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Kambartel, Friedrich: Wahrheit und Vernunft |
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Friedrich Kambartel: Wahrheit und Vernunft Zur Entwicklung ihrer praktischen Grundlagen
Normalerweise gehen wir davon aus, daß uns substantielle, etwa praktische Wahrheit unabhängig von legitimen Lebensverhält-nissen und daher auch vorab zur Verfügung steht, daß also die Begründungslegitimität praktischer Urteile die politisch‑rechtliche Legitimität theoretisch tragen kann. Begründete Theorien des Vernünftigen, insbesondere des praktisch Vernünftigen können dann den Verhältnissen, von welchen sie handeln, vorauseilen, um gewissermaßen anschließend, wenn überhaupt, ins Werk gesetzt zu werden.
Diese Sicht der Dinge erscheint mir falsch. Es gibt, denke ich, zwingende Argumente dafür, daß wir wesentliche Formen der Wahrheit nicht ohne eine Einbettung in die politisch‑praktische Legitimität bestimmter Lebensverhältnisse gewinnen können. Damit erhält diese Wahrheit zugleich eine histo-rische Dynamik, die vom Fortschritt in der Einrichtung vernünftiger Praxis auf dieser Erde abhängt.
DAS VORHERRSCHENDE BILD
Wir trachten unser Reden und Handeln an wahren Verständnissen unserer Welt auszurichten. Und ein Teil unseres Tuns dient wiederum dazu, solche Orientierungen zu erforschen, zu entdecken und zu erzeugen. Dabei machen wir uns ein bestimmtes Bild von den begrifflichen Verhältnissen, in denen wir uns gegenüber der Wahrheit von Sätzen und Behauptungen befinden.
Im allgemeinen unterscheiden wir zwischen theoretischen und praktischen Urteilen und den entsprechenden Wahrheits‑ und Gel-tungsansprüchen - und messen dann allerdings häufig die so genannten praktischen Urteile und ihre mögliche Begründung oder Wahrheit am theoretischen Fall. In diesem Falle insbesondere gehen wir davon aus, daß die Wahrheit von Sätzen mit der Intersubjektivität ihrer Geltungsansprüche eng verbunden ist: Ein Satz, der wahr ist, heißt das, ist in seiner Wahrheit für alle zugänglich, alle, ist hier selbstverständlich einzuschränken, welche sich die notwendige Mühe der zugehörigen Nachforschung ma-chen oder machen können. Die Verfahren und Begründungen, mit denen wir die Wahrheit eines Satzes sichern, müssen in diesem Sinne eine allgemeine Kontrolle zulassen und im Falle der Wahrheit ein allgemein zustimmungsfähiges Ergebnis haben.
Dies hat, so scheint es, die selbstverständliche Folge, daß ein Satz, der wahr ist, dies ist unabhängig von unserer jeweiligen praktischen Lebenssituation und ihrer institutionellen Form. Ich will dies die praktische Unabhängigkeit des wahren Satzes nennen.
DIE VORAUSSETZUNGEN DES ARGUMENTS
In der Hauptsache kommt es mir auf ein Argument an, das die praktische Unabhängigkeit von Wahrheitsansprüchen partiell in Frage stellt. Dieses Argument betrifft zwar insbesondere die Wahrheit oder (allgemeine) Geltung praktischer Urteile, gilt aber auch für einen wichtigen Teil der so genannten theoretischen Aussagen. Das Argument, um das es mir geht, hat eine Reihe von Voraussetzungen, die ich hier nur sehr kurz erörtern kann. Sie erscheinen mir aber kaum bestreitbar.
Die erste Voraussetzung
Da ist zunächst die bereits erwähnte begriffliche Verbindung zwischen Wahrheit und Intersubjektivität: Der Wahrheitsanspruch, der mit der Behauptung einer Aussage ver-bunden ist, schlichtweg oder durch die gegebene Begründung, kann nicht partikular eingeschränkt werden, schließt vielmehr jederzeit die allgemeine Überzeugungskraft, die Einsichtigkeit des Behaupteten ein. Wir haben es bei dem Wort "wahr" und seinen begrifflichen Entsprechungen in anderen Sprachen schließlich mit einer Institution unserer Weltorientierung zu tun, die sich gerade von der bloßen Vermutung, der sub-jektiven Meinung, Dezision oder der lokalen Gewohnheit unterscheidet.
Wahrheitsansprüche und ihre Begründungen greifen auf eine allgemeine Übereinstim-mung in unserem Urteil vor oder darauf zurück. Sie sollen also z.B. nicht nur auf die "günstigen" Vorurteile bestimmter Adressaten abstellen. Hier besteht ein enger Zusammenhang zwischen Aussagen und Be-gründungen und dem, was eine "Zustimmung" im kognitiven Sinne heißen kann:
Übereinstimmung im Handeln und Urteilen geben wir mit Gesten und Handlungen der Zustimmung zu verstehen. Das eine Wort "Zustimmung" (und entsprechend die Rede von "Konsens") verdeckt allerdings, daß wir es hier häufig mit zwei ganz verschiedenen Fällen zu tun haben. Im ersten Falle geht es um die Bildung eines gemeinsamen Willens, im zweiten Falle um das Teilen einer Einsicht.
