PhilosophiePhilosophie

02 2020

Frischmann, Bärbel: Das Virus und die Angst

Aus: Heft 2/2020, S. 8-15

 

Angst gehört zum Menschsein, weil Menschen in der Lage sind, sich ihr Leben vorzustellen, also sich Gedanken darüber machen, was sie sich wünschen, erhoffen und befürchten, was sie tun oder meiden wollen. Da Menschen nicht instinktiv agieren, sondern ihr Handeln bewusst planen und ausführen können, ist damit aber immer auch schon impliziert, dass es verschiedene Optionen gibt, sich so oder so zu entscheiden, dies oder jenes zu wählen, das möglicherweise Kommende zu bedenken und abzuwägen. Da diese Vorausschau nur vage sein kann, da die Zukunft nicht schon bekannt und beherrscht ist, wird unser Leben getragen von Unsicherheit und Ungewissheit, von einer Art Bodenlosigkeit, zumindest dann, wenn kein Glaube an eine transzendente Instanz oder einen notwendigen Gang der Weltgeschichte Halt versprechen. Diese, man könnte sagen: strukturelle Disproportion betrifft nicht nur das Nicht-Wissen, sondern auch die eigenen Entscheidungen, die mit der Zukunft rechnen, sie aber nicht kennen und so sich potentielle Schuld für etwas zusprechen, das nicht ganz in der   eigenen Macht steht und so verunsichert. Um diese Verunsicherung als konstitutiven Aspekt der menschlichen Reflexivität zu markieren, hat sich vor allem im Horizont der Moderne der Begriff „Angst“ etabliert.

 Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard war der Erste, der in seinem Büchlein Der Begriff Angst (1844, die deutsche Übersetzung erschien erst 1890) die enge Verbindung zwischen dem geistigen Vermögen, Möglichkeiten zu denken, frei aus diesen Möglichkeiten zu wählen und dann die Last der Verantwortung für diese Entscheidungen tragen zu müssen, als Angst kennzeichnete. Dort heißt es: „Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit“.  Angst ist nicht zu verwechseln mit der Furcht, die auch Tiere haben können, d. h. den unmittelbaren körperlich-psychischen Reaktionen auf direkte Gefahr: Die Schritte im Dunkeln hinter mir lassen meinen Herzschlag und die Atmung beschleunigen und treiben mir Adrenalin durchs Blut. Der Organismus bereitet sich darauf vor, zu fliehen oder zu kämpfen. Laut Kierkegaard besteht demgegenüber das Spezifische der Angst darin, dass sie gar keinen konkreten Gegenstand hat, sondern sich nur als eine Befindlichkeit äußert, die „Nichts“ als Inhalt hat. Sie ist das Bewusstsein davon, dass Menschsein bedeutet, in der eigenen Lebensführung niemals festgelegt zu sein, sondern stets eine offene, unbestimmte, also nicht wirklich kontrollierbare Zukunft vor sich zu haben.

Vor einem halben Jahr hätte sich wohl niemand wirklich vorstellen können, wie rasend schnell sich das Alltagsleben von einem Tag zum andern ändert und ganze Länder mit ihren Institutionen und Volkswirtschaften nahezu stillgelegt werden. Wir kennen die Zukunft nicht, sie ist das Ungewisse für uns. So beschrieb Kierkegaard schon in seinem Werk Entweder-Oder (1843) diese Verunsicherung sehr eindringlich: „Was wird kommen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht, ich ahne nichts. Wenn eine Spinne von einem festen Punkt sich in ihre Konsequenz hinabstürzt, so sieht sie stets einen leeren Raum vor sich, in dem sie nirgends Fuß fassen kann, wie sehr sie auch zappelt.“

