PhilosophiePhilosophie

01 2020

René Weiland:
Was lässt ein Gespräch gelingen?

aus: Heft 1/2020, S. 108-113

 

Dass wir miteinander reden, ist das Alleralltäglichste – kaum der Rede wert. Worüber nicht geredet wird, definiert etwas als „normal". Sobald man über das Normale zu sprechen beginnt, gerät man außerhalb davon: Es hört auf, normal zu sein. Dass wir überhaupt miteinander reden können, dass wir einander über alle Unterschiede – auch der Sprachen – hinweg verständlich zu machen vermögen, erscheint dann wie ein Wunder.

Es ist das Denken, das uns die Unwahrscheinlichkeit des Normalen selbst offenbart. Wie aber kommen wir zum Denken? Wir müssen in irgendeiner Weise die Erfahrung einer Diskrepanz gemacht haben, die uns aus unserer Balance gebracht hat. Wohl die erste solche Erfahrung ist die einer Differenz von Innen und Außen. Wir machen sie von klein auf, beginnend mit der Erfahrung, dass unsere Mutter, nachdem wir mit ihr in Symbiose waren, uns zur Welt gebracht hat. Ab dann ist unsere Geschichte eine von Getrennt- und Unterschiedenheit. Denkend übertragen wir deren Grunderfahrung auf alle Situationen, in die wir je geraten. Und dies nicht nur in Hinblick auf die Anderen, sondern auf uns selbst: So sehr ich zeitlebens der Andere der Anderen bleibe (und vice versa), so wenig komme ich jemals bei mir „an".

Auf die Frage bezogen, was ein Gespräch gelingen lasse, heißt das: Noch ehe ich mit irgendjemandem sprechen kann, muss ich selber erst zu Sprache kommen. Ich suche nach Worten. Ich würde keine finden, wäre ich nicht schon sprachfähig. Dazu gehört noch, paradoxerweise, dass mir die richtigen Worte gerade jeweils fehlen, dass ich um meinen Selbstausdruck ringen muss. Ebenso sehr könnte ich ja auch verstummen und mir insgesamt entgleiten. So sagt uns schon die Alltagserfahrung, dass wir einen Gedanken erst haben, wenn wir ihn aus uns heraus-, in eine allgemein verständliche Sprachform gebracht haben. Solange ich dies nicht schaffe, bin ich nicht einmal imstande, ein Gefühl zu haben. Eher hat, umgekehrt, das Gefühl mich: Ich weiß nicht, was eigentlich mit mir los ist.

Das Dreieck des Verstehens

Noch bevor ein Gespräch mit jemandem in Gang kommt, bringt etwas unser Inneres in Bewegung, wühlt es auf. Es ist, erneut, wie ein Wunder, dass wir überhaupt miteinander flüssig reden und nicht voreinander stocken und stammeln. Dass uns dies gelingt, liegt wohl daran, dass wir, wenn wir miteinander reden, je schon auf ein Drittes von Innen und Außen vertrauen können, das uns verbindet. Folgen wir dem amerikanischen Philosophen Donald Davidson, dann braucht es, damit wir uns erfolgreich verständigen, nicht einmal dieselbe Sprache. Es reicht zu wissen, dass der Andere ein denkendes Wesen ist wie ich. Als Denkende sind wir allesamt gedanklich auf etwas in der Welt bezogen, das von uns selber unterschieden ist, während wir den Inhalt unserer Gedanken ganz und gar von dorther beziehen.

Es geht zunächst darum, dies Etwas, worauf der Andere denkend referiert, in der Welt – außerhalb von ihm wie von mir – dingfest zu machen. Des weiteren geht es darum, die sprachliche Bezugnahme des Anderen darauf meinerseits zu interpretieren, d.h. mit starken Mutmaßungen zu versehen. So erst verstehe ich ihn – und sei es auch, dass ich ihn missverstehe. Um zunehmend besser zu verstehen, also mein womöglich irrendes Verstehen zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren, muss ich in direkte Kommunikation mit dem Anderen treten. Entscheidend ist, nach Davidson, dass sich ein Dreieck bildet: dass sich unser beider Perspektiven auf ein uns gleichermaßen äußerliches wie gemeinsames Drittes zu schneiden beginnen. Deren Schnittpunkt fixiert sozusagen ein von uns beiden intersubjektiv ausgehandeltes Objektives. Nicht dass wir zu wissen begännen, was objektiv sei und was nicht. Das einzige, was wir wissen, ist, dass wir beide an etwas Gemeinsamem teilhaben, das zugleich von uns unabhängig in der Welt existiert.