Geben wir im Rahmen der Bildung eines gemeinsamen Willens unsere Zustimmung, so handelt es sich dabei um den klassischen Fall einer performativen sprachlichen Handlung. Im Falle einer Vereinbarung (Einigung) geschieht meine Zustimmung durch meine Äußerung, die wir Zustimmung nennen. Unsere Zustimmung und die damit verbundenen Verpflichtungen werden hier durch die sprachlich geregelten Gesten oder Äußerungen der Zustimmung konstituiert, in Kraft gesetzt. - Wir können in diesem Fall von konsensueller Zustimmung oder Eini-gung sprechen.
Anders zu verstehen ist dagegen eine geäusserte Zustimmung, wenn wir damit eine Einsicht zum Ausdruck bringen. Hier drückt unsere Äußerung einen Zustand oder ein Ereignis aus, über den (das) wir am Ende nicht handelnd verfügen; auch wenn wir sein Eintreten geeignet (z.B. durch Begründungen) vorbereitet haben. Daß wir es nunmehr einsehen, stößt uns am Ende zu; und zwar, ohne daß es für dieses Ereignis eine Ursache im engeren Sinne geben könnte. Die technische Hervorbringung einer Einsicht müßten wir nämlich als Manipulation (deren Ergebnis uns als Einsicht lediglich erscheint) beschreiben.
Von einer Einsicht können wir zwar nicht erwarten, daß sie faktisch von allen geteilt wird. Es gehört jedoch zur Grammatik des Einsichtigen, daß es zu jedermanns Einsicht werden kann, d.h. nach unserem Urteil die Zustimmung derjenigen finden muß, welche sich im jeweiligen Fall auf ein wahrheits-orientiertes Überlegungshandeln einlassen. Und dies ist keine Prognose im Sinne einer begründeten Erwartung.
Die grammatische Unmöglichkeit eines Kulturrelativismus
Zu sagen, a sei für eine Person P einsichtig, ohne zu unterstellen, daß a bei gegebener hinreichender Sachkunde und gutem Willen zu jedermanns Einsicht werden kann, ist be-grifflich falsch. Einsichten sind also eo ipso nicht privat oder partikular zu begreifen.
Kann sich eine Person P einer Orientierung sicher sein, ohne ihre Einsichtigkeit "für alle" zu unterstellen? Wir sind gewohnt, in solchen Fällen von einer subjektiven Überzeugung der Person P zu sprechen. - Es ist allerdings schwer, sich Überzeugungen in diesem Sinne aus der Perspektive "der ersten Person" vorzustellen. Wenn es für mich kein bloß subjektives Überzeugtsein geben kann, dann dient die Unterscheidung zwischen Einsicht und "bloßer" Überzeugung dem kritischen Urteil anderer über meine Orientierungen.
Es gibt bereits in der Umgangssprache zwei Bedeutungen des Wortes "Überzeugung": Zum einen kann uns eine Begründung, wie wir sagen, "völlig überzeugen", das heißt: die zugehörige Handlungsorientierung für uns einsichtig werden lassen. Wir sind dann durch die gegebene Begründung der Sache sicher geworden.- Oder aber (zum anderen) wir sprechen von einer "bloßen Überzeu-gung", betrachten unsere Überzeugung von vornherein als "subjektiv" und ungesichert, d.h. erheben für sie gar nicht den Anspruch allgemeiner Einsichtigkeit.
Ein Problem ergibt sich hier nun dann, wenn jemand die eigene "bloß subjektive" Überzeugung zugleich als praktisch sicher verstehen will. Eine Überzeugung weder als einsichtig begründbar noch als von allen selbstverständlich geteilt zu betrachten, heißt schließlich, der praktischen Sicherheit den Boden zu entziehen, auf dem sie nicht‑ illusionär aufruhen kann. Auch das Selbst-verständliche muß (dem Anspruche nach) allgemein selbstverständlich sein. Auch die irrtümlich selbstverständliche praktische Sicherheit ist eine praktische Sicherheit (für diejenigen, welche aus dieser Sicherheit, sie grammatisch richtig, als allgemein verfügbar unterstellend, leben).
Aus diesen Gründen ist ein Kulturrelativis-mus, der sich auf ernstgemeinte Lebens‑ und Weltorientierungen erstreckt, grammatisch unmöglich. Ihre (gesicherte) Überzeugung können die Überzeugten nicht kognitiv liberal vertreten, wenn sie begrifflich konsistent bleiben wollen. Man kann nicht überzeugt sein und ernsthaft gegenteiligen Überzeugungen gleiche ("relative") Gültigkeit zusprechen. Gerade weil dies so ist, sind übrigens Toleranzprinzipien so wichtig.
