen.

Selbstredend können beide Verfahren nicht in einer Isolation gegeneinander gebraucht werden. Keine Deduktion kann in Gang kommen, die nicht ihren Ausgang von einer Erklärung der Erkenntnisart und der von ihr erhobenen Ansprüche ausgeht, um dann in Absicht auf die Prüfung von deren Legitimität ihre Ursprünge zu erforschen. Umgekehrt kann keine definitive Ordnung im Gefüge der Rationalität erkannt werden, wenn die Ursprünge ihrer vielerlei Leistungsweisen im Dunkel geblieben und wenn deshalb die Grenzen ihres Gebrauchs nicht bestimmt worden sind. Insoweit ist im Begriff des Systems die Beziehung auf Ursprungserklärungen impliziert, so wie umgekehrt jede Deduktion mit einer Perspektive verbunden ist, die auf das System als solches ausgeht. Aber dieser Wechselbezug schließt es nicht aus, dass dennoch die Verfahrensarten und die Erklärungsaussichten beider Begründungsweisen ganz verschieden sind und dass sie sich in der Ausrichtung ihres Untersuchungsinteresses sogar gegenläufig zueinander verhalten. Beide Verfahrensarten sind bereits in der Definition dessen, was eine Transzendentalphilosophie zu leisten hat, unauflösbar, aber zugleich als gegenläufig aneinander gekettet: Die Erklärung des Ursprungs, des Umfangs und der Grenzen aller reinen Vernunfterkenntnis.

Über die Freiheit zur Metaphysik

Für Kant kann die philosophische Untersuchungsart niemals zur selben Verlässlichkeit in den einzelnen Resultaten führen, die der mathematischen Erkenntnis kraft ihres Anschauungsbezuges eigentümlich ist. Sie kann aber ihr Sicherheitsdefizit dadurch ausgleichen, dass sie zeigt, wie sich alle einzelnen Resultate zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen (AA XX, S. 311). Ein solcher Zusammenhang ist auch auf seiten der Gehalte der Resultate von großer Bedeutung, welche die Deduktionen erzielen. So könnte, um das wichtigste Beispiel zu nennen, die Erklärung des moralischen Gesetzes aus der Voraussetzung der Freiheit gar nicht überzeugen, wenn die Eingrenzung der theoretischen Erkenntnis auf Erfahrungsbedingungen nicht zu leisten wäre.

Kant spricht vom System der Natur, vom System wechselseitiger Lagen in der Geometrie oder von der Glückseligkeit als einem System. Immer ist dabei ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes in irgendeinem Sachbereich gemeint. Zwischen dem System, auf das die Philosophie als Wissenschaft ausgreift, und Systemen, in die Objekte organisiert sind, kann man das System positionieren, in dem unsere rationalen Kapazitäten samt ihrer Ursprünge innerhalb eines Ganzen wechselseitig aufeinander bezogen sind. Ein solches System ist in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft vorausgesetzt. Hier spricht Kant davon, dass der Begriff der Freiheit „den Schlussstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft“ ausmacht (A 4).  Dieses System wird allein dadurch möglich, dass es wechselseitige Abhängigkeiten unter den in der Vernunft selbst begründeten Prinzipien und epistemischen Funktionsweisen aufdeckt. Das aber geschieht vorzüglich im Gang des Aufbaus der Deduktionen und in der Zuordnung der Resultate ihrer Ursprungserklärungen zueinander.

