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02 2020

Medienphilosophie: Covid 19 und die PhilosophInnen. Eine Übersicht über die mediale Präsenz der Philosophie

aus: Heft 2/2020, S. 16-25

In Krisenzeiten hat Philosophie Hochkonjunktur. Zu keinem Thema haben so viele Philosophen und Philosophinnen sich in so kurzer Zeit in den Medien geäußert wie zur Corona-Krise, und zu keiner Zeit waren sie so gesucht. Kaum eine der bekannten Stimmen fehlt hier, einzelne AutorInnen sind in verschiedenen Kanälen zu finden. Und mit Covid 19: Was in der Krise zählt ist bereits das erste, mitunter philosophische Buch zum Thema erscheinen (verfasst von Adriano Mannino / Nikil Mukerji, Reclam Stuttgart). Da sage jemand, die Eule der Minerva beginne erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug. „Viele Philosophen und andere Intellektuelle versuchen jetzt, aus dieser Krise in irgendeiner Form intellektuelles Kapital zu schlagen“, glaubt Thomas Vaŝek, Chefredakteur des Philosophie-Magazins Hohe Luft. Doch es fragt sich, ob die Medien (und damit eine breite Bevölkerung) nicht noch mehr an Stimmen aus der Philosophie interessiert waren. Denn das Bedürfnis nach Reflexion und nach Orientierung ist in dieser Zeit enorm. Einer der Philosophen sieht sogar eine „Zeitenwende“ angesagt, eine „moralischen Fortschritt“ (Abkehr vom Paradigma der Wirtschaft zu dem der Politik). Ähnlich sieht es einer der eifrigsten Wortmelder, Markus Gabriel. Er sieht die Krise als Chance für einen Neuanfang, „der moralischen Fortschritt der Menschheit an die oberste Spitze seiner Zielstruktur setzen muss“ und ruft zu einer neuen Aufklärung auf. Im folgenden einige der Wortmeldungen vor allem aus der ersten Zeit der Krise, lose gruppiert nach Themen.

Verpflichtet uns das Ziel der Lebensrettung, unbegrenzt Freiheitsbeschränkungen und wirtschaftliche Nachteile hinzunehmen?

Es komme ganz auf deren Maß und Ziel an, antwortet Gertrude Lübbe-Wolf in der Frankfurter Allgemeinen vom 24. März. Denn es gehöre zum Rechtsstaat, dass er in Krisensituationen mehr darf als sonst. Allerdings hält Lübbe-Wolf die Vorstellung, man könne die Gesellschaft als Ganze weitgehend schließen, während der Staat so lange wie nötig für das Nötigste sorge, für wirklichkeitsfremd. Aber das Ziel, das Infektionsgeschehen zu verlangsamen, könne tiefgreifende Einschränkungen legitimieren.

Auch Julian Nida-Rümelin hält die Aussetzung des öffentlichen Lebens aus Solidarität gegenüber den Schwachen und Vorerkrankten für verkraftbar. Sollte sich das jedoch über Monate hinziehen, „dann fürchte ich, dass wir einen dauerhaften Schaden erleiden werden, ökonomisch, aber auch kulturell und sozial. Menschen ziehen sich dann zurück. Die ängstlichen, die ohnehin dazu neigen, sich zurückzuziehen, werden dann möglicherweise erst recht in eine Art Depression verfallen“. Für Nida-Rümelin geht es um ein Abwägen: „Welche Kosten sind wir bereit, in Kauf zu nehmen?“ Käme als Folge die Weltwirtschaft zum Kippen, wäre der „Preis zu hoch, wenn die Sterblichkeit nur unwesentlich höher liegt als bei der gewöhnlichen Grippe … Es kann nicht sein, dass man versucht, bestimmte Risiken, die vielleicht viel niedriger sind als andere, unter extremen Kosten zu vermeiden, und andere Risiken als selbstverständlich hinzunehmen.“ Für Nida-Rümelin ist die Frage berechtigt, ob wir im Falle von Covid 19 diese Abwägung richtig vornehmen und vor allem dosiert genug einsetzen. Er plädiert für das „Cocooning“, das Prinzip der Durchseuchung: Der junge Teil der Bevölkerung kann sich infizieren, ist dann immun und kann sich um die Alten kümmern. „Unter der Bedingung, dass die Alten und gesundheitlich Gefährdeten wirklich geschützt sind“, könne man das „minimale Risiko für den Rest der Gesellschaft eingehen“ und die Ökonomie schnell wieder hochfahren, befand Nida-Rümelin in einem Interview mit dem ZDF – ein Vorschlag, der ihm viel Kritik eingetragen hat. (Bayerischer Rundfunk, 13. März, AZ München, 25. März). Julian Nida-Rümelin zeigte sich zudem besorgt über „eine auffällige Abwehr gegenüber kritischen Debatten.“ Zu einer Demokratie gehöre in Krisenzeiten die Diskussion und Kontroverse. „Sicher ist das neue Coronavirus eine ernstzunehmende Gefahr. Gleichzeitig haben die Bilder aus Bergamo und New York dazu geführt, dass die Menschen unter einem Konformitätsdruck stehen und es abweichende und kritische Meinungen schwer haben“.

