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Frank, Manfred: Vom absoluten Grund zur Kunst Novalis und die Diskussionen um einen absoluten Grundsatz in der Frühromantik |
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Manfred Frank: Vom absoluten Grund zur Kunst Novalis und die Diskussionen um einen absoluten Grundsatz in der Frühromantik
"Was thu ich, indem ich filosofire?" So hatte sich Anfang Juli 1796 ein damals 24jähriger Mann gefragt, der wenig später seinen guten Familiennamen zum Schutz vor der politischen Zensur durch ein Pseudonym ersetzen mußte. Er hatte nur drei Stunden am Tag Zeit, sich solcherlei Fragen zu stellen. Denn sein Job war nicht die Philosophie. Vielmehr saß er eingekeilt im Räderwerk eines Verwaltungsjuristen beim Kreisamt in Tennstedt. Hier ist seine noch heute aufregende Antwort: ich denke über einen Grund nach. [...] Alles Filosofiren muß also bey einem absoluten Grunde endigen. Wenn dieser nun nicht gegeben wäre, wenn dieser Begriff eine Unmög-lichkeit enthielte ‑ so wäre der Trieb zu Filosofiren eine unendliche Thätigkeit ‑ und darum ohne Ende, weil ein ewiges Bedürfniß nach einem absoluten Grunde vorhanden wäre, das doch nur relativ gestillt werden könnte ‑ und darum nie aufhören würde. Novalis ‑ um ihn handelt sich's ‑ hatte von Oktober 1790 bis Oktober 1791 bei Reinhold in Jena studiert und mit ihm vertrauten Umgang. Carl Leonhard Reinholds philosophiegeschichtliche Leistung wird in der Begründung einer so genannten Elementarphilosophie gesehen. Deren Keimgedanke ist, daß wir die bisher tastende und ungewisse Wissenssuche auf ein letztes Fundament gründen können. Er nannte die Entdeckung dieses Fundaments ‑ pathetisch ‑ "das Eine, was der Menschheit Noth thut". Das Problem, auf das sich seine Entdeckung als Lösung empfahl, wurde 1789 von Jacobi in der erweiterten Zweitauflage seines Spinozabüchleins so beschrieben: Wenn wir Wissen als begründete Meinung beschreiben, geraten wir in einen infiniten Regreß. Wir gründen unsere Wissensansprüche auf Sätze, die wieder nur unter der Bedingung ein Wissen ausdrücken, daß sie von Sätzen begründet werden, die ein Wissen ausdrük-ken usw. Diesen Regreß könnte nur ein Satz beenden, der "un-bedingt" gilt. "Unbedingt" meint: ohne von einer höheren Bedingung abzuhängen. Ein solcher Satz müßte ohne weiteres als gültig eingesehen werden können: "einer Begründung weder bedürftig noch fähig". Er müßte also evident sein. Denn 'evident' heißt (wörtlich): was aus sich selbst heraus einleuchtet. Reinhold, wie gesagt, glaubte einen solchen Satz gefunden zu haben. Er nannte ihn 'Satz des Bewußtseins'. Aus ihm sollten sich alle anderen Sätze, die auf Wahrheit Anspruch machen können, entwickeln lassen ‑ entweder durch logische Ableitung oder analytisch. Mit 'analytisch' meinte Reinhold ungefähr dasselbe, was der heutigen analytischen Philosophie ihren Namen gegeben hat: dasjenige, was sich aus dem Verständnis der Bedeutung der benutzten Ausdrücke (samt dem der Formwörter) ergibt. An diesem Projekt, das sich 1794 in Fichtes Philosophie des absoluten Ichs zu vollenden schien, kamen unter Reinholds Schülern bald Zweifel auf. Sie wendeten sich nach drei Richtungen: Zum ersten wurde bestritten, daß sich ein System von Überzeugungen überhaupt auf eine Evidenz stützen läßt; denn Evidenzen sind private Bewußtseinserlebnisse. Unter Berufung auf sie kann man die intersubjektive Konsensbildung nicht umgehen, auf der doch das beruht, was wir ein Wissen nennen. Außerdem lassen sie sich bei genauerer Analyse nicht klar von den 'Ansprüchen des gemeinen Verstandes' abheben. Auch dessen Ansprüche können wir gewöhnlich nur auf sogenannte Intuitionen gründen ‑ d. h. wir glauben an sie. Glaubenssätze haben einen den euklidischen Axiomen ähnlichen Charakter. Würden sie bewiesen werden können, so verlören sie sofort ihren Status oberster Grundsätze ‑ denn ein Satz, der in einem anderen seine Begründung findet, ist kein oberster. So aber wird Wissensbegründung zu einem Glaubensartikel. Novalis wird sagen: "Es ist ein Product der Einbildungskraft, woran wir glauben, ohne es seiner und unsrer Natur nach, je zu erkennen vermögen [syntaktisch sic!]