In diesem Zusammenhang hat Kant häufig organologische Metaphern gebraucht: Die Vernunft ist ein „Gliederbau“ (B XXXVII/ VIII), in dem alles Organ, nämlich alles um eines willen und  jedes um aller willen, in Funktion ist. An diese Metaphern schließt sich Kants teleologische Rede von einem Zweck der Vernunft an, die nunmehr dem Ganzen der Vernunft selbst noch eine Funktion zuspricht. Die Vernunft hat insofern einen Zweck, als ihr Gebrauch insgesamt auf den praktischen Vernunftgebrauch verweist und als zu dessen Ermöglichung  alle ihre Funktionen zusammenstimmen und zusammenwirken. Das philosophische System als vom Erkennenden errichtete Architektur kann gar nicht zustandekommen, wenn es diese Zweckbestimmung im System der Vernunft selbst nicht in den Blick bringt. Denn nur unter ihr als Idee lässt sich die Philosophie in ihrem Schulbegriff mit dem Weltbegriff der Philosophie zu einem philosophischen System vereinigen. So ist also die Vernunft schon in sich selbst ein architektonisches Ganzes. Ihre vielerlei Denk- und Erkenntnisweisen haben jeweils für sich insofern Halt und Geltung, als sie mit der Freiheit als dem Schlussstein des Ganzen direkt oder indirekt verfugt sind.

In dieser Perspektive wird eine Linie ausgezogen, die von der Untersuchung der Ursprünge der Erkenntnis in den Bereich einer Metaphysik verweist, und zwar einer solchen, in der die letzten uns möglichen Gedanken, mit denen wir über die Erfahrungswelt hinausgreifen, zusammengeführt sind. Dass diese Metaphysik nicht als Erkenntnis oder Wissenschaft wird auftreten können, versteht sich von selbst und würde angesichts dessen, dass ihr Schlüsselbegriff der der Freiheit ist, auch ganz widersinnig sein.

Man möchte sich wünschen, dass Kant in Beziehung auf diesen Gründungszusammenhang  noch andere Gedanken als nur die erwogen hätte, die mit seiner teleologischen Metaphorik zusammengehen. In der Sprache der Evolutionstheorie, welche die Passform der epistemischen Kapazitäten aus dem Überlebenswert dieses Zusammenstimmens erklärt, hätte er sie nicht artikulieren können. Denn diese Erklärungsart kann sich weder auf eine Kantisch verstandene Freiheit noch auf einen Bereich beziehen, der nur durch Ideen zu erschließen ist. Man sollte aber sehr wohl auch andere, gleichfalls in Ideen begründete Erklärungsschemata der Erwägung wert finden. Sie würden von der Teleologie ab und in die Nähe spinozanischer Grundgedanken bringen.

Ideen als Projektionen und als Erschließung eines Grundes

Beim Übergang von der Ursprungsfrage, der die Deduktionen nachgehen, zur Besetzung eines transzendenten Raumes mit Ideen kommt Kants Position vor eine Alternative, über die sie nicht mit den von ihr selbst erarbeiteten Mitteln in aller Konsequenz zu entscheiden vermag. Die Ideen, welche allein dazu imstande sind, den Zugang zu einem solchen transzendenten Raum zu erschlies-sen, werden von Kant ihrem eigenen Ursprung nach als Entwürfe von Maxima erklärt und gehen insofern aus der Projek-tionskraft der Vernunft als deren Produkte hervor. Wenn also von der Ursprungserklärung der Deduktionen zur Selbstinterpretation der Vernunft als System übergegangen wird, dann scheint immer noch gar nichts anderes als eine nunmehr gebündelte Projektionsaktivität freigesetzt zu werden, in der die Vernunft sich selbst eine Selbstinterpretation schafft - aber so, dass dieser selbstbezügliche Entwurf doch nichts anderes als bloß ein Entwurf und insofern eine notwendige Fiktion ist.

Wenn Kant Ideen explizit unter den Vorbehalt stellte, gar nicht anders denn als solcher Entwurf verstanden werden zu können, hat er seinen Vorbehalt mit dem Präfix des „als ob“ gekennzeichnet. Im Falle der Voraussetzung der Freiheit hat er sich dazu jedoch nicht folgerichtig entschlossen und auch gar nicht entschließen können. Nicht die Idee, sondern die Überzeugung von der Realität des Gegenstandes dieser Idee ist für das sittliche Handeln eine unabdingbare Voraussetzung.