Selbstverständlich ist diese Situation der Bodenlosigkeit und Haltlosigkeit schwer auszuhalten. Die Psyche sucht deshalb als Gegengewicht nach etwas, an dem sie sich festhalten kann, seien es Religionen, Ideologien, Traditionen oder Toilettenpapier, das den Vorteil hat, dass es immer gebraucht wird, nicht so schnell verdirbt und seine Funktion stabil bleibt. Und unsere Psyche tut noch ein weiteres, sie füllt die allgemeine Angst vor dem nicht-identifizierbaren, objektlosen Nichts der Möglichkeiten mit einzelnen Ängsten, auf die man nun seine Aufmerksamkeit richten kann, die bearbeitet werden können, mit Ängsten, die sich an konkretere oder abstraktere Inhalte binden: Spinnen, enge Räume, die nächste Prüfung, mangelnde soziale Anerkennung bis zu Arbeitslosigkeit, Atomkrieg, Klimawandel, Weltverschwörung, von der Panik angesichts möglicher Ansteckung an einem Virus bis zu Befürchtungen, die gesamte Weltwirtschaft könnte zusammenbrechen. In diesem Sinne meinte Kierkegaard, dass der Mensch „selbst die Angst produziert“; gemeint sind die Ängste, die wir im Umgang mit der Bodenlosigkeit ausprägen. Diese selbstgeschaffenen, bestimmbaren Ängste sind zum Teil überwindbar, sie können aber auch so wirkungsmächtig werden, dass sie pathologische Formen annehmen, die einen Menschen vollkommen lähmen und oft Therapien erfordern. Doch die psychisch ausgetragenen Ängste sind zu unterscheiden von der allgemeinen, geistig-reflexiven Angst, die Kierkegaard als die Möglichkeit charakterisiert, sich zu seinen Möglichkeiten zu verhalten. Sie ist eine Art Ahnung oder Wissen um die eigene prinzipielle Gefährdungsmöglichkeit, die konstitutiver Aspekt menschlicher Selbst- und Weltwahrnehmung ist. Sie signalisiert uns, dass wir die Zukunft nicht kennen, dass sich in jedem Kontext unseres Lebens immer verschiedenste Möglichkeiten eröffnen, deren weitere Entwicklung wir nicht vorhersehen können, so dass die Entscheidung für die eine und gegen die andere der Möglichkeiten immer eine Ungewissheit mit sich bringt, die uns stets unterschwellig oder bewusst begleitet.

 

 

Kierkegaard und nach ihm andere Existenzphilosophen, Jaspers, Heidegger, Sartre, Camus, bewerten die Angst in dieser Hinsicht positiv, denn sie gibt dem Menschen Auskunft über seine anthropologische Grunddisposition, sich als freies Wesen zu verstehen, dessen Schicksal nicht vorgegeben ist, sondern das sich seine Zukunft antizipiert und sich dabei verschiedenste Szenarien auszumalen vermag. Die spezifische Leistung der Angst ist ihre Sensibilität für die Offenheit und Formbarkeit unseres Lebens und damit auch unseres eigenen Selbstbildes. Sie mahnt uns damit zugleich, dass wir Sorge zu tragen haben für uns selbst, unsere Familie und Freunde, unsere Gesellschaft und unsere Lebensbedingungen, und zwar durch eigene Entscheidung.