." ‑ Am ernstesten und folgenreichsten aber fiel der dritte Einwand aus: Reinholds oberster Satz steht tatsächlich gar nicht auf eigenen Füßen. Vielmehr setzt er andere Sätze zu seiner Begründung voraus, die angeblich aus ihm folgen. Dies wäre eine ruinöse Konsequenz für die Grundsatzphilosophie. Novalis hält sie jedoch für unvermeidlich. Damit macht er es der großen Schar von Frühromantik‑Forschern schwer, die sein frühes Denken als eine etwas phantastisch aufgemischte Abart des zeitgenössischen philosophischen Fundamentalismus ansehen. Noch schwerer macht er es den Editoren der kritischen Novalis‑Ausgabe, die zwar das große Verdienst haben, Hardenbergs früheste philosophische Aufzeichnungen erstmals in toto ediert und ihre Anordnung rekonstruiert zu haben, die aber durch die Titelwahl (nämlich Fichte‑Studien) eine ganz unangemessen einseitige Abbildung des jungen Hardenberg auf Fichtes frühen Idealismus vorgenommen und damit die Wirkungsgeschichte verzerrt haben. Tatsächlich wird der Idealismus‑kritische Grundimpuls des Novalis nur aus seiner frühen Reinhold‑Schülerschaft und aus der ‑ wenigstens indirekten ‑ Kenntnis der Reinhold‑ und Fichte‑Kritik seines früheren Hauslehrers (und Lebenshelfers) Carl Christian Erhard Schmid sowie seiner früheren Jenaer Kommilitonen Friedrich Immanuel Niethammer, Franz Paul von Herbert, Friedrich Carl Forberg und besonders Johann Benjamin Erhard einsichtig. Schmids Empirische Psychologie hatte No-valis nicht nur 1791 in Jena als Kolleg hören können; sondern er zitiert sie gelegentlich. Und Erhard, den Novalis noch 1797 seinen "wirklichen Freund" nennt, für dessen Anstellung in Ansbach er (über seinen Onkel, Minister in Berlin und späteren preußischen Staatskanzler) aktiv wurde und dessen Briefwechsel er noch von Teplitz aus, wo er im August 1798 mit dem gemeinsamen Freund von Herbert kurte, über seinen Adelsnamen laufen ließ, um den überall bespitzelten Jakobiner vor Zensur und Polizei zu schützen, war intellektuell zweifellos die überragende Figur des Reinhold‑Schülerkreises, auch wenn wir seine genialen Einwände mühsam aus Briefwechseln erschließen müssen, deren bedeutendster Teil obendrein unveröffentlicht ist und aus Archiven geborgen werden muß. In der Empirischen Psychologie hatte Schmid Reinholds Ausgehen vom Begriff der Vorstellung als Elementar‑Terminus der Philosophie unter Verweis auf Crusius herb, aber sachlich kritisiert. Der Begriff 'Vorstellung' sei darum als Deduktionsprinzip der Philosophie ungeeignet, weil er aus einer Vielzahl psychischer Erlebnisse oder Akte erst auf dem Wege der Abstraktion gewonnen worden sei. Aus einem solcherart gewonnenen Gattungsbegriff Ableitungen vorzunehmen, sei aber wohlfeil, da der Zirkel in die Augen springe: Ich gewinne aus Einzelereignissen via abstractionis dasjenige, aus dem ich alsdann prätendiere, sie abzuleiten. Diesen Einwand konnte Novalis auch durch seinen Leipziger Lehrer Karl Heinrich Heydenreich kennen, der ihn in einer vielbeachteten Rezension 1790 gegen Reinhold geltend gemacht hatte. Reinhold war von ihm so tief beeindruckt, daß er ihn in den Anhang des I. Bandes seiner Beyträge aufnahm und überhaupt sein Konzept der Deduktion‑aus‑oberstem‑Grundsatz modifizierte. Fortan unterschied er ein Enthaltensein‑in von einem Enthaltensein‑unter, so, daß das erstere die Implikation in nuce, die zweite nur das Verhältnis eines Gegenstands zu einer Klasse (oder eher: das Instantiierungsverhältnis eines Partikulare zu einem Universale) meint. Im ersten Fall haben wir mit Beziehungen zwischen Teilen und dem Ganzen zu tun, das sie trivialerweise mit Haut und Haar umfaßt. Die letztere Beziehung ist dagegen sehr schwach und taugt nicht als Ableitungsprinzip. Was unter einen Begriff fällt, ist in ihm keineswegs als Teil enthalten (vgl. schon Kant, KrV B 40). Wer z. B. den Gattungsbegriff des Rechts versteht, weiß insofern gar nichts über die gegenwärtige englische Rechtspraxis, obwohl sie doch als Art unter den Gattungsbegriff fällt. Oder wer den Begriff 'Säugetier' richtig versteht, weiß insofern gar nichts von der Existenz von Beutelratten. Aus dem Gattungsbegriff konstruierbar ist die Spezifikation a priori nicht. Darum hat Kant wohlweislich darauf verzichtet, den Gattungsbegriff 'Vorstellung' für ein Prinzip, gar ein Deduktionsprinzip zu erklären, obwohl er selbst gezeigt hatte, daß alle Begriffe mentaler Funktionen und Affektionen unter ihn fallen. Anders als die Mathematik arbeitet die Philosophie nicht mit 'gemachten', sondern mit 'gegebenen Begriffen'. Was unter ihnen enthalten ist, läßt