Wie aber eine solche Voraussetzung unter Festhalten an dem Status der Idee, Projek-tion eines Maximums zu sein, folgerichtig zu begründen ist, dazu hat Kant keine überzeugungskräftige Konzeption aufzubieten. Sie hätte zeigen müssen, wie die Selbstinterpretation der Vernunft über die Stufen des Aufstiegs hin dazu, ihre eigene Architektur als Ganzes zu erschließen, zugleich auch einen Rechtsgrund dafür gewinnt, die Einschränkung der Ideen auf ihre Rolle als Entwürfe von Maxima aufzuheben. Im Aufstieg zum Begreifen der Architektur der Vernunft würde also zugleich rückläufig der Status des Realitätsbezuges von Ideen verändert. Erst in der Nachfolge Kants sind Konzeptionen zustandegekommen, die so argumentierten und die das Gewicht dieser Wendung in der Begründungsaufgabe auch hoch genug angesetzt haben.

Deduktionen können sich zum einen nicht auf die Beschreibung von Erkenntnisformen beschränken, die in irgend einem Sinn als „logisch“ zu fassen ist. Sie müssen ihren Ursprung im Subjekt zum Thema machen. Dabei sind sie immer auf Facta, zumeist auf Aktivitäten bezogen. Wenn sie nun auch an diese Facta ihre Legitimierung und ihre Grenzbestimmung anschließen, obwohl sie von ihnen und ihrem Kontext keine Erkenntnis im eigentlichen Sinne haben, so müssen die Facta der vielerlei Deduktionen doch aufeinander bezogen und zur Skizze eines Bildes von der Architektur der Vernunft vereinigt werden. Denn aus dem Nachweis ihrer Zuordnung zueinander und der Stimmigkeit eines Gesamtaufschlusses, die in ihr hervortritt, gewinnt jede einzelne Deduktion eine weitere Stützung und Überzeugungskraft. Da aber jede einzelne Deduktion in einer spontanen Reflexion vergegenwärtigter epistemischer Facta gegründet ist, wird man wohl das Gesamtbild, in dem die Facta allererst definitiv einander zugeordnet werden, für mehr als einen projizierenden Übergriff über Erfahrung und reflektiertes Bewusstsein hinaus ansehen müssen. Wenn der Aufstieg zum System insgesamt also an den Deduktionen und an deren Methodologie orientiert bleibt, wird er immer zugleich ein Gang zu einer letzten Vergewisserung darüber sein müssen, was dem Dasein vernünftiger und endlicher Wesen eine Bewandtnis gibt und wie sich von daher die gesamte Verfassung ihrer vielgegliederten Rationalität verstehen lässt. Kant hat aber die Aufgabe eines philosophischen Systems und den Weg des Aufstieges nicht in dieser Weise beschrieben. Das lässt sich ohne weiteres daraus verstehen, dass im Ausgang von der Ursprungsforschung der Deduktionen und im Aufstieg zu einem Gesamtbild der Vernunft, das den Zusammenhang dieser Facta und die Bewandnis des Vernunftlebens erschließt, keine Übersicht über alle Vernunftleistungen und kein Bau zustandekommen kann, in dem alle Weisen der Erkenntnis und auch alle Disziplinen der Philosophie als ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes vorgestellt werden können - eben als System in diesem herkömmlichen und an der Architektenleistung des Philosophen orientierten Sinn.

 Den Weg zu einem solchen System hatte Kant auf ganz andere, gleichfalls von Schwierigkeiten beladene Weise gesehen, welche es ihm nötig erscheinen ließen, dies Ziel in eine ferne Zukunft zurückzustellen.