Insbesondere muß daher auch ein religiöser Glaube für die Gläubigen im Kern immer der einzig wahre Glaube sein. Kognitive Toleranz zwischen den Religionen ist ein hölzernes Eisen; obwohl politische Toleranz zwischen ihnen ein Gebot der Vernunft darstellt. - Das Fremde, die fremde Lebensorientierung, ernstzunehmen, heißt daher gerade: ihren Anspruch auf Einsichtigkeit ernstzunehmen, ihre Gründe oder ihren Anspruch auf allgemein zugängliche Evidenz. Man muß daher wohl die der fremden Überzeugung angediente so genannte ethnorelative Attitüde als eine besonders subtile Form des abendländischen Kulturimperalis-mus betrachten.
Einsichten sind intern mit dem Anspruch universaler Zustimmungsfähigkeit verbunden. Wir können uns allerdings der Einlösung dieses Anspruches völlig sicher sein ‑ und doch, danach, in seiner Vertretung gegenüber anderen erfahren, daß unsere Evidenzen und Begründungen nicht tragen, das zunächst Einsichtige diesen Charakter einbüßt: Wir bleiben auch dort, wo wir uns sicher sind, prinzipiell irrtumsfähig.
Die Begründung unserer Einsichten nimmt die Zustimmung anderer (den wahrhaftigen Ausdruck ihrer mit uns übereinstimmenden Einsicht) notwendig vorweg. Daher stellen die erfahrbaren Einsichtsmöglichkeiten anderer (der "Diskurs" mit ihnen) zugleich eine grammatisch eingearbeitete Kontrolle des für uns Einsichtigen dar.
Die zweite Voraussetzung
Die zweite Voraussetzung meines Argumentes besteht in einem praktischen Verständnis der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Eine semantische Perspektive dieser Art verdanken wir den Einsichten der Spätphilosophie Wittgensteins, mit der berühmten Formel der Philosophischen Untersuchungen: "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache" (I 43).
"Gebrauch" heißt hier nicht das, was wir mit einem sprachlichen Ausdruck, im allgemeinen in der Komposition mit anderen Ausdrücken, konkret, d.h. in einer bestimmten konkreten Situation, tun. Vielmehr ist das Wort "Gebrauch" hier bezogen auf das praktische sprachliche Wissen, das wir uns mit dem Erwerb der Sprache angeeignet ha-ben. Daß die Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks der Sprachgebrauch ist, weist also darauf hin, daß wir uns beim sprachlichen Handeln im Rahmen angeeigneter, mehr oder minder genau umgrenzter öffentlicher Redeinstitutionen bewegen.
Die Bedeutung von Worten oder den Sinn von Sätzen zu klären, heißt also im all-gemeinen mehr, als symbolische (syntakti-sche oder semantische) Kompositionsregeln anzugeben. Den sprachlichen Gebrauch zu verstehen, umfaßt insbesondere: den Sitz zu wissen, den der Ausdruck in unserem prak-tischen Leben hat, in den praktischen For-men, die unserer Lebenssituation eine Struktur geben. Mit dem Bilde Wittgensteins ge-sagt, gilt es zu sehen, wie die Sprache in unserem Leben "arbeitet". - Diese Perspektive gilt sowohl für die faktischen Institutionen der Sprache als auch für ihre Bewertung im Blick auf eine vorgestellte oder geforderte bessere oder andere Arbeit der Sprache.
Jedenfalls erhält damit der sprachliche Sinn nicht einfach den Charakter von konkreten oder abstrakten "Gegenständen", die wir in einer von den praktischen Verhältnissen distanzierten Einstellung betrachten oder analysieren können.
Die dritte Voraussetzung
Sie besagt, daß unsere Sprache, in ihrem gegenwärtigen Zustand, weithin semantisch different oder unbestimmt ist. Dies gilt in besonderem Maße in den für uns wesentlichen praktischen Angelegenheiten. Was wir immer wieder erfahren, ist die Unbestimmtheit der (faktischen) öffentlichen (z.B. der politischen) Sprache. Eine Liste von im allgemeinen recht unbestimmt verwendeten Worten ist leicht zusammenzustellen. Eine solche Liste bilden dürften etwa die Worte "Arbeit", "Bedeutung", "Freude", "gerecht", "gleich", "Geld", "Kosten", "Leben", "produktiv", "Wahrheit", "Wert". - Man denke demgegenüber an Farbprädikatoren wie "rot", "violett" oder elementare Handlungsterme wie "gehen", "sitzen" oder an technische Ausdrücke wie "Multiplikation" und "Videorecorder".
Übereinstimmung ebenso wie Dissens darin, daß ein Satz wahr, eine Begründung ein-sichtig ist, können also auf einem unter-schiedlichen oder unbestimmt gelassenen Verständnis des Satzes beruhen. Gerade bei Sätzen, welche nicht‑technische oder nicht‑ elementare Behauptungen artikulieren, ist dies häufig der Fall. - Für die in einen Wahrheitsanspruch eingearbeitete Perspektive allgemeiner Überzeugungskraft müssen wir jedoch offenbar unterstellen, daß die behauptete Aussage für alle Beteiligten mit demselben Sinn verbunden ist. Anders gesagt: Das Teilen einer Einsicht ist auf das übereinstimmende, das gleichsinnige öffentliche Verstehen des Satzes (seines Sinnes) angewiesen. Zustimmung, die sich lediglich am gleichen Zeichenträger orientiert, würde sonst eine Aufklärung über das Gemeinte nicht überstehen.