sich nicht aus ihnen entwickeln, wie das der Fall ist mit den Konstruktionen der Mathematik. Diesen Unterschied vernachlässigt zu haben, war ein (von Rehberg aufgegriffener) Standardeinwand der Leibnizianer gegen Reinhold, der sich auch bei Erhard findet. Novalis schließt sich diesem Typ von Einwand in seinen Fichte‑Studien mit starken Formulierungen an. Mit den Notaten Nr. 466 ff. über den Widersinn, das Höchste als oberste Gattung zu fassen, bezieht er sich der Sache nach kritisch auf Reinhold. Denn der hatte nicht nur gesagt, der Ausdruck 'Grundsatz' stehe für einen 'Gattungsbegriff'. Er hatte die Philosophie auch aufgefordert, so lange am Leitfaden des Art‑Gattung‑Unterschiedes fortzufahren, d. h. so lange aufsteigend die Begriffe der nächsten Gattung [und desl nächsten Unterschiedes [...] in die nächste Gattung und in den nächsten Unterschied auf[zulöse[n], als man nicht überzeugt ist, daß man auf etwas unauflösliches, das folglich kein zusammengesetzter Begriff ist, gelangt sey. Und von diesem nicht weiter mehr analysierbaren Begriff, der natürlich nur ein einziger sein könne, hat Reinhold dann "als [von] de[m] die Einzig mögliche höchste Gattung bestimmenden Satz" gesprochen. Wenn dies der theoretische Kontext ist, auf den sich Hardenbergs Kritik bezieht, so macht sie in der Sache deutlich erkennbare Anleihen bei zwei Vorläufern in dieser Kritik: bei Heydenreich und Schmid. Schmid hatte zwei Begriffe unterschieden: Die Gattung Vorstellung nennt er "Generalvermögen" oder "Generalkraft", je nach dem, ob sie als Grund der Möglichkeit oder der Wirklichkeit von (einzelnen) Vorstellungen in Anschlag kommt, und präzisiert dann, daß sie "die übrigen unter sich begreift, wie das logische Geschlecht [also die Gattung] die Arten, aber diese Arten nach demjenigen, was sie unterscheidet, auf keine Weise begreiflich macht". Davon unterschieden sei die "Eine[...] einzige...] Substanz", die "radikale oder absolute Grundkraft", wie sie von den Dogmatikern, z. B. dem Spinoza, behauptet wurde. Unterstellt wird danach, daß aus ihr ‑ die freilich nur als kantische Idee angenommen werden darf ‑ die "Würklichkeit mannigfaltiger Erscheinungen gewisser Art [...] abgeleitet wird". Denn das Verhältnis der Grundkraft ‑ wenn es eine gäbe ‑ zu dem aus ihr 'Abgeleiteten' wäre dasjenige des Enthaltenseins‑in oder von Ganzem und Teil. Mit dem Nachweis, daß die Hypostasierung einer solchen Grundkraft nur das Ergebnis einer progressiven Abstraktion von irreduzibel pluralen Gemütskräften und Be-wußtseinsfunktionen sei, wollte Schmid neben den Wolffianern vor allem Reinholds Grundsatzphilosophie treffen. Freilich würde er auch noch gegen den Fichte der ersten Wissenschaftslehre (von 1794/95) recht behalten haben, den er tatsächlich in einer Systemskizze des Philosophischen Journals (III/2, 1795, 95‑132) angreifen wird. Fichte führt den Gedanken des Ichs‑als‑Selbstbewußtsein auf "das absolute Abstraktionsvermögen" zurück, kraft dessen von allem, was nicht Ich sei, also von allem Objekt abgesehen werde. Je weiter diese Abstraktion vorangetrieben werde, "desto mehr nähert sein empirisches Selbstbewußtseyn sich dem reinen". Es ist klar, daß für diese Abstraktion das gleiche gilt, was Heydenreich (und mit ihm Schmid) dem obersten Grundsatz der Reinholdschen Philosophie, dem Begriff der Vorstellung, vorgehalten hatten. Die Vorstellung und das Vorstellungsvermögen sind nicht das prius, sondern das posterius, und können auf keine Weise Prämissen für die Wis-senschaft abgeben. Schmid hat Reinhold aber in einer Rezension der Fundament‑Schrift in der Jenaer ALZ noch einmal sehr wirkungsvoll ange-griffen. Er zeigt, daß Reinhold sich täuscht, wenn er glaubt, das Gesamt der kantischen Vermögen auf einen Grundsatz reduzieren zu können. Ein für Novalis ausschlaggebender Zwischenschritt in diesem Nachweis lautet, daß Reinhold, statt die Folgesätze aus dem Satz des Bewußtseins, als dem Fundamentalsatz, abzuleiten, wenigstens einige von ihnen vielmehr als schon gültig stillschweigend voraussetze ("daß der Satz des Bewußtseyns das wenigste dabey gethan hat, jene Sätze zu demonstriren, daß [vielmehr bei dieser sogenannten Ableitung] andere Sätze unvermerkt und stillschweigend zu Hülfe/ genommen wurden". Schmid zeigt das schlagend an einigen Beispielen. Unter ihnen kommt zwar nicht, wie bei einem weiteren Reinhold-Kritiker, nämlich