Zwei Aufstiege zum System und seine offene Aufgabe

Aus den beiden Stellen mit Hinweisen auf ein künftiges System in Kants moraltheoretischen Hauptwerken und aus dem Kapitel in der Kritik der reinen Vernunft über „die Kunst der Systeme“ (B 860 ff.) geht übereinstimmend hervor, woraus die Schwierigkeiten resultieren, die auch den Aufstieg zum System als Gesamtbild der Vernunftaktivitäten schwer werden lassen: In einem System muss der Aufbau aller Teildisziplinen auf das Prinzip, nach dem sich das Ganze gliedert, und in der Folge davon müssen sie auch aufeinander bezogen sein. Es ist „das unvermeidliche Bedürfnis der menschlichen Vernunft, nur in einer vollständigen systematischen Einheit ihrer Erkenntnisse völlige Zufriedenheit zu finden“ (KpV.163). Da Kant seit langem davon überzeugt war, dass die Vernunft als ganze eine Zweckbestimmung in der vernünftigen Praxis hat, muss die Form aller Wissenschaften im System zugleich auch nach einem Prinzip verstanden werden können, in dem die Philosophie nach ihrem Schulbegriff mit der Philosophie, die auf weltbezogene Praxis ausgeht, in der Weise übereinstimmt, dass eine Ableitung der Form beider aus einem Prinzip als Zweck der Vernunft möglich wird.

Kant hat über mehr als zwanzig Jahre hinweg nicht einmal abgesehen, wie er dieser Aufgabe würde gerecht werden können. Zwar hielt er sie für eine Aufgabe, die uns die Vernunft selbst abverlangt. Für die dringlichste aller Aufgaben hat er sie aber doch nicht gehalten. Vordringlich war zunächst die Vollendung des kritischen Geschäfts. Ihm hatte der Aufbau der einzelnen Teile des Systems zu folgen, also die Metaphysik der Natur und die Metaphysik der Sitten. Darüber, wie sie beide dann in ihrem inneren Aufbau unter einem gemeinsamen Prinzip in Beziehung zueinander gesetzt werden könnten, hatte Kant zunächst noch gar keine bestimmte Vorstellung. Weil eine solche Vorstellung wohl auch nur zu gewinnen war, nachdem er den Aufbau dieser beiden Disziplinen weit vorangetrieben hatte, hat Kant auch nicht viel Mühe darauf verwendet, eine bestimmte Konzeption des Systems, wie immer nur provisorisch, auszuarbeiten, um so der Realisierung der architektonischen Aufgabe näherzukommen, die er in seinen Vorlesungen immer wieder, ganz im Allgemeinen bleibend, erklärt hat.

Vor dem Erlöschen aller seiner Kräfte öffnete sich ihm aber schließlich doch noch die Aussicht darauf, auch das Programm eines Systems wirklich auszuführen. Damit hätte er die höchsten Ansprüche der Vernunft an die Durchbildung der kritischen Philosophie zu einem Ganzen erfüllt und ein „System der reinen Philosophie in ihrem ganzen Inbegriffe“ aufgestellt (1. Konvolut, S. 146). Wie man weiß, sind die letzten Bogen seiner Notizen zum Nachlasswerk mit den Ankündigungen dieses Systems und mit Skizzen von Ansätzen zu seinem Vortrag ausgefüllt.

Dass Kant nunmehr absah, wie man das Ganze des Aufbaus der Metaphysik der Natur zum Aufbau einer Metaphysik der Sitten in ein Verhältnis bringen könnte, hatte zur Voraussetzung, dass er in seiner Erklärung der Konstitution der Natur als einem System von Kräften zu neuen Ergebnissen gekommen war. Als er dann sah, dass das so konzipierte Natursystem nunmehr wirklich mit dem System aller sittlichen Beziehungen in ein Verhältnis zu bringen war, das den durch die Definition des philosophischen Systems gesetzten Bedingungen genügt, schien das über so lange Zeit zurückgestellte Systemprojekt schließlich doch noch ausgeführt werden zu können. Kant war aber dazu nicht mehr imstande.