Deshalb rückt Martin Heidegger in Sein und Zeit (1927) die Sorge ins Zentrum der Beschreibung des Menschen als einem Dasein, das sich auf sich selbst und die Welt verstehend und handelnd beziehen kann. Der Mensch als dieses sich selbst verantwortende, um sich sorgende Dasein ist immer dem Jetzt voraus, es ist sich-vorweg, immer bestimmt durch Möglichkeiten, die in den Lebensentwürfen skizziert werden. Dieser Zustand der Sorge um sich wird bewusst in der Angst, in der Befindlichkeit, in der einem die Welt entrückt, unvertraut wird, ja unheimlich. In diesem „un-heim-lich“ löst sich die Konstanz der alltäglichen Lebensvollzüge auf, die Heimatlichkeit und die Geborgenheit werden zerstört, der Mensch wird auf sich selbst zurückgeworfen und sich gerade damit seiner Freiheit, seines Daseins in Möglichkeiten bewusst, die immer unbestimmt sind und so das Dasein vom festen Boden lösen und in einen Schwebezustand versetzen. So Heidegger: „Wir ‚schweben‘ in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. Darin liegt, daß wir selbst – diese seienden Menschen – inmitten des Seienden uns mitentgleiten.“ Auch unser Selbst ist unbestimmt und ungewiss, muss je neu bestimmt werden. Wie Kierkegaard verwendet auch Heidegger zur Charakterisierung des Inhalts der Angst den Terminus „Nichts“. „Die Angst verschlägt uns das Wort. Weil das Seiende im Ganzen entgleitet und so gerade das Nichts andrängt“. Und dieses Nichts bleibt unbestimmt. „Das Nichts enthüllt sich in der Angst – aber nicht als Seiendes. Es wird ebensowenig als Gegenstand gegeben. Die Angst ist kein Erfassen des Nichts.“ Dies heißt, dass es keinen konkreten Gegenstand der Angst gibt, sondern eben nichts Spezifisches identifizierbar ist, das die Angst veranlasst. Wäre es bestimmbar, würde es sich nur um Furcht handeln.

In der Angst muss ein Mensch sich zu sich selbst verhalten, muss mit seiner Freiheit umgehen, er ist gefordert, das, was er selbst in Zukunft sein könnte und sein will, in die Waagschale zu werfen, seine eigene mögliche Zukunft zu entwerfen. Es geht in der Angst also immer um mich, um meine ergriffenen und verworfenen Möglichkeiten. Die Angst offenbart dem Dasein sein „Freisein für die Freiheit“. Sie bewirkt so etwas wie die Auflösung der scheinbaren Bedeutsamkeiten und die Besinnung auf das, was einem wirklich wichtig ist, sie lässt das Unwesentliche nichtig werden.  Die Angst ist eine Grundbefindlichkeit des Menschen, allerdings geht Heidegger davon aus, dass Angst sich nur selten in dieser Radikalität äußert, zumeist ist sie verdrängt und verborgen, besser gesagt, wir versuchen sie zu verdecken oder umzulenken, um nicht ständig mit ihrer Anforderung an uns konfrontiert zu sein.

Ähnlich argumentiert auch Jean-Paul Sartre in seinem Werk Das Sein und das Nichts (1944). Sartre geht radikal von der Freiheitsidee aus: Der Mensch ist von Natur in Freiheit gesetzt, dies sucht er sich nicht aus. Damit ist er auch dazu getrieben, zu entscheiden und verantwortlich zu sein. Niemand kann davor fliehen. Und niemand überschaut wirklich die Dimension der eigenen Möglichkeiten und der eigenen Verantwortlichkeit. Dies ist der Boden der Angst. „Das Bewußtsein, seine eigene Zukunft nach dem Modus des Nicht-seins zu sein, ist genau das, was wir Angst nennen.“ Eine Form der Umgangsweise mit der Angst besteht in der Flucht in die Unaufrichtigkeit und Selbstlüge, in der es so scheint, als hätte man alles im Griff. Aber letztlich lässt sich Angst nicht verdrängen, „denn wir sind Angst“.

Albert Camus hat zur Illustrierung der Problematik von Angst, Freiheit und Verdrängung in seinem Roman Die Pest einen Stoff gewählt, der in der Schilderung des Umgangs mit der Seuche viele Ähnlichkeiten mit den Corona-Szenarien aufweist.