„Wie und was kann man denn überhaupt abwägen?“ entgegnet der zur Kritischen Theorie gehörende Gunzelin Schmid Noerr. „Was ist der gemeinsame Maßstab bei der Abwägung von gesundheitlicher und wirtschaftlicher Sicherheit und Existenz für die Bevölkerung?“ Eine Ethik der Nutzenabwägung und -maximierung reiche nicht aus, wenn man es mit der Fürsorge für die Kranken, Schwachen und Hilflosen zu tun hat: „Dann wird der Rückgriff auf eine Ethik der unverrechenbaren Menschenwürde unabdingbar.“ (Frankfurter Rundschau2. April). Auch Dietmar von der Pfordten wehrt sich dagegen, dass Menschenleben gegeneinander aufgerechnet werden sollen: „Jeder Mensch verdient denselben Schutz des Staates, egal, ob stark oder schwach, jung oder alt. Das ist Ausdruck einer ebenso gerechten wie aufgeklärten Haltung.“ (Neue Zürcher Zeitung, 1. April). Und Oliver Hallich (Duisburg-Essen) argumentiert analog: „Menschliches Leben ist wichtiger als wirtschaftliche Interessen“ (RP Online, 3. April).

 

Auch Frank Dittrich, Philosophieprofessor an der Universität Düsseldorf, sieht keine klaren Abwägungskriterien, die es uns ermöglichen, so unterschiedliche Güter wie Leben, Freiheit und Prosperität gegeneinander „aufzurechnen“. Die Behauptung, dem Lebensschutz gebühre absoluter Vorrang, der jegliches Abwägen gegen unser Interesse an Freiheit und Wohlstand verbiete, akzeptiert er jedoch nicht und verweist auf das Beispiel der Grippeimpfung. So könnte durch eine verpflichtende Grippeimpfung die Zahl der Todesfälle (etwa 25‘100 Tote in Deutschland) reduziert werden. Doch das individuelle Recht auf Selbstbestimmung wird hier höher gewertet als der Schutz vulnerabler Personen, und dieser zählt auch hier nicht als hinreichender Grund, um staatliche Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen. (Prae/faktisch 12. April)

Solidarität, wie sie etwa der Ethikrat einfordert, hält der Rechtswissenschaftler Frank Bublitz (Hamburg) als die Bezeichnung der normativen Verhältnisse bezüglich der Freiheitsbeschränkungen für irreführend. Das Bild der Solidarität läuft in seinen Augen Gefahr, das Verhältnis von Gefährdern zu Gefährdeten umzukehren, was sich wiederum auf Vorschläge zur Lockerung des Lockdown durch Isolation gerade letzterer auswirkt. Grundsätzlich gilt die Pflicht eines jeden, andere nicht zu verletzen, und zwar auch hinsichtlich von Gefahren, die vom eigenen Körper ausgehen und unabhängig davon, ob man diesen freiwillig oder zurechenbar zu einer Gefahrenquelle gemacht hat. (Prae/faktisch 9. April)