dem Tübinger Ex‑Repententen Immanuel Carl Diez, die Selbsttätigkeit des Bewußtseins vor, die beim Produzieren der Form (aber überhaupt bei allen Aktivitäten, von denen der Satz des Bewußtseins berichtet) stillschweigend vorausgesetzt wurde, wohl aber das Kausalgesetz. Die Geltung des Kausalgesetzes, meint Schmid, mußte Reinhold bei seinem Theorem der Lieferung des Stoffs durchs Ding an sich schon voraussetzen; mitnichten aber habe er die Geltung der Kausalität aus dem Satz des Bewußtseins erwiesen. Gefühl und Begierde seien aus dem Gattungsbegriff der Vorstellungen vollends gar nicht abzuleiten. Schließlich habe Reinhold gar nicht die Prämisse freigelegt, aus der Subjekt und Objekt, als die nicht 'unmittelbaren' oder 'inneren', sondern bloß 'mittelbaren' oder 'äußeren' Bedingungen der Vorstellung, "geschlossen werden". Mit einem solchen Schluß habe es nun zusätzlich folgende intrikate Bewandtnis: Will ich die äußeren Bedingungen der Vorstellung ‑ das real existierende Subjekt und das wirkliche Objekt ‑ aus ihren 'Äus-serungen' in der "bloße[n] Vorstellung" erschließen, so müßte diese Inferenz nach dem Schema eines kantischen Vernunftschlusses erfolgen; "zu einem [solchen] Schlusse würde aber wenigstens noch ein Vordersatz nöthig seyn, der eben so ursprünglich wie der Satz des Bewußtseyns seyn müßte" . Nun heißt der kantische Vernunftschluß ein 'mittelbarer' Schluß, weil er zur Erzielung seiner Conclusio außer der allgemeinen In-ferenzregel, die als Obersatz dient, noch eines (singulären) Untersatzes bedarf, der vom Obersatz logisch unabhängig ist. (Fällt diese Einschränkung weg, ist also der Untersatz logisch abhängig vom Obersatz, haben wir es mit einem 'unmittelbaren' oder 'Verstandesschluß' zu tun. Z. B. folgt aus 'Alle Katzenraubtiere haben ein Fell' unmittelbar 'Einige Katzen haben ein Fell', aber nur mittelbar 'Murr hat ein Fell'; denn 'Murr ist ein Katzenraubtier' ist ein Wahrnehmungsurteil, als solches singulär und kann nicht die Konsequenz des Allsatzes in der Prämisse sein.) Schmids Einwand, wonach das deduktive Verfahren der Grundsatzphilosophie an einem Gebrechen im Syllogismus leide, hatte eine erhebliche Karriere, und ich komme darauf noch zurück. Er wäre, wenn triftig, tödlich für das Philosophieren aus einem Grundsatz: Denn selbst wenn Reinholds Verfahren des inferentiellen Rückgangs auf die Prämissen erfolgreich wäre, führte es nicht auf einen, sondern auf zwei voneinander (logisch) unabhängige Grundsätze ‑ ähnlich der Operation, die Friedrich Schlegel später unter dem Titel des 'Wechselgrundsatzes' erwägen wird. Nun folgt aber eine ganz grundlegende Konsequenz: Sind solche Prämissen vor-ausgesetzt und nicht ihrerseits aus dem Fundamentalsatz hergeleitet, dann hat Reinholds Verfahren nicht den Charakter der analytischen Ableitung aus durch Evidenz gesicherten Prinzipien, also den der Zergliederung der Bedeutungsimplikate des Ausgangssatzes. Der Charakter der Ableitung ist vielmehr lediglich der eines hypothetischdeduktiven Verfahrens nach Art von Kants Ableitung aus (regulativen) Vernunftideen: "Was aber nur als Hypothese angenommen wird, das kann in dieser Eigenschaft nicht auf Allgemeingültigkeit Anspruch machen, weil es frey steht, ob man diese, oder eine andere, oder gar keine Erklärungshypothese für die unzweifelhafte Thatsache annehmen will" . Schließlich ist die Prämissenmenge, aus der ein Explicandum (nach einer oder auch mehreren allgemeinen Regeln) folgt, offen. Anders gesagt, sie ist durch den Bestand dieses konkreten Explicandum nicht hinreichend bestimmt. Das hatten ge-rade auch Kant, Maimon und AenesidemusSchulze immer wieder betont. Jetzt aber sind die ungleich eindrucksvolleren, weil für die Fortspinnung einer Philosophie aus kantischem Geiste wirkungsmächtigeren, Einwände Erhards zu hören. Sie bringen am präzisesten auf den Punkt, was eigentlich Gemeinschaftsüberzeugung der kritischen unter den Reinholdschülern war und was unter ihnen im Briefaustausch entwickelt wurde. Zunächst bestreitet Erhard nicht die Tatsache des Selbstbewußtseins als einen ersten Satz (oder Ausgangspunkt) der Philosophie. Zwar hatte auch Reinhold das Selbstbewußtsein zunächst nicht in die Stellung eines solchen ersten Satzes erhoben, wurde aber unter dem Einfluß seiner Kritiker, darunter des früheren Tübinger Repetenten (Immanuel Carl) Diez, im Sommer 1792 in diese Richtung