Für diese Philosophen der Existenz hat Angst eine ausgezeichnete Funktion für den Menschen. Sie ist Signum menschlicher Freiheit als der Unbestimmtheit in einer Welt vieler Möglichkeiten, in der wir dennoch wählen und handeln müssen. Angst resultiert aus unserer Fähigkeit, die Zukunft vorzustellen, sie aber nicht sicher gestalten zu können, ja, die eigenen möglichen Handlungen und Entscheidungen nicht wirklich vorhersagen zu können. Das Unberechenbare kann jederzeit in unser gewohntes Leben einbrechen. Je größer die Ungewissheit, desto größer und vielfältiger die Ängste. Ängste entstehen vor allem dort, wo etwas nicht bekannt und vertraut ist, sich schnell verändert, der angemessene Umgang damit nicht klar ist, wir also nicht auf bewährte Handlungsmuster zurückgreifen können. Und sie werden dort potenziert, wo das soziale Umfeld keinen Halt bietet, sondern im Gegenteil panische Reaktionen befördert, wo die öffentliche Gewichtung alles Gewohnte verdrängt und die mediale Aufmerksamkeit rund um die Uhr nur auf ein Leitthema fokussiert.

Dies lässt sich an der Covid-19-Pandemie augenfällig beobachten. Wir konstitutiv angstfähigen und angstbereiten Menschen finden hier einen besonders geeigneten Gegenstand der Ängste-Produktion.

Wegen ihrer einschneidenden Eingriffe in das Leben sind Seuchen immer besetzt mit Ängsten. Dies konnte die Menschheit Jahrtausende lang lernen. Die gesammelten Erfahrungen mit solchen Vorkommnissen und ihren verheerenden Folgen stellen ein kulturelles Wissen über Verläufe, die tiefgreifenden Veränderungen für das normale Alltagsleben und auch die Bewältigungsstrategien dar. So wurden immer auch verschiedenste Spekulationen über die Auslöser von Krankheiten und Seuchen angestellt, die wie stets bei solchen Katastrophen gerne ihre Sündenböcke suchten: missgünstige Götter, Dämonen, die Juden, die Hexen, die Fremden usw. Die fundamentalen Erschütterungen führten sehr häufig dazu, dass bisher geltende Strukturen und Institutionen in Frage gestellt wurden. Die Pest Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa kostete nach Schätzungen etwa einem Drittel der Bevölkerung das Leben. Zu den Folgen gehörte auch ein Einflussverlust der herrschenden Kräfte und der Kirche.

Bis heute ist die Welt betroffen von unterschiedlichsten Seuchen, so gibt es nach wie vor Typhus-, Cholera- und Masern-Epidemien, selbst die Pest tritt immer noch auf. Hinzu kommen die Virusgrippen, seit den 1960er Jahren sind die Corona-Viren bekannt.

Warum ist es aber gerade ein Virus, das sich als Gegenstand der Ängste so hervorragend eignet?

Schon von seiner Konstitution her haftet dem Virus etwas Unheimliches an: Es ist kein Lebewesen, hat keinen eigenen Stoffwechsel, besitzt aber organische Strukturen. Es kann sich nicht selbst vermehren, sondern braucht dafür einen Organismus, in den er sich einnisten kann. Es funktioniert wie ein Programm, das in einen Computer eingegeben wird. Wenn man das Programm nun aber nicht kennt, bei unbekannten Viren beispielsweise, ist schwer vorhersehbar, was das Virus anrichten kann. Dies ist beim neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 der Fall, wo am Anfang der Ausbreitung noch gar keine Erfahrungen vorlagen und zunächst nur Analogien zu verwandten Viren bemüht werden konnten. Dies erhöhte die Unsicherheit, da die Gefahrenlage nicht kalkulierbar war und ist. Grippe ist uns gut bekannt, Covid-19 nicht. Dies schürt Ängste. Je mehr Fälle es inzwischen gibt, je mehr Behandlungsmethoden und Vorsichtsmaßnahmen zur Eingrenzung der Ansteckung erprobt werden, um so verlässlicher können die Prognosen zum weiteren Verlauf der Pandemie gegeben werden. Dies beruhigt die angstbereiten Gemüter, zumindest ein wenig an der Oberfläche.