Oliver Krüger (Medical School Hamburg) weist darauf hin, dass es dem Staat bei der Quarantäne nicht primär um das Wohlergehen des einzelnen Infizierten, sondern um die Auswirkungen geht, die die Infizierung mit sich bringt. Dabei macht der Staat ein Schutzrecht gegenüber seinen Bürgern geltend, das sich aus dem Schadensprinzip herleitet. Dabei ist der Schutz der Bevölkerung eine sehr vage Bestimmung, die unterschiedlich auslegbar ist, und die Rechtfertigung der Quarantäne hat letztlich einen utilitaristischen Charakter. Für Krüger muss der Utilitarismus insofern beschränkt werden, als der Bevölkerungsschutz in ein adäquates Verhältnis zu den Grundrechten des Einzelnen gestellt werden muss (Prae/faktisch 2. April) Henning Hahn, Professor an der FU Berlin, zufolge sind Eingriffe in die individuelle Freiheit nur dann zu rechtfertigen, wenn die Freiheit des einen sonst die Freiheit des anderen einschränken würde. Zu Zeiten einer Pandemie ist jedoch die Freiheit jedes Einzelnen „organisch mit der Freiheit und dem Wohl aller anderen verbunden“: Da das Virus alle betrifft, schränkt jeder mit sei-ner Entscheidung, sich dem Risiko einer Infektion auszusetzen, die Freiheit aller anderen (frei vom Virus leben zu können) ein. Deshalb sind in Demokratien Maßnahmen wie Ausgangsperren „Ausdruck freier und vernünftiger Selbsteinschränkung“ und „für einen limitierten Zeitraum“ vertretbar. (Business Insider, 25. März)

Auch der italienische Philosoph Giorgio Agamben war mit seiner Wortmeldung schnell zur Stelle. Er habe seine „Befriedigung darüber kaum unterdrücken können, seine lang vertretene Theorie des Ausnahmezustands seiner Meinung nach bestätigt zu sehen“, schrieb die linke Junge Welt. Agamben glaubt, dass das Virus nicht nur einzelne Menschen, sondern die ganze Gesellschaft infiziert. Wir würden uns so an die Ausgangssperre gewöhnen, dass wir sie als normal empfinden und schließlich in einer Diktatur landen, schreibt er in einem Kommentar in der Neuen Zürcher Zeitung(am 18. März): „Wir leben in der Tat in einer Gesellschaft, die die Freiheit zugunsten der sogenannten Sicherheitsgründe geopfert und sich selber dazu verurteilt hat, in einem ständigen Angst- und Unsicherheitszustand zu leben.“ Notstandsmaßnahmen hält er für völlig unbegründet. Der Zürcher Philosoph Georg Kohler antwortete ihm postwendend, den Aufruf zur Quarantäne mit dem Zustand einer – mehr oder weniger heimlich – herrschenden Diktatur zu vergleichen“, sei „verhältnisblöd" (NZZ, 23. März). Selbst Slavoj Žižek warf Agamben vor, er „blende den Realitätsgehalt der Gefahr“ aus. Žižekwill, wie es so seine Art ist, über das Virus gleich ein ganzes Buch schreiben.

In Italien ging Agamben noch weiter. Unter dem provozierenden Titel „Die Erfindung einer Epidemie“ sprach er von „hektischen, irrationalen und völlig grundlosen Notfallmaßnahmen“ und einer bloß „vermuteten Epidemie“. Die von der Regierung erlassenen Dekrete verwandelten „faktisch jedes Individuum in einen potenziellen Überträger, so wie einst die Terrorgesetze faktisch und rechtlich jeden Bürger zum potenziellen Terroristen machten“. Inzwischen hat sich Agamben von seiner Behauptung, die Epidemie gebe es nicht, verabschiedet, bei der des Ausnahmezustandes bleibt er jedoch. (Tagesspiegel 3. Mai). Jean-Luc Nancy antwortete Agamben, der Begriff „Ausnahmezustand“ sei überlebt. Sein alter Freund merke nicht, „dass in einer restlos vernetzten Welt die Ausnahme zur Regel wird“ und diese Vernetzung mit dem Bevölkerungswachstum zunehme.