gedrängt. Tatsächlich ist es in den Standardformulierungen seiner Theorie des Vorstellungsvermögens (ab 1790) das Subjekt, welches als alleiniger Aktor aller Operationen auftritt, von denen der 'Satz des Bewußtseins' redet: Es ist nämlich das Subjekt, welches im Bewußtsein die Vorstellung auf sich selbst und auf das Objekt bald bezieht, bald von ihnen unterscheidet. Buchstabiert man die so eröffneten Möglichkeiten aus, so kommt man schnell zu der Einsicht, daß sie alle als bewußte Selbstbeziehungen charakterisiert werden müssen und daß allein das Subjekt tätig ist. Novalis notiert mit Bezug auf Reinholds Ausgangspunkt: "Das Subject wird in allem Bewußtseyn vorausgesezt ‑ es ist der absolut thätige Zustand des Bewußtseyns". Das nimmt auch Erhard an. Allerdings weist er dem Selbstbewußtsein epistemisch keine Sonderstellung zu. In einer sarkastischen Rezension von Schellings Ich‑Schrift, die deren Verfasser so verärgerte und verunsicherte, daß er in einer umständlichen und aggressiven Replik gar leugnete, es mit dieser Schrift überhaupt auf eine Philosophie‑aus-oberstem‑Grundsatz abgesehen zu haben, ‑ in dieser Rezension also wirft Erhard denen, die über ein angeblich absolutes Ich spekulierten, vor, sie beschreiben dasselbe in Ausdrücken, die es von einem möglichen Gegenstand unseres (empiri-schen) Bewußtseins radikal unterscheiden. Bewußt wird uns nur, was bestimmt, damit gegen anderes abgegrenzt ist. Da solcherlei Bewußtsein nach Erhard die Sphäre alles Bewußtseins erschöpft (natürlich neben demjenigen unserer moralischen Persönlichkeit), ist das Ich in seiner absoluten Freiheit uns unbewußt. Seine vermeinte Absolutheit und Reinheit beruhe auf seiner objektiven Unbestimmtheit. Für die gebrauche Schelling den Ausdruck 'intellectuale Anschauung'. Erhard schließt mit schneidendem Spott: So weit er [der Rezensent] es fassen kann, so ist der reale Gegenstand desselben [sc.: des Schellingschen Systems], durch Nichts verbürgt, als durch eine intellectuale Anschauung, die diesen Namen in soferne nicht einmal verdient, als an ihr Nichts angeschaut wird, denn in seinem ganzen Inneren kann Rec.[ensent] Nichts finden, worauf die Prädikate des absoluten Ichs paßten, wenn er nicht den absichtlich gedankenlosen Zustand dafür nimmt, in den man sich versetzen kann, wenn man den Gang seiner Einbildungskraft gänzlich hemmt, und kein Gefühl als das der Selbstbestimmbarkeit hat. Dieses besondere Gefühl hat nun freylich etwas sehr Geheimnisvolles, weil man Nichts darinn unterscheiden kann, und eine darauf gegründete Philosophie kann nicht anders ausfallen als die Lebensbeschreibung des Niemands. Man kann alles Mögliche davon sagen, ohne Gefahr je darüber zur Verantwortung gezogen zu werden, weil man jederzeit das, was der andere widerlegt, nicht damit gemeynt hat. Unterdessen ist es aber doch nicht vorauszusetzen, daß in Deutschland eine Philosophie errichtet werden sollte, die mit dem Versinken in das große Nichts, das einige indische Secten/ als das höchste Gut anrühmen, einerley Princip und einerley Endzweck hätte, sondern es muß nothwendig etwas edleres zum Grunde liegen. Dieses kann nun Nichts seyn, als das Gefühl unserer Persönlichkeit. [...] als moralische Wesen sind wir [in der Tat] kein Gegenstand des Wissens, sondern da sollen wir handeln. Zwar zieht Novalis diese moralisch-philosophische Konsequenz keineswegs. Wohl aber stimmt er mit Erhard in der Überzeugung überein, daß "so sowenig [...] ein absolutes Subject [ist], als ein absoluter Raum". Schon im ersten Einsatz der Fichte‑Studien hatte Novalis über die Bedingungen nachgedacht, unter denen dem Bewußtsein ein transzendentes Sein (oder "Urseyn") vermittelt werden kann. Das höchste Bewußtsein ist ihm keine Selbstsetzung, sondern das (passive) Gefühl einer Grenze, jenseits deren ein zu Glaubendes angenommen wer-den muß: Ich [ist] im Grunde nichts [...] ‑ Es muß ihm alles Gegeben werden"; und "[d]ie Filosofie bedarf daher allemal etwas Gegebenes"; "[w]ir werden [mit leeren Kategorien] gebohren ‑ i. e. mit Fächern ohne Inhalt. [...] Sie wollen gefüllt seyn ‑ Sie sind nichts ohne Inhalt ‑ Sie haben einen Trieb zu seyn, folglich Inhalt zu haben, denn sie sind nur, insofern sie Inhalt haben, wirklich. Diese Inhalt‑Gabe muß sich freilich der Struktur unseres Bewußtseins bequemen, das Novalis als Reflexion, und damit als Verstellung und Verkehrung des