Hier ist noch zu bemerken: Wegen der Plu-ralität möglicher sprachlicher Ausdrucksweisen muß die Allgemeinheit des Satzsinnes im allgemeinen als Gebrauchsäquivalenz von Sätzen (und damit als deren par-tielle Übersetzbarkeit) begriffen werden.
Der Sinn eines Satzes (oder allgemeiner eines sprachlichen Ausdrucks) kann für die Sprachteilnehmer in doppelter Weise unbestimmt oder umstritten sein: Zum einen mag es uns nicht möglich sein, die (jeweilige) Äußerung des Satzes übereinstimmend als eine wohlbestimmte Handlung zu identifi- zieren (oder beim situationsunabhängigen "abstrakten" Auftreten des Satzes die mög-lichen Äußerungen pragmatisch einzuord-nen). - Zum anderen mögen wir darüber un-eins sein, welche Aufgaben der Satz (seine "typisch" verstandenen Äußerungen) in unserem Leben erfüllt (oder erfüllen soll). - - Und beide Aspekte hängen natürlich häufig auch begrifflich eng miteinander zusammen.
Der zweite Aspekt wird insbesondere des-wegen bedeutungsvoll, weil wir uns mit un-seren sprachlichen Äußerungen (und unserem Verständnisbemühen) im Rahmen einer bereits bestehenden öffentlichen Sprache bewege, Sätze und Satzäußerungen also nicht sämtlich erfinden können wie ein be-liebiges neues Spiel.
Ich orientiere mich hier also nicht an dem Fall, daß wir nur einfach nicht wissen, was der Gebrauch der Worte, des Satzes ist, jedoch einen allgemein eingeführten Sprachgebrauch unterstellen können, ihn also nur aufdecken, "verstehen" müssen. Ich be-trachte vielmehr die in den wichtigen Dingen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens eher häufige Situation, daß (noch) gar kein (genauer) allgemeiner oder allgemein akzeptierter Gebrauch existiert. Wir müssen von der Illusion Abschied nehmen, die Sprache, in der die Menschen ihre poli-tisch‑praktischen, ihre moralischen Angelegenheiten und einen großen Teil ihrer kognitiven Orientierungen zu artikulieren und zu verhandeln trachten, sei gewissermaßen von selbst bereits weltweit, wenigstens für "lokal" gemeinsame Klärungen, vorhanden und brauche im Bedarfsfall nur noch ein wenig aufbereitet zu werden. Dies kann eben für Worte wie "Wahrheit", "Wert", "moralisch", "Gerechtigkeit", "Gleichheit", "Demokratie", "Sozialismus", aber auch für exaktwissenschaftliche Grundtermini wie "Zahl" oder "Masse" (im physikalischen Sinne) nicht unterstellt werden.
Der philosophische und wissenschaftstheoretische Grundlagenstreit ist hier nur die in die Universitäten hinein spürbare Auswirkung der allgemeinen Situation, welche uns aus den kulturellen und politischen Auseinandersetzungen einer (über die Medien) diffus bewegten Öffentlichkeit vertraut ist.
Mischung von Verständnis- und Begründungsproblemen
Wir haben es hier mit Fällen zu tun, in denen mit einem uns vertrauten und häufig klassischen Vokabular Behauptungen formuliert und aufgestellt werden, die auch ihrem Sinne nach umstritten sind. Wer be-streitet, daß eine Rechnung zu einem be-stimmten Ergebnis führt (etwa daß 12 x 13 156 ergibt), hat kein Problem damit, den Sinn der entsprechenden Gleichung zu ver-stehen. Bei Sätzen, in denen Worte wie "Leben", Wahrheit", "Gerechtigkeit", "Wert" vorkommen, liegen die Dinge anders.
Hier tritt uns regelmäßig eine Mischung von Verständnis‑ und Begründungsproblemen entgegen: Ein Gerechtigkeitsprinzip etwa, hinter dem ein unangemessener Gerechtigkeitsbegriff steht, ist unbegründet. Und wer wissen will, ob bestimmte Computererscheinungen, die mit Mutation, Stoffwechsel und Reproduktion ausgestattet sind, "Leben" genannt werden können, gibt sich nicht mit irgendeinem Lebensbegriff zufrieden.
In solchen Fällen sagen wir etwa, daß wir das nicht meinen, was als vorgeschlagenes oder praktiziertes Verständnis die Sätze wahr (oder falsch) erscheinen läßt. Damit kann sich die Auseinandersetzung hier nicht auf die reine Verifikation behaupteter Sätze beschränken. Sätze, bei denen das Begrün-dungsproblem nicht gelöst werden kann, ohne eine begründete Lösung des Verständ-nisproblems einzuschließen, möchte ich substantiell ("hermeneutisch substantiell") nennen.