Der österreichische Philosoph Robert Pfaller argumentiert ähnlich wie Agamben und sieht einen neuen Boom für die Überwachungstechnologie kommen. Er glaubt, dass sich „genügend Vorwände finden lassen, um diese Technologien weit über die Dauer der Krise hinaus einzusetzen. Und es wird wenig Widerstand dagegen geben.“ (Standard 30. März).

Peter Sloterdijk ist da weniger skeptisch; er sieht keine Gefahr der „Verewigung von Notstandsgesetzen“, obwohl ihn der allgemeine Gehorsam gegenüber diesen Gesetzen doch etwas überrascht hat. Er sieht eine Neigung der Politik, sich hinter der Wissenschaft zu verstecken, wird hier die Macht der Politik doch sichtbarer, als diese sich zeigen möchte. Die Krise hat für ihn zu einem Aufbruch geführt; offen sei, wohin das führe (Arte, 15. April). Im französischen Le Point kritisierte er den französischen Präsidenten Macron für dessen Kriegsrhetorik: „Manchmal führt man den falschen Krieg. Der Kampf gegen ein Virus hat nichts mit einer militärischen Mobilmachung zu tun.“ Sloterdijk weiter: „Die Pest hat den Aufstieg Europas nicht verhindert, und das tausendmal harmlosere Coronavirus wird jenen Chinas nicht stoppen.“ Der französische Philosoph Alain Finkielkraut entgegnete darauf laut einem Bericht von Jürg Altwegg („Die Niederlage der Denker“), das Interview stimme ihn „traurig“: „Sein Ton und sein Inhalt sind widerlich – Sloterdijks Arroganz ist unerträglich.“ (Frankfurter Allgemeine, 1. April).

Corona-Triage

Triage ist, so erläutert Tobias Kasmann (Leipzig), eine medizinische Praxis aus der Kriegs- und Katastrophenmedizin. Ihr Zweck ist es, unter Bedingungen besonderer personaler und zeitlicher Ressourcenknappheit die Anzahl der Überlebenden zu maximieren. Die Patienten werden zunächst nach Schwere der Verletzung in Behandlungsgruppen aufgeteilt und anschließend nach Dringlichkeit behandelt.

Beim Corona-Virus geht es dann um die heikle Frage, wie man den Zugang zu den Beatmungsgeräten regeln soll, wenn deren Kapazität nicht für alle reicht.

Weyma Lübbe (Regensburg) kritisiert die Empfehlungen der italienischen Mediziner. Diese fordern, vorrangig diejenigen zu behandeln, die eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben, und dann diejenigen, die mehr Jahre geretteten Lebens erreichen können, und dies im Blick auf eine Maximierung des Nutzens („dei benefici“) für die größte Anzahl der Personen. Dieses Kriterium der Maximierung der geretteten Lebensjahre verlangt laut Lübbe von den Praktikern eine dra-stische Abkehr vom eingeübten Blick auf die medizinische Bedürftigkeit. Den zurückgestellten Patienten und ihren Angehörigen wird zugemutet, erhebliche eigene Überlebenschancen aufzugeben zugunsten einer Erhöhung der Überlebenschancen von Personen, die auch ohne diese Solidaritätsleistung bereits erhebliche Überlebenschancen haben. Das Kriterium mutet Personen, bei denen die fragliche Behandlung indiziert ist und denen sie eine (wenngleich geringe) Überlebenschance bietet, zu, zugunsten anderer Patienten auf ihre Chance zu verzichten. Dahinter vermutet Lübbe die Auffassung, wenn (und solange) das Leben wertvoll ist, ist ein längeres Leben wertvoller als ein kürzeres. Die Ressourcen sind dann am effizientesten eingesetzt, wenn man anstelle der Anzahl der Überlebenden die Anzahl der Lebensjahre maximiert. Für Weyma Lübbe passt diese Redeweise für Wirtschaftsunternehmen, deren Eignern die produzierten Werte gehören. Für das Gesundheitswesen passt sie nicht. Menschen haben keine Eigner. Für die öffentliche Hand sind zwei Menschenleben nicht „wertvoller“ als ein einzelnes anderes und natürlich auch Zwanzigjährige nicht wertvoller als Sechzigjährige. (Prae/faktisch 19. März)