Gegebenen denkt. Die Reflexion kann sich allerdings über ihr 'verkehrtes Wesen' aufklären und es damit korrigieren. Auf den ersten Seiten operiert auch Novalis noch mit der Annahme einer 'intellectualen Anschauung', die freilich anders als die Schellingsche verfaßt ist (in ihr wird nicht eine Seinsfülle ‑ plenitudo realitatis ‑ präsentiert, sondern es wird aufgefaßt unser Unvermögen, eine solche zu erkennen: "der Geist des Gefühls ist da heraus"; "die Grenzen des Gefühls sind die Grenzen der Filosofie"; "[d]er Mensch fühlt die Grenze die alles für ihn, ihn selbst, umschließt, die erste Handlung; er muß sie glauben, so gewiß er alles andre weiß". Im Verlauf der Fichte‑Studien verliert die intellektuale Anschauung dann immer mehr ihre Funktion und wird endlich aufgegeben zugunsten eines Rückgriffs auf die kantische Ideen‑ und Postulatenlehre, ganz im Geiste Schmids und Erhards. Erhard hat den Glauben vieler Zeitgenossen an die Möglichkeit einer Philosophie aus oberstem Grundsatz aber noch wirkungsvoller durch einen methodischen Zweifel erschüttert: Die Philosophie [sagt er,] die von einem Grundsatz ausgehet, und sich anmaßt alles darauß abzuleiten, bleibt auf immer ein sophistisches Kunststück, allein die Philosophie, die biß zum höchsten Grundsatz hinaufsteigt, und alles andere mit ihm in vollkommner Harmonie darstellt, nicht darauf ableitet, ist die wahre. Diese Methode nennt er in Briefen an Reinhold und Niethammer (vom Juli 1792 und vom Mai 1794) diejenige der Analysis. Sie schreitet ‑ orientiert an einem Sprachgebrauch der Wolff‑Schule, dem auch noch Kant anhängt ‑ vom Begründeten zum Grund. Reinholds und Fichtes Deduktionen wären dagegen synthetisch. Synthetisch kann die Philosophie aber darum nicht vorgehen, weil der Bewußtseinssatz oder derjenige, in dem sich Fichtes Ich aussagt, nicht schon gerechtfertigt ist, also nicht auf eigenen Füßen steht. Vielmehr ist seine Wahrheit an Voraussetzungen gebunden, über die diese Sätze nicht schon anfangs verfügen. Erst im abduktiven Aufstieg vom Bedingten zu seiner nachfolgenden Bedingung lassen sie sich erreichen, und zwar immer nur mit hypothetischem Anspruch. Nimmt man nun außerdem noch an, daß dieser Gang ins Unendliche führt, d. h. daß letzte Gewißheit überhaupt ausbleibt, so muß man den Gedanken definitiver Begründung ganz aufgeben. An die Stelle des Unendlichen tritt die (romantische) 'Sehnsucht' danach; und an die Stelle einer Evidenztheorie der Wahrheit tritt eine solche, die alle Verhältnisse der Welt und des Bewußtseins in möglichst genauer 'Harmonie' zeigen muß (wie Erhard sagt). Es handelt sich also um eine Art Kohärenztheorie, der auch Novalis anhängt; so, wenn er den Grund, durch den die Philosophie ihre Überzeugungen rechtfertigt, nicht als gegeben bezeichnet, sondern als aufscheinend im "Zusammenhang [alles Einzelnen] mit dem Ganzen" . Diese Kohärenzstiftung, fährt er fort, verbleibe als einzige Möglichkeit der Plausibilierung seiner Überzeugungen demjenigen, der vom Gegebensein eines 'absoluten Grundes' absehen und darum den "eigentlichen absoluten Grund[...] durch Verknüpfung (Verganzung) des Zu Erklärenden / zu einem Ganzen [geltend machen]" muß. Novalis nennt dies Verfahren 'Verganzung'. An die Stelle des Unbedingten tritt für die Romantiker die Suche nach ihm. "Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge". Reinhold hat in dem kürzlich durch Dieter Henrich erstmals veröffentlichten Schreiben an Erhard vom 18. Juni 1792 (in: Immanuel Carl Diez, Briefwechsel und Kantische Schriften, 1997, Klett-Cotta, Stuttgart) zugegeben, daß es Schmid und Diez waren, die ihn zu einer vollständigen Umwandlung seiner Fundamentalphilosophie veranlaßt haben. Diez hat aber die Einwände Erhards, die ihm ‑ wie Henrich zeigt ‑ durch Niethammer bekannt waren, nur auf den Punkt gebracht. Durch diese Einwände kehrt sich das Verfahren der Begründung aus letztem Fundament um in dasjenige der Grundsuche, von der nicht im vorhinein abzusehen ist, wo und ob sie enden wird. Und genau dieser Konsequenz blickt Novalis mit seiner Bestimmung der Philosophie als unendlichoffener Grundsuche ins Auge. Die kantische Philosophie hatte letzte Begründungen für unsere Überzeugungen 'Ideen' genannt. Darunter hatte Kant Begriffe verstanden, die wir annehmen müssen, um Einheit ins System unserer Annahmen zu bringen, denen wir darum aber noch lange keine