Substantielle Sätze ergeben sich insbeson-dere in zwei Fällen: Im ersten Fall drücken wir den Satz wesentlich in Worten aus, de-ren Sinn in eine (wenigstens ansatzweise) realisierte begründete Praxis eingebettet ist, wenn auch verzerrt und zum Teil nicht oder falsch verstanden. - Im zweiten Fall stellen wir den Satz (seinen Sinn) in den Rahmen einer begründeten Modifikation unserer praktischen Welt. Das Verständnis des Sat-zes muß dann die intendierte neue Rolle des Satzes tragen, der Sinn des Satzes hermeneutisch umorientiert werden.
Dagegen ist Sprachgebrauch, den wir ele-mentaren oder rein technischen Situationen zugeordnet haben, im allgemeinen normativ übersichtlich und unumstritten. Auf den ent-sprechenden Satzsinn läßt sich ohne weitere hermeneutische Umstände zurückgreifen. -Daß die Sprache eine sinnvolle Arbeit in unserem Leben verrichtet, ist im elementa-ren Falle unmittelbar evident, in technisch‑ praktischen Situationen etwa über verschie-denartige Anwendungen sekundär unbestritten. Hier entsteht dann im allgemeinen nicht das Problem, sich auf eine bestimmte Anwendung zu einigen. - Auch wo die Sprache Teil einer normierten Sonderpraxis ist, wie zumeist in den Wissenschaften, können hermeneutische Begründungsaspekte oft vernachlässigt werden. Wenn bestimmte Orientierungsprobleme an eine weltweit operie- rende Expertengruppe delegiert sind, erlernt diese zugleich mit der entsprechenden Forschungspraxis Terminologien, deren Zusammenhang mit dieser Praxis allgemein, d.h. expertenallgemein entwickelt wird.
Daß eine Sprachpraxis als wissenschaftlich, auch technikwissenschaftlich eingeordnet wird, bietet allerdings keine Gewähr dafür, daß wesentliche Probleme hermeneutischer Rechtfertigung nicht auftreten. So können wissenschaftliche Begriffsbildungen zusam-men mit der zugehörigen sogenannten For-schungspraxis ins unsinnig Spielerische oder in bloße Spekulation abheben, welche den in der Philosophiegeschichte aufgetretenen Absurditäten in nichts nachsteht.
Aber auch wenn wissenschaftliche Termino- logien Ausdrucksweisen benutzen, die aus-serdem einen alltäglich‑praktischen Sinn haben, treten häufig hermeneutische Konfliktlagen und Begründungsprobleme auf; dann insbesondere, wenn die Wissenschaften zugleich eine rationale Rekonstruktion der Alltagssprache intendieren, den wissenschaftlichen Sprachgebrauch also als bessere (aufgeklärte, exakte usw.) Alter-native zum außerwissenschaftlich vertrauten Gebrauch erklären. Über das Recht eines solchen Anspruches ist dann im Blick auf die praktischen Funktionen der Alltags-sprache, und deren Vernunft, zu entscheiden. Die so genannte wissenschaftliche Rekonstruktion z.B. bereits wegen ihrer "Exaktheit" (ihrer formal oder technisch kontrollierbar richtigen Verwendung) vorzuziehen, wäre offenbar ein Fall von Szientismus. Exakt ließe sich schließlich auch der Sprachgebrauch einer unvernünftigen hermetischen Praxis einrichten.
DAS ARGUMENT
Die drei bisher erörterten Aspekte der Verhältnisse zwischen Sprache und Wahrheit möchte ich nun für eine bestimmte, weitreichende Konsequenz argumentativ miteinander verbinden:
Wahrheitsansprüche werden mit der Unter- stellung ihrer intersubjektiven Zustimmungsfähigkeit erhoben. Daß die Behauptung einer Person P1 für eine andere Person P2 überzeugend, zustimmungsfähig sein kann, setzt voraus, das P1 und P2 diese Behauptung (semantisch) gleich verstehen, d.h. dem (einem) zugehörigen Behauptungssatz einen übereinstimmenden sprachlichen Sinn geben. Soll dies entsprechend der Grammatik der Wahrheit für eine beliebige (als sachkundig und gutwillig unterstellte) andere Person P2 gelten, so muß der (sprachliche) Sinn des Behauptungssatzes allgemein eingerichtet sein.
Da der Sinn sprachlicher Ausdrücke nun andererseits einen begrifflichen Sitz in bestimmten praktischen Formen des Lebens hat, ist das Bemühen um eine intersubjek-tive Weltorientierung schließlich auf eine zugehörige Gemeinsamkeit der praktischen Lebensverhältnisse unter den Menschen, auf Transsubjektivität, wie ich dies nennen möchte, angewiesen.
Die Überlegung, auf die es mir ankommt, steht und fällt mit zwei Schritten: dem Übergang vom Intersubjektivitätsanspruch der Wahrheit zur Notwendigkeit einer allgemeinen Einigung auf den zugrunde liegenden Satzsinn; ferner dem Schluß von der sprachlichen Einigung auf Gemeinsam-keiten des praktischen Lebens, welche sie tragen. Beide Schritte sind nicht so evident, wie sie auf einen ersten Blick erscheinen mögen.