Es ist das verborgene Ziel eines jeden Gesprächs, unsere Beziehungen zueinander immer neu auf dieses verbindende Dritte hin zu überprüfen. Was gleichermaßen voraussetzt, dass wir es nie direkt erhaschen, noch je in wissenden Besitz bekämen. So müssen wir wohl oder übel immer wieder aufs Neue das Gespräch miteinander suchen. Indem wir dies tun, vergewissern wir uns in eins, eben dreieckshaft, der Welt, des Anderen und unserer selbst.

 

Verstrickung und Spaltung

Immer schon finden wir uns von etwas umgeben bzw. von ihm getrennt vor. Es beginnt mit dem Körper, der wir einerseits sind, in dem wir andererseits wie in einer Hülle stecken. Und es endet nicht mit dem Horizont, der die sichtbare Welt umfasst; denn auch er verschiebt sich immer neu mit unseren eigenen Bewegungen und gibt so ein sich ständig veränderndes Gesicht der Welt frei.

Dasselbe gilt im Umgekehrten: Noch in unserem eigenen Inneren steckt etwas, das ihm äußerlich ist. Im Theaitetos lässt Platon seinen Sokrates die Seele wie mit Wachs ausgestattet beschreiben. Nicht weil sie rein und leer wäre, ist die Seele aufnahmefähig für äußere Eindrücke, sondern weil sie, im Gegenteil, etwas mitbringt, das sie dem Außen zur Gravur entgegenhält. Wobei ihre Aufnahmefähigkeit noch nichts über die Richtigkeit ihrer Erkenntnisse aussagt. Im Maße ihrer Fähigkeit, sich im wahrsten Sinne vom Außen beeindrucken zu lassen (man denke nur an Sigmund Freuds Reflexionen über den „Wunderblock", jene mit Wachs beschichtete Zeichenfläche, die von außen immer neu gelöscht werden kann, während sich, unsichtbar, sämtliche Spuren in sie einprägen), ist die Seele eher anfällig für Irrtümer. Alleine mit sich in denkendem Selbstgespräch, verstricken sich in ihr auf ähnliche Weise Innen und Außen, wie sie selber bereits eine Mischung aus beidem darstellt.

Um Erkenntnis zu gewinnen, sortieren wir denn auch Äußeres von Innerem. So haben sich, grob gesprochen, die Naturwissenschaften als Wissenschaften des Außen und die Geisteswissenschaften als solche des Innen gebildet. Man könnte, ebenso grob gesprochen, die klassische Aufgabe der Philosophie darin sehen, beide immer wieder neu zusammenzubringen: sie in ein und denselben allgemeinsprachlichen Diskurs zu zwingen. Dazu gehört, dass uns die Philosophie auf ebenso neue Weise naiv auf die Welt und uns selber blicken lässt. Wozu wiederum gehört, dass uns Äußeres und Inneres neu vor Augen treten.

Das betrifft zugleich unser Welt- und Selbstverhältnis. Rein äußerlich genommen, ist die Welt der jeweilige Ausschnitt des Erscheinenden. Von innen gesehen, ist sie, was uns erscheint. Als solches stellt sie das Pendant der von uns mitgebrachten, gerichteten Aufmerksamkeit dar. Das heißt: Bevor sie uns erscheint, fungiert sie bereits als Projektionsfläche unserer inneren Vorstellungen vom Ganzen. Es sind diese Vorstellungen, die unser grundsätzliches Verhältnis zum Außen bestimmen. Sie sind es, die wir am allerwenigsten durchschauen. So meinen wir denn auch, die Welt schon zu kennen, ohne sie stets neu sehen lernen zu müssen: Was vordem pragmatische Bedingung für ein Erkennen war, nämlich Innen und Außen getrennt voneinander zu behandeln, führt zu einer Auswendigkeit von Erkenntnis, worüber wir zunehmend nur wahrnehmen, wovon wir ohnehin innerlich überzeugt sind.

Aus der Welt fallen

Subjekte, die wir sind, leben wir unser Leben aus der Innenperspektive. Diese begründet, nach Auffassung etwa von Richard Avenarius, dem Begründer des Empiriokritizismus, unsere natürliche Weltansicht. Ihr entspricht ein natürlicher Weltbegriff, auf dem noch die verschiedenen Weltbegriffe der unterschiedlichen Philosophien aufbauen. Diese sind, nach empiriokritischer Auffassung, lediglich Variationserscheinungen von jener. Gleichwohl fühlen wir uns innerhalb unseres natürlichen Weltbegriffs alles andere als heimisch und sicher. Wir wissen, dass wir, im Gegenteil, unser Leben gegen die Welt draußen, gegen ihre Übermacht anleben müssen, im steten Bewusstsein unseres Gefährdetseins durch sie. Zu diesem Bewusstsein gehört noch, dass wir es niederhalten. Anders fänden wir kaum Kraft, unser eigenes Leben zu leben. Wir müssen unser Leben irgendwie auf selbstverständliche, unhinterfragte Weise leben dürfen, ohne uns ständig die kontingenten Bedingungen unseres Daseins vor Augen zu führen, die uns unser Leben zu rauben drohen.