objektive Realität zusprechen dürfen. Wird nun Begründung zu einer 'bloßen' Idee, so gelingt sie nur noch hypothetisch. Würden wir, sagt Novalis, ihre Realisierung tatsächlich "verfolgen", so gerieten wir "in die Räume des Unsinns". So sagt er: "Alles Suchen nach der Ersten [Gattung] ist Unsinn ‑ es ist regulative Idee." Oder: "[Was wir suchen] aber ist nur ein regulativer Begriff, eine Vernunftidee ‑ es ist also thöricht ihr reale Wircksamkeit beyzulegen. Wir suchen also ein Unding." Ja, er erwägt, ob (Fichtes) "Ich" nicht, "wie alle Vernunftideen blos regulativen, classificirenden Gebrauchs [ist] ‑ Gar nicht in Beziehung zur Realität". Von einer solchen Idee kommt man nicht stetig zu den Bestimmungen der empirischen Wirklichkeit. Auch kann eine faktische Kontrolle über Argumentationsabläufe durch eine Idee nicht geübt werden. 150 Jahre später wird Wittgenstein sich notieren, daß 'die Kette der Gründe ein Ende hat'. Aber nicht, weil wir auf eine (intersubjektiv einleuchtende) Evidenz gestoßen wären, "sondern weil es ‑ in diesem System ‑ keinen Grund gibt''.l Novalis geht aber viel weiter, wenn er von den Begriffen, die Einheit des Überzeugungssystems und Begründung verbürgen, als von 'nothwendigen Fictionen' spricht. Eine Fiktion ist keine Findung, sondern eine Erfindung. Das oberste Princip muß schlechterdings nichts Gegebenes, sondern ein Frey Gemachtes, ein Erdichtetes, Erdachtes, seyn, um ein allgemeines metaphysisches System zu begründen [...]. Das ist nicht nur eine sehr starke und im fundamentalistischen Kontext des absoluten Idealismus wahrhaft verwunderliche Konsequenz. Durch sie schließt sich auch wieder der Kreis, der zu Erhards Methode der Analysis des Vorstellungsvermögens zurückführt. Diese Methode wurde nämlich gelegentlich als diejenige der 'Erfindung' charakterisiert, so von dem jüngeren Reimarus (Johann Albrecht Hinrich, Sohn des be-kannten Samuel), einem damals bekannten (Arzt und) Logiker, mit dem Erhard in Briefwechsel stand und von dem Novalis Kenntnis haben konnte durch ein LogikBuch Johann Christoph Hoffbauers, dessen Benutzung er in den Fichte‑Studien ausweist. Durch den Erfindungscharakter schleichen sich Ungewißheitsmomente ins Verfahren der philosophischen Analysis ein. Dies habe zwar schon Wolff gesehen. Aber erst der jüngere Reimarus, sagt Hoffbauer, habe genauer bestimmte Konsequenzen daraus gezogen. E r f i n d e n, sagt [dies]er, heißt so viel, als/ durch eignes Nachdenken zum Erkenntnis des bisher Unbekannten gelangen. [...] Der Erfinder gelangt zu demjenigen, was er findet, nicht durch die mechanische Anwendung einer Regel, durch welche er des Gesuchten schon im voraus versichert seyn kann, und wir erfinden [...] z w e y t e n s dasjenige nicht, was wir durch die mechanische Anwendung einer Regel herausbringen. Man kann daher sagen: Erfinden heiße das, was uns bisher unbekannt war, aus dem uns Bekannten auf eine Art finden, bey welcher wir nicht bloß einer uns vorher bekann/ ten Regel folgen. So rückt das Verfahren der analytischen Grundsatz‑Suche in die Nähe der Erfindung, eines regelsetzenden, aber nicht regelbefolgenden Verfahrens, das immer schon mit der Praxis der Dichtung (und allgemeiner: der Kunst) verbunden worden ist. Wie fragt Walther von Stolzing in den Meistersingern: "Wie fang' ich nach der Regel an?" Und Hans Sachs antwortet: "Ihr stellt sie selbst, und folgt ihr dann." Natürlich konnte diese Konsequenz nicht ohne Reiz sein für den Juristen, Mineralogen und Dichter Novalis, der mit der Zeit Geschmack daran fand, "diese Spitzberge der reinen Vernunft" hinter sich zu lassen "und wieder im bunten erquickenden Land der Sinne mit Leib und Seele [zu] wohne[nl". Man kann die Philosophie hochschäzzen, ohne sie zur Hausverwalterin zu haben, und einzig von ihr zu leben. Mathematik allein wird keinen Soldaten und Mechaniker, Philosophie allein keinen Menschen machen. Das gilt für ein Universalgenie wie den Novalis natürlich erst recht unter der (von Kant nicht akzeptierten) Voraussetzung, daß auch die Verfahren der Wissenschaften Genie, also künstlerische Begabung, verlangen. Es geht hier ‑ wohlbemerkt ‑ nicht um Erfindungen irgendwelcher Art. Was einer Findung nicht gegeben, sondern als zu Er-findendes aufgegeben ist, ist (in des Novalis Worten) ein 'absoluter Grund'. Nur er könnte unserem hinfälligen Leben und seinen unsicheren Überzeugungen