Das liegt daran, daß wir uns einen distanzierten Umgang mit sprachlichem Sinn vor-stellen können: Einen Sprachgebrauch zu verstehen, mögen wir sagen, heißt nicht, ihm praktisch zuzustimmen, sich im eigenen sprachlichen Handeln auf ihn einzulassen (ihm anzuschließen). Der Sprachgebrauch eines wahrheitsfähigen Aussagesatzes muß, so scheint es, lediglich intersubjektiv zugänglich, vermittelbar sein; d.h. wir müssen ihn lernen, uns (als Kompetenz) aneignen können. Mit dieser schwachen Form seman- tischer Allgemeinheit ist es verträglich, daß sprachlicher Sinn von Kulturen, Situationen oder bestimmten Personen abhängt, wie wir
dies in vielen Fällen auch unterstellen. Wir können also zwischen dem Verstehen sprachlichen Sinnes und der (praktischen, d.h. praktisch verbindlichen) Einigung auf einen bestimmten Sprachgebrauch unterscheiden.
Wenn es nur auf einen verstehbaren Sprach-gebrauch ankommt, müssen wir uns, so scheint es, im allgemeinen nicht auf diesen Sprachgebrauch einigen. So bedeutet etwa der Vorschlag einer verständlichen wissen-schaftlichen Terminologie noch nicht eo ipso ihre allgemeine Übernahme durch die Wissenschaftlerkommunität.
Es scheint also, als könnten wir Wahrheitsansprüche gewissermaßen mit einem semantischen Index versehen, d.h. im allgemeinen nur semantisch bedingt, d.h. für den Fall eines bestimmten Verständnisses der zugehörigen Sätze, diskutieren. Gegen diese wohl weithin geteilte, vielleicht für selbstverständlich gehaltene Unterstellung sprechen jedoch eine Reihe von Argumenten:
Zunächst müßten wir in der unterstellten Si-tuation gewärtigen, daß der uns vertraute öf-fentliche Umgang mit Wahrheitsansprüchen zusammenbrechen oder weithin scheinhaft sein müßte. Wir könnten ja den Sätzen die je verschiedenen Indizierungen nicht ansehen, mit denen sie von den Beteiligten gemeint sind. Und beigegebene semantische Kommentare (z.B. Definitionen) führten das Problem mit sich, das sie für die kommen-tierten Sätze lösen sollen. Auch das Verständnis der Kommentarsätze wäre ja im allgemeinen zu indizieren.
Es kommt hinzu, daß Kommentare häufig die sprachliche Einführung in den Sinn eines Satzes auch gar nicht allein tragen können. Einen großen Teil der Situationen, in denen die uns vertraute Sprache arbeitet, haben wir nicht über Gebrauchsbeschreibungen kennengelernt und könnten dies auch gar nicht tun. Die begriffliche Verbindung sprachlichen Sinnes mit den entsprechenden Sprachgebrauchssituationen bedarf im allgemeinen der praktischen Erfahrung und Einübung, und des begleitenden Erwerbs eines semantisch‑praktischen Urteils. Erst wenn diese Art der Sprachkonstitution ein Stück weit gewährleistet ist, können wir die so konstituierte Sprache dann sekundär für beschreibende semantische Mitteilungen nützen.
Noch wichtiger ist, daß für viele Fälle eine Trennung von Sprachverstehen und sprach-licher Einigung nicht ohne weiteres möglich ist. Es sind dies diejenigen Situationen, in denen wir uns auf eine Praxis und die von ihr getragenen sprachlichen Handlungen und Unterscheidungen ganz oder zum Teil nicht aus der Perspektive eines (praktisch) unbeteiligten Betrachters beziehen können. Wir wissen dann nicht wirklich, wovon die Rede ist, wenn wir uns an deren Gegenständen nicht praktisch beteiligen. Dies gilt im besonderen Maße für substan-tiellen Sprachgebrauch, der in einer prak-tischen Kultur wurzelt, also in praktischen Verhältnissen, in denen eingelebte Handlun-gen, Praktiken und institutionell bestimmte Handlungsformen mit einer entsprechend entwickelten sprachlichen Urteilskraft verwoben sind. Sprachverstehen und das Einrichten oder Eingehen einer gemeinsamen Praxis gehen dann gewissermaßen Hand in Hand. Der Streit um die Wahrheit einer Behauptung schlägt damit auf die praktische Grundlage des Satzsinnes durch.
Daß Begründungsprobleme, insbesondere in den substantiellen Fällen, in nicht trivialer Weise mit Verstehensproblemen zusammen-hängen, liegt hier im übrigen häufig daran, daß partikulare Interessen und Vorurteile eine Verbindung mit entsprechend differen-ten praktischen Formen des Lebens einge-hen. Darin eingebetteter partikularer Satz-sinn führt dann schließlich zu entsprechend differenten Wahrheitsansprüchen. Ohne eine sprachlich‑praktische Einigung ist daher hier die Intersubjektivität der Wahrheit nicht zu erreichen. - Selbstverständlich gibt es andererseits viele Lebens‑ und Problemsituationen, deren Orientierung sinnvoll auf einer lokalen, oder kulturrelativen, Grundlage auf-ruhen kann. Diese sind hier jedoch nicht das Thema.