Bettina Schöne-Seifert hält die „Richtlinien der Schweizer Ärzteschaft“ für ethisch angemessen. Danach ist mindestens alle 48 Stunden anhand einer detaillierten klinischen Kriterienliste zu überprüfen, bei welchen Patienten ein Erfolg ihrer Beatmung inzwischen unwahrscheinlich erscheine. In solchen Fällen sei die Intensivtherapie abzubrechen (und den Patienten sterben zu lassen), um den Platz frei für einen anderen Schwerstkranken mit besseren Aussichten zu machen. Schöne-Seifert begründet dies damit, dass sich in der Medizinethik die Auffassung durchgesetzt habe, beide Formen des Sterbenlassens (auf eine Behandlung verzichten bzw. eine Behandlung abbrechen) seien gleichwertig. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. März).

Reinhard Merkel erwiderte postwendend, der Text habe einen grundlegenden Mangel. Die genannte Auffassung habe sich lediglich da durchgesetzt, wo es um die Wünsche und Rechte der Betroffenen gehe, nicht aber bei Interessen Dritter. Bei ersterem gehe es um die normative Forderung des Patienten, der einen Abbruch fordert. Wenn aber in einem lebenserhaltenden klinischen Vorgang interveniert werde (und zwar mit tödlicher Folge), um dann mit dem freiwerdenden Gerät das Leben eines anderen zu retten, dann handle es sich geradezu um einen strafrechtlichen Lehrbuchfall. Für Merkel ist das Abbrechen von lebensrettenden Maßnahmen nichts anderes als Tötung. Ältere Menschen hätten genauso viel Recht auf Beatmung wie jüngere.

Auch für Tobias Kasmann kommt es nicht in Frage, das italienische bzw. Schweizer Konzept auf die Behandlung von Corona-Patienten anzuwenden, darf es doch auch in einem kollabierenden Gesundheitssystem keine Diskriminierung von Behinderten und Grunderkrankten geben. (Prae/faktisch 26. März)

Ein metaphysisches Problem

Der Bonner Philosoph Markus Gabriel, der im Handelsblatt als „weltweit renommierter Experte für Fragen der Ethik und für die ethische Beurteilung künstlicher Intelligenz“ geführt wird, sieht in Viren ein ungelöstes metaphysisches Problem: „Niemand weiß, ob sie lebendig sind. Das liegt daran, dass wir heute gar keine eindeutige Definition von Leben haben. In Wahrheit weiß niemand, wo genau das Leben beginnt.“ Ja, wir wissen nach Gabriel noch viel weniger: „Ist das Corona-Virus eine Immunreaktion des Planeten gegen die Hybris des Menschen, der unzählige Lebewesen aus Profitgier zerstört?“

Für Gabriel offenbart das Virus, dass wir eine völlig neue Idee einer globalen Aufklärung brauchen: „Dazu müssen wir uns gegen gei-stiges Gift impfen, das uns in Nationalkulturen, Rassen, Altersgruppen und Klassen einteilt, die gegeneinander in Konkurrenz treten.“ Wenn wir nach der Krise so weitermachen wie bisher, so drohen Gabriel zufolge noch viel gravierendere Krisen: „schlimmere Viren, deren Entstehen wir gar nicht verhindern können; die Fortsetzung des Wirtschaftskriegs mit den USA, in dem sich die EU gerade befindet; die Verbreitung von Rassismus und Nationalismus im Kampf gegen die Migranten, die zu uns fliehen, weil wir ihren Henkern die Waffen und die Wissenschaft für Chemiewaffen geliefert haben. Und vergessen wir sie nicht: die Klimakrise, die viel schlimmer ist als jedes Virus, weil sie das Ergebnis der langsamen Selbstausrottung des Menschen ist.“

Eindringlich warnt Gabriel vor dem Tracking von Handydaten, wie es manche zur Virusbekämpfung empfehlen. „Warum tun wir etwas, das wir vorher eigentlich für moralisch verwerflich hielten, nämlich Maßnahmen einer soften Cyberdiktatur einführen?“ In einigen Staaten, wie zum Beispiel Ungarn, sei bereits klar zu sehen, dass der Ausnahmezustand als Deckmantel für undemokratische Maßnahmen genutzt werde. (General Anzeiger 21. März. RT deutsch 13. April, Handelsblatt 8. April, Deutschlandfunk 17. April).