Viren können mutieren, sie sind so eine immer lauernde Gefährdung. Selbst wenn sie zunächst harmlos erscheinen, ändern sie ihr Programm auf ziemlich unvorhersehbare Weise. Damit muss man rechnen, aber es lässt sich nicht vorhersagen, so wie dies bei der jetzigen Corona-Ausbreitung der Fall ist. Gegen neue Viren gibt es zunächst keine Medikamente, die Krankheitsverläufe können sehr schwer sein. Dies bereitet vielen Menschen große Ängste.

Mit dem Topos des Viralen hat sich seit der Entdeckung der Viren ein eigener Bedeutungsgehalt entwickelt, der sprachlich-metaphorisch viele Bereiche durchsetzt hat. Wir sprechen von Computerviren, die sich in unserem PC festsetzen und unsere Software „infizieren“. Wenn sich etwas Unangenehmes in der sozialen Welt verbreitet, sagen wir, es ist wie ein Virus. Damit schwingt mit, dass es „ansteckend“ ist und dass die Folgen beängstigend sind. Das Virus hat sich also im übertragenen Sinn auch in unserer Sprache eingenistet.

Umgekehrt sind gerade Ängste besonders anfällig für Ansteckung, da sie sozialpsychologische Rahmungen haben, in denen sie sich aus situativen Stimmungen speisen und auch ihre Gehalte immer aus kulturellen Kontexten, herrschenden Diskursen und medialen Überflutungen beziehen. Nachrichten, Berichterstattungen, die Einschätzungen von Experten, politische Stellungnahmen und auch die Meinungsbildungen im privaten Lebensumfeld sind komplexe, nicht homogene Informations- und Orientierungsangebote, die es schwierig machen, sich selbst in dieser Situation zu verankern und mental abzusichern. Je unübersichtlicher die Lage wird, je mehr das Vertrauen in die normalen Alltagsvollzüge schwindet, umso unberechenbarer erscheinen der Ausbruch und die Verbreitung von Ängsten. Und diese Ängste können hoch ansteckend sein und sich bis zu Massenpaniken und Massenhysterien steigern. Zudem ist nicht zu unterschätzen: Sie können manipuliert und instrumentalisiert werden, um Krisenzeiten zu nutzen, die Durchsetzung bestimmter Interessen zu forcieren.

Die jetzige Pandemie hat sich in unglaublicher Geschwindigkeit um den Globus ausgebreitet. Insbesondere solch schnelle Veränderungen sind immer besetzt mit Ängsten, da Menschen für rasche Wandlungen keine technischen Hilfssysteme und keine kulturellen und sozialen Absicherungsstrategien besitzen, sie sich dem Geschehen damit oft hilflos ausgeliefert fühlen. Ob die eingeschlagenen Wege der einzelnen Staaten der Gefährdungslage angemessen sind, werden die Entwicklungen zeigen müssen, wenn sich wieder Normalität eingestellt hat. Für eine Weile wird, wie es metaphorisch so passend heißt, auf Sicht gefahren und von Tag zu Tag entschieden. Dabei verunsichert eine nicht eliminierbare Vagheit, sind doch die vielschichtigen Interessenlagen nicht alle gleich gut zu berücksichtigen. Wenn ein Gleichgewicht gestört ist, braucht das Einpendeln auf ein neues Maß Zeit. Zeit aber, der Blick Richtung unvorhersehbare Zukunft, ist der Fokus der Ängste.

Diese Ängste sind angesichts der gesundheitlichen Risiken und sozialen Veränderungen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt viele Menschen, die sich angemessen und bedächtig verhalten, die unterstützen und helfen. Andere sind schnell panisch geworden, haben sich mit den unnötigsten Dingen eingedeckt in (irrationaler?) Erwartung, die Gesellschaft könnte kollabieren. Und es ist auch nicht zu übersehen, dass es Ignoranten gibt, die, aus welchen Gründen auch immer, den empfohlenen Regeln nicht folgen und damit das Gemeinwesen schädigen. Alle machen sich dabei wohl ihre Gedanken, benutzen ihre Weltbilder, um die Lage zu erklären, auch hier wird das ganze Spektrum bedient, von der Naturwissenschaft bis zur Verschwörungstheorie, von Biowaffen-Phantasien bis hin zum fatalistischen Schicksalsglauben.