Die damit aufgeworfene Frage nach dem vernünftigen Sinn des Satzes unterstellt, daß es Gründe gibt, auf denen die praktische Einbettung seines Gebrauchs aufruhen kann. In welchem Sinne können die für den sprachlichen Sinn in Anspruch genommenen praktischen Situationen solche Gründe liefern?
Zunächst ist es möglich, daß die Situationen, in denen die semantisch umstrittene Sprache arbeiten soll, nicht angemessen verstanden, und das heißt im allgemeinen: nicht richtig beschrieben sind. Der Streit etwa um die Frage, ob sich die mathematischen Unterscheidungen und Sätze auf eine bestimmte operative Praxis beziehen oder auf platonistische Strukturen, die mathematisch aufzudecken sind, ist weitgehend von dieser Art. Er geht darum, wie die etablierte mathematische Praxis zu verstehen und was entsprechend der Sitz der mathematischen Zeichen (Sprache) in dieser Praxis ist. Ein relevanteres Beispiel liefert die Frage, ob die ökonomische Bewertungsterminologie, z.B. die Rede von "Kosten" oder "Produk-tivität", auf politisch-praktische Urteile bezogen werden muß oder auf die anthropo-logischen Fiktionen der Entscheidungs-theorie.
Ein anderer Fall liegt vor, wenn wir praktische Situationen (das, was in ihnen praktisch geschieht) als falsch oder ungerechtfertigt begreifen. Dies kann wiederum verschiedene Gründe haben: z.B. technische Gründe oder solche praktischer Vernunft. Mit den inkriminierten praktischen Situationen selbst kann auch ein in diese eingebettetes Vokabular problematisch werden; es muß dann neu, im Sinne einer etwa konkurrierenden praktischen Grundlage, verstanden werden. Der Streit um Worte, um ihren Sinn hängt so, in den substantiellen Fällen, untrennbar zusammen mit dem Streit um die richtigen (praktischen) Formen unseres Lebens oder um deren richtiges Verständnis. Semantische Konflikte spiegeln daher oft nur die Konflikte in unserer individuellen und gesellschaftlichen Praxis wieder, genauer: sie sind ein Teil von ihnen.
Nicht nur auf der im engeren Sinne praktischen, auch auf der semantischen Seite herrschen allerdings häufig problematische Strategien der Konfliktvermeidung vor. Diese können etwa darin bestehen, den sprachlichen Sinn gar nicht genauer zu bestimmen, keine Praxis semantischer Einigung einzurichten, den Schleier der Unbestimmtheit über den sprachlichen Verhältnissen nicht zu lüften. Im politischen Bereich exemplifizieren dies etwa die so genannten Formelkompromisse. Solche Stra-tegien treten aber auch unter der Maske des scheinbaren Gegenteils, der exakten Sprach-regulierung, auf: Die Einrichtung einer formal kontrollierbaren sprachlichen Sonderpraxis entzieht diese im allgemeinen zugleich wohlbestimmten praktischen Äußerungssituationen. Exakte Kunstsprachen und ihre Ausdrucksweisen bleiben so häufig praktisch ungenau. Diese Verhältnisse wer-den immer wieder dadurch unkenntlich, daß der exakte Sprachgebrauch zugleich an Ex-pertengruppen gebunden ist, an welche die semantisch‑praktischen Konflikte dann gleichsam delegiert erscheinen.
Überhaupt vermittelt der Wissenschafts‑ und Philosophiebetrieb leicht ein zu einfaches Bild der Verhältnisse in der praktischen Welt der Menschen. Danach stehen der in verschiedener Hinsicht verworrenen Um-gangssprache normierte Wissenschaftssprachen gegenüber, die, unter den jeweiligen "Mitspielern", ein einheitliches Sprachverständnis garantieren sollen. - Die Orientierungsprobleme in der öffentlichen Sphäre könnten, so scheint es, wenn nicht lösbar, so doch allgemein erörterungsfähig werden, wenn die Menschen sich auf Sprachnormierungen einlassen würden, wie sie die Wissenschaften und die Philosophie vorschlagen. Vor allem analytische Philosophen, die in der Wissenschaftstheorie der exakten Wissenschaften geübt sind, neigen zu einer solchen Sicht der Dinge. Das gilt für die Schulen des Wiener Kreises ebenso wie für den Philosophischen Konstruktivismus.
In den hier wesentlichen substantiellen Fällen haben Wissenschaften und Philoso-phie jedoch zunächst gar keine Autorität oder Möglichkeit, für eine Normierung des Sprachgebrauchs im öffentlichen Raum zu sorgen. Der bloße Gedanke, sie ihnen ein-zuräumen, führt in prinzipielle Schwierigkeiten, insbesondere des Demokratieverständnisses.