Halt geben. Aber ein solcher Grund ist im Wortsinne Fiktion: (Er‑)Dichtung. Mit der Bestimmung der Grund‑Suche als Erfindung fällt dem Verfahren der Künste eine Schlüsselrolle zu. Sie haben den Auftrag, ein mit Mitteln rationaler Begründung ungreifbares Letztes indirekt uns zu vergegenwärtigen. Und diese hohe Bestimmung haben sie lange behalten, bevor Arthur C. Danto das Ende der Invention und den Ausverkauf der Innovation verkündete. Wir vergessen zu schnell, was der Ausdruck 'Kunstreligion' in seiner Zeit eigentlich meinte und mit wie priesterlichem Selbstverständnis nicht nur die Symbolisten (bis hin zu George), sondern sogar die provokativen Expressionisten und Surrealisten, ja selbst Joseph Beuys ihre Produktion verstanden. Für Autoren der Kritischen Theorie ‑ allen voran Adorno ‑ ist es die fiktive Welt der Kunst, in welche sich die letzten und einzigen verallgemeinerungsfähigen Ansprüche einer insgesamt und unrettbar verblendeten Menschheit gerettet haben. Heidegger oder Derrida versuchen, die Philosophie selbst um die Sprache der Kunst zu erweitern, ja in dieselbe ausmünden zu lassen. Selbst Wittgenstein wollte den Tractatus als literarisches Kunstwerk verstanden wissen, in welchem das Gesagte den Raum des Unsagbaren ausspart, der aber die eigentliche Botschaft des Werks darstellt. Und als 'Darstellung des Undarstellbaren' ‑ des eigentlichen Grundes unseres bewußten Lebens ‑ wollte schon Novalis die Kunst verstanden wissen. Anderswo notiert er: Vom Unerreichbaren, seinem Carakter nach, läßt sich keine Erreichung denken ‑ es ist gleichsam nur der Idealische Summenausdruck der ganzen Reihe und mithin [nur] scheinbar das lezte Glied ‑ der Typus jedes Glieds, von jedem Gliede indicirt. [...] [Darum sind d]ie höchsten Kunstwerke [...] schlechthin ungefällig ‑ Es sind Ideale, die uns approximando gefallen können - und sollen - ästhetische Imperative. Durch die unausdeutbare Sinnfülle des Kunstwerks, meint er, spricht zu uns ‑ allegorisch (also: etwas anderes meinend, als es oberflächlich sagt) ‑ dasjenige, was wir nicht in die Helle des Begriffs und der Eindeutigkeit rücken können. Es ist das "Räthsel unseres Daseins"; "unerschöpflich" soll das Kunstwerk sein: "wie ein Mensch". So steht die Kunst der Wahrheit bei, daß das Wesentliche, was es über uns Menschen zu sagen gibt, dasjenige, das unseren wackligen Überzeugungen einen Halt geben wür-de, nicht als ein Besitz zu haben ist. Darum werden Romantiker von der "Sehnsucht" umgetrieben ‑ Sehnsucht ist schließlich ein Zustand des Nicht‑Habens, des Nicht‑Besitzens. Wir können uns dem Ersehnten nur in 'unendlicher Annäherung' ("approximando") entgegenarbeiten. Um die Zeit, da Novalis seinen Gedanken über die Unendlichkeit, d.h. die Unmöglichkeit der Philosophie‑als‑Wissenssuche, notierte, bekam er Besuch von "Forberg in Jena, der eben nach langer Unterbrechung unserer Freundschaft, mir ein Herz voll Zärtlichkeit für mich zeigte". Der hatte mit ihm zusammen bei Reinhold studiert. Offenbar war Forberg so begeistert von Novalis' eingangs dieses Essays zitierter Formulierung, daß er ein Jahr später in seinen Briefen über die neueste Philosophie schrieb: Also so etwas, wie ein letztes Darum, ein letzter UrGrund ist, werde ich suchen müssen, um die Foderung meiner Vernunft zu erfüllen. Wenn denn aber so ein letzter UrGrund unmöglich zu finden [...] wäre? ‑ So würde weiter nichts daraus folgen, als daß die Foderung meiner Vernunft auch niemals völlig zu erfüllen wäre ‑ daß die Vernunft [...] ihre Forschungen ins Unendliche fort[...]setzen [müßte], ohne sie in Ewigkeit zu Ende zu bringen. Das Absolute wäre dann weiter nichts, als die Idee einer Unmöglichkeit [...]. [Aber] ist ein unerreichbares Ziel darum weniger ein Ziel? Ist die Aussicht gen Himmel weniger entzückend, weil sie immer nur ‑ A u s s i c h t bleibt?
Manfred Frank ist Professor für Philosophie an der Universität Tübingen.
Eine ausführliche Fassung dieses Beitrages (mit allen Zitatbelegen und vielen Fußnoten) sowie weiteren Arbeiten seiner Schüler zu diesem Thema erscheint noch im Oktober im "Athenäum", Jahrbuch für Romantik (Schöningh Verlag, Paderborn). Zum Thema ist von Manfred Frank in erweiterter und verbesserter Neuauflage 1998 erschienen: "Die Anfänge der philosophischen Frühro- mantik" (stw 1328, Suhrkamp, Frankfurt).
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