Man darf aber nicht der Illusion anhängen, es ließe sich den letzten Notizen Kants zu diesem Projekt die Abschlussgestalt eines Kantischen Systems abgewinnen, die auch in der Sache als das letzte Wort der kritischen Philosophie zur Systembildung zu gelten hat. Kant hat zwar ein klares Bewusstsein davon gehabt, inwiefern er mit seiner späten Systemkonzeption die methodischen Postulate des Architektonik-Kapitels der Kritik der reinen Vernunft erfüllen würde, die auf die Formzuordnung der Disziplinen und auf ihre Verbindung miteinander unter einem Prinzip ausgegangen war, welches den Weltbegriff der Philosophie einschließt. Aber die späten Entwürfe der Vollendung des Aufstiegs zum Systemganzen beziehen in keiner Weise jenen anderen Aufstieg in sich ein, der über die Folge der Deduktionen und über deren Verbindung miteinander Stufe um Stufe bis zur Erkenntnis der Freiheit als des Schlusssteins in jener der Vernunft selbst eigenen Architektur geführt hatte. Sie enthalten auch keinen Bezug mehr auf die Probleme, derentwegen es sich als notwendig erwiesen hatte, um der Rechtfertigung des Ausgangs von der Freiheit als Grund der Überzeugung von der wirklichen Geltung eines kategorischen Imperativs willen die beiden moraltheoretischen Hauptwerke zu verfassen. Dass von dem gültigen Imperativ und von der Wirklichkeit der Freiheit ausgegangen werden kann, gilt in Kants Notizen nunmehr als ausgemacht. Selbst davon ist nicht mehr die Rede, dass diese Freiheit einen ganz anderen Status als das Bewusstsein „Ich denke“ und die in ihm zentrierten synthetischen Konstitutionsleistungen hat, dass also jeder haltbare Gedanke von der Beziehung einer sittlichen Welt auf die Welt der Natur eine umständliche Untersuchung über den Status dieser beiden Welten voraussetzt.

Damit entspricht Kant nun wohl nur dem Methodenprogramm des Systems insoweit, als es eine vollständige Übersicht der Vernunftleistungen und ihre Zuordnung zueinander in einem Ganzen zu liefern hat. Und wirklich ist der eine Aufstieg, der der Philosophie zu ihrer größten Ausdehnung, so auch abgeschlossen. Doch dieser Abschluss in der Übersicht über die Gliederung der Domänen und der Leistungsweisen der Vernunft würde das Interesse an der Philosophie als kritischer nur befriedigen können, wenn sie zugleich auch den Abschluss des Rechtfertigungsganges und damit des anderen Aufstiegs in sich einbezogen hätte, der über die Folge der Deduktionen eine abschließende Vergewisserung über den Freiheitsgrund der Vernunftarchitektur erreicht.

Nichts steht dem entgegen, dass die so begriffene Aufgabe der Systembildung in dem von Kant aufgerichteten philosophischen Rahmen auch wirklich ausgeführt werden könnte. Aber ihre Lösung lässt sich keinem Text Kants und auch nicht der Gesamtheit seiner Texte entnehmen.

Wir Heutigen haben besonders gute Gründe dafür, den Abschluss für ein kritisches System vor allem von der Rechtfertigungsaufgabe her ausgebildet finden zu wollen. Das Vernunftinteresse an einer vollständigen Übersicht über das Ganze aller Leistungen der Rationalität will uns nicht mehr als die letzte Aufgabe der Philosophie erscheinen. Man kann sogar dahingehend argumentieren, dass eine Übersicht, die in diesem strikten Sinne systematisch, weil vollständig und erschöpfend ist, gar nicht erreicht werden kann. Die Rechtfertigungsaufgabe hat umso größere Dringlichkeit gewonnen. Die Moralkritik ist omnipräsent geworden, die Philosophie hatte darüber hinaus einzusehen, dass die sittlichen Grundtatsachen im Unterschied zu Kants Lehre eine polymorphe Verfassung haben, und ein in Tiefenerfahrungen der Subjektivität verankertes Bewusstsein der Freiheit ist schon lange in die Gefahr geraten, von einer ebenso leichtfüßigen wie haltlosen Inflation von Freiheitsrhetorik unterspült zu werden.