Solange dies gutgeht, nehmen wir die Welt und die Anderen schemenhaft, wie unter einer Glocke, wahr. Monadenhaft kreisen wir in uns, wähnen uns darin eins mit uns. Während wir so die Welt und die Anderen auf Distanz halten, haben wir zu uns selbst nur wenig oder gar keinen Abstand. Kein Wunder, dass wir unsere gefühlte Selbsteinheit mit einer untergründigen Paranoia bezahlen. Diese tritt dann zutage, sobald wir aufgrund irgendeines Erlebnisses, das uns von außen zustößt und innerlich aufstört, dazu gezwungen sind, das, was uns umgibt – wovon wir getrennt sind –, einmal deutlicher in den Blick zu nehmen. Plötzlich zeigt sich uns die Welt fremd und zudringlich zugleich.

In unserer Innen-Außen-Spaltung verfangen, entgeht uns, wie unsere inneren Projektionen aufs Außen von außen her auf uns zurückwirken: Unsere eigene Weltsicht, von keinerlei Wahrnehmung korrigiert und korrigierbar, tritt uns auf gespenstische Weise entgegen. Im wahrsten Sinne verstehen wir die Welt nicht mehr, d. h. wir verstehen sie nicht mehr als unsere Welt. Beziehungsweise: Wir interpretieren sie als eine Welt, die uns selber ausschließt. Während wir nicht begreifen, wie es die Welt in ihrer bedrohlichen Chaotik überhaupt zu etwas Stabilem bringen kann, merken wir umso deutlicher, wie wir für uns selbst aus ihren Zusammenhängen herausfallen.

Wir beginnen, uns auf unüberbrückbare Weise von unserer Umgebung unterschieden zu erleben. Wir erleben diese Unterschiedenheit jedoch nicht relativ, in Absetzung gegen ein Außen hin, das uns als Innenwesen umgibt, sondern absolut, in Beziehung zu allem – letztlich noch zu uns selbst. Aus dem Dämmer unserer wohlfeilen Innen-Außen-Spaltungen gerissen, die uns für eine Weile stabil halten konnten, hört unser Inneres jäh auf, unser Eigentum zu sein. Es wird uns zur unheimlichen Seinserfahrung. So erfahren wir, wie noch unser eigenes Inneres von der Differenz von Innen und Außen durchzogen ist – nicht zuletzt merkbar an den uns quälenden Zwangsvorstellungen. Zunehmend fühlen wir uns durch einen Spalt fallen, in den Strudel eines Unendlichen hineingezogen, in dem wir uns selber zu verlieren drohen.

Verblüffung und Lernen

Wie schaffen wir es, aus dieser inneren Abwärtsspirale herauszukommen, an deren Ende wir uns entweder in Angst auflösten oder in Traurigkeit erstarrten? Wie können wir unter den Bedingungen erfahrener Welt- und Selbstfremdheit erneut in die Welt zurückfinden und an die Anderen anschließen? Indem wir, ganz simpel, die Erfahrung der Differenz von Innen und Außen eigens auszuhalten lernten: wenn wir etwa mit bewusster leichter Verzögerung auf etwas Bedrängendes reagieren; im Mitgefühl mit dem Anderen ihm noch standhielten; im eigenen Denken Intuitives von Übernommenem schieden.

Wir würden erfahren, dass die Erfahrung der Differenz, ausgehalten, hält. Nach und nach würde sich unser innerer Spielraum weiten, aus dem heraus wir zunehmend ins Außen ausgriffen. Die Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit würde sich verändern. Wie wir uns vordem, in dem Maße, wie wir uns vom Außen abschotteten, uns von ihm zugleich überschwemmt fühlten, suchten wir zunehmend die Gelegenheit, außerhalb von uns Nähe und Übereinstimmung mit uns zu erfahren. Etwa wenn wir bemerkten, dass jemand etwas sagt, das wir selbst hätten sagen können. Wir sind verblüfft, dann erleichtert: Sind wir also doch nicht alleine?