Die Angst und das Virus

Für den Fuldaer Philosophen Christoph Quarch zeigt die Krise, dass wir eine angstvolle Gesellschaft sind: „Die Angst war immer schon da. Unter dem Einfluss der Pande-mie ist sie nun aber an die Oberfläche getreten. Unsere Gesellschaft ruht darauf, dass sie Menschen ein kollektives Sicherheitsgefühl gibt. Das ist jetzt erschüttert. Da kann schon eine Rolle Klopapier dem Menschen Sicherheit geben.“ Quarch sieht die Krise als ein Brennglas, das Dinge sichtbar macht, die immer schon da waren, die in der Betriebsamkeit des normalen Alltags aber nicht erkennbar waren. (Fuldaer Zeitung, 12 April).

Francis Cheneval, Professor für Politische Philosophie an der Universität Zürich, sieht in der Angst eine Gefahr: „In Situationen wie der jetzigen kann Angst zu einer Unterwerfungsmentalität führen. Eine ‚freiwillige Knechtschaft‘, wie sie Étienne de La Boétie genannt hat. Apokalyptische Untergangsszenarien können die Gesellschaft bedrohen. Man gerät in eine geistige Achtungsstellung vor der Regierung. Solche Bedenken hatte ich auch, als das Parlament auf Tauchstation ging.“ (SRF 4. April).

Wir sollten, so der Wiener Philosoph Felix Pinkert, neben den medizinischen auch die sozialen Aspekte berücksichtigen, und er denkt dabei an die alleinstehenden Menschen ohne soziale Kontakte in der Krise: „Was es braucht, ist, dass die 1,2 Millionen Menschen in Einpersonenhaushalten in Österreich endlich von den Entscheidungsträgern wahrgenommen und angesprochen werden. Wenn für diese Menschen die soziale Grundversorgung sichergestellt ist, dann können wir gerne auch über die Baumärkte reden.“ (Der Standard, 6. April)

Annemarie Pieper gibt den Rat, wir sollten mit dem Szenario ähnlich umgehen wie mit dem Wetter: „Es so nehmen, wie es kommt. Akzeptieren, dass es unsere Pläne über den Haufen wirft, und neue fassen.“ Und sie sieht neue Spielräume, „die wir selber füllen können. Aber eben auch füllen müssen, um das Leben so gestalten zu können, dass es uns Spaß macht und vielleicht sogar sinnvoll erscheint.“ (Tagblatt 28. März).

Einen therapeutischen Effekt sieht auch der Physiker und Philosoph Armin Grunwald: „Es ist kein Zufall, dass viele Menschen jetzt, nachdem die steile Abwärtskurve erst einmal in so einem Tal gelandet ist, eine Perspektive brauchen und suchen für die Zeit danach“, sagt Grunwald. Dahinter stehe ein menschlicher Reflex, „nach dem Motto: Es muss doch für irgendwas gut sein“. So gesehen fänden sich dieser Tage auch gute Botschafen – „dass alle sehen, wie wertvoll Gemeinschaft ist, dass man nicht täglich shoppen muss, um ein glücklicher Mensch zu sein, dass alles umwelt- und klimafreundlich wird“ (Süddeutsche Zeitung, 29. März).

Da ist die italienische Philosophin Donatella Di Cesare doch pessimistischer: „Das Virus wirkt biopolitisch, dringt in unsere Psyche ein, kappt die Verbindungen zwischen Menschen, es fühlt sich an, als wären wir seine Geiseln. Ich weiß nicht, wie lange wir das durchhalten, so zu leben, kontrolliert in diesem technototalitären Zustand. Aber das wird Spuren hinterlassen.“ (Die Zeit, 26. März).

Ist die Politik der Wissenschaft hörig?