Ängste können auch auf die Mitmenschen gerichtet sein. Wie Menschen in Krisen reagieren, ist immer unberechenbar: ob sie beispielsweise solidarisch oder feindselig agieren, kämpferisch oder deprimiert. Hätten wir vorher gedacht, dass unsere Nachbarn auf einmal zu Hamstern werden, die vollkommen egoistisch die Konserven bunkern, die sie niemals aufessen können? Unter welchen Umständen schwinden Recht und Moral, sind Menschen bereit, sich gegenseitig zu berauben und zu ermorden? Was wäre, wenn das Virus so aggressiv und infektiös wäre, dass es ganze Landstriche entvölkerte, so wie einst die Pest oder die großen Cholera-Epidemien, des 19. Jahrhunderts? Wie sähe da unser Leben aus? Wie würden wir selbst uns dann verhalten? Können wir das für uns selbst mit Gewissheit sagen?

Wo Menschen kein Vertrauen haben, wachsen die Ängste rapide. Sie treiben immer wilde Blüten, sie haben manchmal konkrete Anlässe, sind aber in der jeweiligen psychischen Ausgestaltung individuell und eigenartig. Was den einen ängstigt, findet eine andere lächerlich. Doch dies hilft den Betroffenen nicht. Aber vielleicht hilft es, sich immer einmal wieder mit Theorien zu beschäftigen, die uns Deutungen für unser Menschsein anbieten. Bei den Existenzphilosophen, die ziemlich radikale Blicke auf das menschliche Selbstverständnis werfen, wird die menschliche Angst als eine Grundbefindlichkeit vorgeführt, die die konstitutive Unbestimmtheit der menschlichen Existenz markiert und aufmerksam macht auf die prinzipielle Ungesichertheit unseres Lebens. Menschsein ohne Angst gibt es nicht, weil Reflexivität und zeitliche Vorstellungskraft die existenzielle Ungewissheit einer noch nicht bekannten Zukunft vor Augen führen. Die menschliche Grundangst wird in den konkreteren Ängsten ausgetragen, die dann psychisch martern können. Das Wissen um die eigene Ungesichertheit wird mit Bildern belegt, mit Gefühlen ausgekleidet, mit Phantasien versehen und so inhaltlich fassbar. Und es wird auch gezeigt, dass wir uns gerne in Sicherheit wiegen möchten, dass wir uns psychische Strategien entwickeln, unsere Sorgen und Ängste möglichst so zu kanalisieren, dass sie uns nicht zu arg körperlich und seelisch bedrängen. Wem dies nicht so gut gelingt, der durchlebt jetzt harte Zeiten. Doch es bleibt immer die Möglichkeit, den Blick auf sich selbst und die Welt zu ändern, den Fokus zu wechseln oder Handlungsoptionen und Strategien neu zu bewerten.

Und auch hier bietet sich eine Analogie an. So wie man gegen bestimmte Krankheiten eine körperliche Immunität entwickeln und so den Organismus schützen kann, ist es auch möglich, sich gegen die eigenen Ängste zu immunisieren und abzuhärten und so die Psyche zu entlasten. Wenn dies nicht schon in der eigenen Disposition angelegt ist, also eine Art natürliche Widerstandsfähigkeit besteht, kann man diese Resilienz gegenüber den Ängsten einüben, wie es schon die Stoiker empfohlen haben.

Die Grundbefindlichkeit der Angst im existentialistischen Sinn hingegen bleibt bestehen, wie es auch für die faktische Erkrankungsmöglichkeit des Organismus gilt. Weder ist der Körper je vollkommen gesund, da immer in ständigem Stoffwechsel und so nie ganz im Gleichgewicht, noch ist der Mensch geistig je gänzlich frei von Angst, da immer im Zustand der Ungewissheit um die eigene Zukunft.

UNSERE AUTORIN:

Bärbel Frischmann ist Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Erfurt.