Verblüffbarkeit ist bekanntermaßen eine philosophische Tugend. Sie ist indes weniger ein direktes, subjektives Vermögen als eines, das uns von außen zukommt: Wir werden übers Wahrgenommene dazu gebracht, unseren Wahrnehmungen nicht zu trauen. Wir müssen mit ansehen, wie Innen (Erwartung) und Außen (Erfahrung) durcheinandergeraten. Verblüfft, sehen wir uns wie von außen. Wir sind für einen Moment aus der Balance geraten – bis wir dann wieder unsere gewohnte Innenperspektive annehmen.

Um das, was uns kurzzeitig aus dem Gleichgewicht gebracht hat, zu verarbeiten, spekulieren wir unweigerlich auf ein Drittes, Verbindendes von Innen und Außen. Dabei merken wir, dass wir im Zuge unserer Spekulation auf dies Verbindende je schon von diesem herkommen. Wir machen die Erfahrung, dass es eine Verbindung von Innen und Außen, auch wenn es nicht sichtbar ist, gibt. Und zwar in dem Maße, wie es uns gibt, die wir sie mit und an uns selber vollziehen: lernen. Lernend sind wir uns einerseits immer schon voraus, während wir andererseits unserem Voraussein hinterherhinken.

Immer dann, wenn wir etwas lernen, knüpfen eine solche Zeitschlaufe. Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat diesbezüglich zwischen zwei Anpassungs-Schritten, einem von innen nach außen und einem von außen nach innen, unterschieden. Zunächst akkommodieren wir uns, wie es unsere Augen tun, einer uns äußerlichen Sache. Wir suchen z. B. ein Fachbuch zu verstehen. Wir lesen es Satz für Satz, streichen Stellen an, die uns wichtig erscheinen und passen so, für uns selber kaum merklich, das, woran wir uns nach außen hin anpassen, unserem Inneren, unseren Vorkenntnissen und mitgebrachten Bedürfnissen, an. Wir assimilieren es uns.

All dies geht nicht ohne Krisen ab: Ungeduld, Ermüdung, Selbstzweifel – „innere Dezentrierungen", wie sie Piaget nennt. Um des jeweils zu Lernenden willen müssen wir uns aus unserer selbstzentrierten Perspektive heraus bewegen, uns gleichsam freiwillig destabilisieren. Erst indem wir über den Umweg unserer einerseits ans zu lernende Objekt, andererseits an uns als lernende Subjekte geleisteten Anpassungen neue, tragfähige innere Strukturen herausgebildet haben werden, finden wir, auf neuem Niveau, in unsere Balance zurück. Wobei wir am Ende nicht mehr sagen können, inwieweit das, was wir gelernt haben, dem Erlernten oder uns als Lernenden zuzuschreiben ist. Wir können nicht mehr zwischen Außen und Innen unterscheiden. Beide haben im Zuge der beschriebenen doppelten Anpassung längst die Plätze getauscht.

Kommunikation und Einzelnsein

Führt Lernen gleichsam von außen nach innen, so ist der umgekehrte Weg – der von innen nach außen – der ungleich schwierigere, unbestimmbarere. Die Schwierigkeit gründet in der Dunkelheit, die wir für uns selbst darstellen. Wir sind uns selber viel weniger gegenwärtig als die Anderen für uns. Und dies, paradoxerweise, so sehr wir uns alternativlos gegeben sind. Zu dieser Paradoxie gehört denn noch, dass wir nie schon bei uns selbst sind, sondern erst noch zu uns kommen müssen. Und dies, endgültig paradox, indem wir
gerade aus uns herausgehen.

Um unserer selbst willen gehen wir auf die Anderen zu. Ich beziehe mich auf die Anderen weniger aus altruistischen Gründen, als dass ich mich über sie meines eigenen In-der-Welt-seins vergewissere. Dies vermag ich nur in Konfrontation mit der Kontextualität meines Lebens, darüber, dass ich eigens den Widerstand dessen suche, was ich nicht selbst bin. An diesem Widerstand erst mich spüre ich mich. Ich weiß: Ich brauche Wirklichkeit, stößt sie mich auch noch so ab. Und ich brauche die Anderen, selbst dann, wenn ich nichts mit ihnen anfangen kann.

Die Anderen sind die Repräsentanten des Umkreishaften meines Lebens. Die Klärung meines Verhältnisses zu den Anderen hilft mir dabei, mein Verhältnis zu mir selber zu klären – was sich wiederum in meinem Verhältnis zu den Anderen niederschlägt. Um mich in meinem Einzelnsein entfalten zu können, brauche ich Gegenwart und Grenze der Anderen. Ich brauche, um mit Karl Jaspers zu sprechen, dass die Anderen als sie selbst existieren, damit auch ich als ich selbst existieren kann.