Kant hat von der Möglichkeit, ein solches Zeitalter könne heraufkommen, mehr als nur eine Ahnung gehabt. Kein anderer hat mit dem gleichen Tiefblick die von geläufigen Moraltheorien in ihrem Untergrund angesonnene Deformation des sittlichen Bewusstseins aufgedeckt. Aber für sich selbst war er wohl in seinem gegen Skepsis unempfindlichen Autonomiebewusstsein durch nichts irritiert. Wir Heutigen haben aber allen Grund dazu, das mit der Kritik und ihren Deduktionen verbundene Unternehmen der Rechtfertigung nicht eingeschränkt, sondern überall im Gang gehalten und sogar noch weiter ausgedehnt sehen zu wollen. Um dieser Aufgabe willen würden wir gewiss auch bereit sein, den Systemanspruch auf vollständige Übersicht und Durchgliederung eines Ganzen preiszugeben, wenn das denn daraus folgen sollte, dass der Aufstieg zur abschließenden Vergewisserung nun einmal nur in Schritten partialer Durchsicht geschehen kann. Die Möglichkeit zu einem solchen Verzicht, wenn auch nicht im selben Umfang,  hat Kant selbst bereits ins Auge gefasst, und zwar innerhalb des Bereichs der Ursprungsforschung der Deduktionen und innerhalb der Methodologie von deren Begründungsart.

Wir könnten uns also selbst dann, wenn wir uns dazu entschlössen, jedes Theorem von Kant für buchstäblich wahr und gültig zu erklären, doch nicht mit dem Inbegriff seiner Aussagen zum System der Philosophie zufrieden geben. Die Kritik untersucht den Ursprung von Erkenntnissen und bestimmt von ihm her deren Gültigkeit und deren Grenzen. Schon in dieser kleinen Nussschale von Kants Programm sind zwei Aufstiegsbewegungen angelegt, deren eine durch die Deduktionsfolge und deren andere hin zur Gesamtübersicht über alle Vernunftleistungen führt. In Kants Äußerungen zum Systemprogramm sind sie nirgends überzeugend zueinander ins Verhältnis gebracht worden. So ist eine Aufgabe, die sich eigentlich schon von der allerersten Programmformel der kritischen Philosophie herleitet, von Kant ungelöst zurückgelassen worden. Der größte Denker deutscher Sprache verweist uns also hinsichtlich von Systemform und Abschluss in der Aufstiegsbewegungen der kritischen Philosophie auf unsere eigenen Anstrengungen, die der weiteren Ausbildung und der Zusammenführung der in Kants Werk freigesetzten philosophischen Perspektiven auf ein System zu gelten hätten.

Dazu kann man sich von Kant selbst auch ausdrücklich ermutigt wissen, und zwar durch einen Satz, der sich ausgerechnet in dem Kapitel über die Architektonik der reinen Vernunft findet: Man muss Wissenschaften „nicht nach der Beschreibung, die der Urheber derselben davon gibt, sondern nach der Idee, welche man aus der natürlichen Einheit der Teile, die er zusammengebracht hat, in der Vernunft selbst gegründet findet, erklären und bestimmen“ (B 862).

 

Vortrag anlässlich des Kant-Kongresses in Berlin. Von der Redaktion gekürzt. Die Originalfassung erscheint in:

3110169797 Gerhardt, Volker (Hrsg.): Kant 2000. Akten des Internationalen Kant-Kongresses.  5 Bände ca. DM  328.--, ca. März 2000, de Gruyter, Berlin.

 

UNSER AUTOR

Dieter Henrich ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität München.