Die Einheit von Wahrheit, Sprache und Praxis
Das Streben nach einer wahren, intersub-jekiv überzeugenden Lebens‑ und Gesell-schaftsorientierung läßt sich also, vor allem in den Fällen substantieller Sätze, nicht ablösen von dem Bemühen darum, prakti-sche Formen des Lebens zu identifizieren oder zu konstruieren, welche die Grundlage eines für die Wahrheitsuchenden allgemein zustimmungsfähigen Zusammenhangs mit unserem Sprachgebrauch bilden können.
Am Ende ist bei den substantiellen Aussagen nur soviel Wahrheit in dieser Welt möglich, wie wir in ihr praktisch vernünftige Verhältnisse aufbieten können. Unterstellt, daß diese, mit den zugehörigen Problem‑ und Sprachverständnissen, bestenfalls in unabschließbarer Bewegung sind, gibt dies auch der praktischen Wahrheit eine entsprechende Dynamik. - Der einzelne Wahrheitsanwender kann sich zwar mit vie-len Ergebnissen von dem praktischen Kontext, in welchem sie gewonnen werden, "theoretisch" distanzieren. Die theoretische Distanz erlaubt auch den "free rider" der unparteilichen Lebensorientierung, den "realistischen" Orientierungsegoisten. Die Wahrheitssuche als notwendig gemeinsame Ausarbeitung von sprachlichem Sinn und Begründungen kann diese Abspaltung aller-dings nicht vornehmen.
Wenn Wahrheit damit auf Teilnahme an und Konstruktion von gemeinsamen praktischen Formen des Lebens gegründet ist, dann hängt die praktische Transsubjektivität mit der Intersubjektivität des (theoretischen) Wahrheitsanspruches untrennbar zusammen. Die Orientierungskooperation läßt sich nicht von der vernünftigen praktischen Koopera-tion trennen. Eine partikulare praktische Basis des Sprachverstehens trägt im all-gemeinen keinen Wahrheitsanspruch.
Ich hatte zu Beginn zwischen Begründungs-legitimität und politisch‑praktischer Le-gitimität unterschieden. Man sieht jetzt, in welchem Sinne beide miteinander verwoben sind: Für die Wahrheit substantieller theo-retischer und praktischer Urteile müssen Einsicht und Einigung Hand in Hand gehen. Einsichten sind Argumente für Einigungen. Einigungen erst geben Einsichten einen sprachlich allgemeinen und so für alle identifizierbaren bestimmten Inhalt.
Bisher ist die notwendige Einheit von Wahrheit, Sprache und Praxis gewährleistet vor allem für elementare, weltweit ver-gleichbare Alltagssituationen, für tech-nisch‑wissenschaftliche Aussagen, Termi-nologien und Praktiken, schließlich für eine Reihe rechtlicher Institutionen, etwa für die rechtlich bereits realisierten Fragmente eines weltbürgerlichen gesellschaftlichen Zu- standes. Dagegen haben die substantiellen Urteile und Wahrheitsansprüche etwa der Philosophie, der Ökonomie und in sub-stantiellen Fragen häufig auch der Politik und des Rechts, ferner des sozialen und mentalen Bereiches weithin noch nicht den Zustand praktisch legitimierten Satzsinnes erreicht. Soweit hier kritisch und univer-salistisch Diskussionsgemeinschaften vor-bereitende Überlegungen und Untersuchun- gen anstellen, müssen diese dann einst-weilen fragile Vorgriffe bleiben, d.h. Vor-griffe, deren Legitimität noch nicht der notwendigen Kontrolle und Bewährung durch eine Öffentlichkeit unterliegt, welche sich auf eingerichtete oder auf den Weg gebrachte gemeinsame praktische Formen des Lebens und eine in sie eingebettete Sprache beziehen kann. Die Dynamik der Begründungslegitimation ist hier eben nicht einzig eine solche der Anwendung bereits entwickelter Einsichten, sondern vor allem auch eine solche der Fundierung in prak-tisch‑politischer Legitimität und der von ihr getragenen, etwa rechtlich geformten Sprachentwicklung.
Ein wahres Verständnis der wesentlichen Dinge ist also letztendlich auf eine sprachlich und praktisch geeinte Welt angewiesen. Was das wirklich heißt, hat die Philosophie noch nicht angemessen durchgearbeitet. Daher steht uns wohl nach der Sokratischen und der Kantischen, durch Wittgenstein vollendeten philosophischen Aufklärung noch ihre dritte Stufe bevor, in der wir auf die ethnozentrischen und postmodernen Einwürfe der gegenwärtigen Zeit wie auf eine merkwürdige Verirrung zurückblicken mögen. Gelingt diese Aufklärung, in der es mit der Universalität von Einsicht und begrifflichem Sinn praktisch ernst werden müßte, nicht, so könnte uns allerdings die Dynamik der gescheiterten praktischen (vor allem substantiellen) Wahrheit in die Barbarei einer Differenz zurücktreiben, deren Menetekel wir an der Wand der Zeit sehen.
Von der Redaktion gekürzte Fassung eines Vortrages auf dem XVII. Deutschen Kongreß für Philosophie in Leipzig.
UNSER AUTOR:
Friedrich Kambartel ist Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt.
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