Es ist noch ein Akt meiner Innerlichkeit, aus mir heraus-, auf die Anderen zuzugehen, um mit ihnen zu kommunizieren. Zugleich findet meine Innerlichkeit an den Anderen Begrenzung und Halt. Die Kommunikation mit ihnen kann mich gleichwohl nicht von meiner Innerlichkeit entlasten, nämlich auf eigene, einsame Weise die mich bestimmende Differenz von Innen und Außen zu durchleben. Jaspers bringt den Gedanken in eine Kreisform: Um ich selbst zu sein, brauche ich einerseits die Kommunikation mit den Anderen, während ich erst aus meiner Einsamkeit in Kommunikation mit ihnen treten kann.

Meta-Balance

Jeder von uns ist, auf seinem Weg durch die Klemme der ihn bestimmenden Differenz von Innen und Außen hindurch, auf ein Drittes von Innen und Außen hin unterwegs. Es ist dieser unaufhörliche Entlastungsversuch, der uns verbindet. In genau dem Maße seiner Permanenz lässt sich dies Verbindende auf keine irgend fixierbare Intersubjektivität festlegen. Wir können uns immer nur und immer wieder zu dem uns Verbindenden bereit machen. Was uns zu ihm bereit macht, ist das – wiederum paradoxe – Wissen, dass uns gerade das, was uns voneinander unterscheidet, miteinander verbindet: dass wir Individuen sind, die in all ihren festen Prägungen sich selbst doch nie genug werden.

Wir erkennen aneinander immer uns selbst wieder; die Verlorenheit des Einen rührt an die des Anderen. Wir wissen: Jeder muss seine Antwort auf die ihn bedingende Differenz von Innen und Außen selber finden. Jeder muss die Differenz auf seine Weise durchlaufen, sich immer neu aus deren Bedrängung befreien. Dafür muss sich jeder aus seiner Selbstzentriertheit lösen, um sich, stolpernd, in eine vorlaufend-vorläufige Balance zu bringen. Um unserer eigenen Balance willen bedürfen wir eines umfassenderen Begriffs von Balance, von der her wir überhaupt erst die Kraft und das Vertrauen zu unserer eigenen aufbringen.

Um mit mir in all den Verstrickungen, in die ich mich unweigerlich begebe, immer wieder in ein Gleichgewicht zu kommen, bedarf es eines immer wieder herzustellenden Ausgleichs auch nach außen hin, mit den Anderen. Dieser Ausgleich untersteht dem Gebot eines uns unausgesprochen einenden ethischen Selbstverständlichen, das sich nur schwerlich – und um den Preis eben seiner Selbstverständlichkeit – kodifizieren lässt. Es ist unsere Aufgabe als zur Vernunft Fähige, dieses Selbstverständliche in jedweder Situation antifaktisch zu vertreten. Jaspers nennt es „universelles Mitleben" und „totalen Kommunikationswillen". Wenn wir miteinander sprechen, sprechen wir, als zum Gespräch Bereite, von jeher aus einem uns bereits Gemeinsamen heraus.

Mit jedem gelingenden Gespräch erweisen wir einander unsere Bereitschaft zueinander, unsere Friedensfähigkeit. So können wir uns noch im Streit wie über alle Unübersetzbarkeit unserer Sprachen hinaus verständigen, weil wir längst miteinander im Gespräch sind. Mit Donald Davidson zu sprechen: Wir sind, bevor wir direkt miteinander sprechen, je schon Interpreten dessen, was die Anderen sagen, und referieren damit unausgesprochen auf eine uns gemeinsam gegebene Welt. Ja, wir wären nicht einmal Denkende ohne die Zeitgenossenschaft anderer Denkender, mit denen wir zusammen auf ein uns gleichermaßen äußeres und verbindendes Drittes bezogen sind. Nur sofern es auch andere Denkende gibt, können wir selber denken. Darüber, dass wir uns in uns auf etwas außerhalb von uns beziehen und erfahren, dass auch Andere dies tun, vergewissern wir uns eines voranwesend Verbindenden – und sei es auch nur für uns selbst, in der weltabgewandten Form des Selbstgesprächs mit einem fiktiven Gegenüber.

UNSER AUTOR:

René Weiland leitet den Philosophischen Gesprächskreis „Was lässt uns denken? Was heißt, dem eigenen Denken zu folgen?" an der VHS Tempelhof-Schöneberg. Er lebt in Berlin.