Der Theologe Peter Dabrock, Vorsitzender der Ethik-Kommission des Deutschen Bundestages, fordert, die Politik müsse transparenter machen, welchen wissenschaftlichen Rat sie für ihre Entscheidungen einhole. „Politik muss auf die Wissenschaft hören, sie darf ihr aber nicht hörig sein…Am Ende muss die Verantwortung für die zu treffenden Maßnahmen von der Politik als den gewählten Repräsentanten getragen werden.“ (YouTube-Talk mit Joachim Hornegger

Anerkennungsverhältnisse

Gottfried Schwaiger (Salzburg) hofft durch die Epidemie auf eine Änderung der Anerkennungsverhältnisse:: die Epidemie zeige die Bedeutung von Arbeitenden, denen, z. B. Krankenschwestern oder Hilfspersonal, unter normalen Bedingungen wenig Anerkennung (etwa in materieller Hinsicht) zukommt (Prae/ faktisch 8. April).

Derselben Meinung ist auch Lisa Herzog: Durch die Krise sehen wir, welche Berufe wirklich wichtig sind: „Es wird klar, wie systemrelevant Krankenschwestern, Pfleger, Mitarbeiter der Müllabfuhr sind“ (und eine entsprechende Bezahlung verdienen). Auch plädiert sie dafür, dass ein Chef nicht mehr verdienen sollte als das Zehnfache des Gehalts eines Mitarbeiters am unteren Ende der Lohnskala.

Philipp Hübl ist zuversichtlich: „Es gibt eine Aufwertung der ganzen Berufe im Pflege- und Gesundheitsbereich. Die haben wir in den letzten Jahrzehnten doch sehr stiefmütterlich behandelt; sie wurden nicht nur schlecht bezahlt, sondern bekamen auch wenig soziale Anerkennung“. (Focus 7. April).

Positive Aspekte?

Svenja Flaßpöhler, die Chefredakteurin des Philosophie-Magazins, die die Krise in einem idyllischen Gartenhäuschen überlebt,kann ihr auch eine positive Seite abgewinnen: „Der Stillstand schenkt uns einen Denkraum.“ Auch sollte man sich gerade in dieser Krise den Glücksbegriff noch einmal philosophisch genauer ansehen. So spielt beim antiken Glücksbegriff die Moral eine wesentliche Rolle: Nur ein moralisches Leben ist auch ein gutes Leben. Auch werden wir uns in diesen ganz stillen Momenten, wenn wir allein im Zimmer sitzen, unserer Vergänglichkeit bewusst: „Wir sind vom Tod umgeben, der auf uns wartet.“ (Deutsche Welle 21. März).

Wilhelm Schmid sieht in der Krise eine Chance, sich auf eine noch größere Herausforderung vorzubereiten: „Je bereitwilliger wir uns darauf einlassen, desto mehr können wir das auch als Übung verstehen.“ Denn die Krise der gesamten Ökologie stelle noch sehr viel mehr an unserem Leben in Frage. Leben bedeutet eben nicht nur „Mehrung des Glücks, wie das in den vergangenen Jahren vielleicht zu stark ins Kraut geschossen ist, sondern auch Bewältigung von anderen Seiten des Lebens … Ein Sinn könnte sein, dass wir – jedenfalls für eine kleine Weile – nicht mehr so weitermachen können wie bisher. … Wir waren vielleicht etwas zu heftig unter-wegs in den vergangenen Jahren“ (Deutschlandfunk, 18. März, 3. April ).

Ähnlich urteilt der Bonner Philosophie-Professor Martin Booms. Er sieht in der Krise eine Chance für die Gesellschaft (Rhein-Sieg-Anzeiger 21. März). Die Krise mit Gelassenheit ertragen, dafür plädiert der in Freiburg lehrende Nietzsche-Forscher Andreas Urs Sommer. Es könne helfen, sich auf bestimmte Appelle der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu besinnen. Die Gelassenheit werde dort als Hinnehmen des Unvermeidlichen beschrieben.

Was nun?

Intellektuelle, Künstler, Politiker und Ökonomen fordern in einem in der Zeit und Le Monde (1. April) erschienenenAufruf zur Solidarität mit den besonders schwer betroffenen südeuropäischen Staaten und fordern einen (in Deutschland besonders kritisch gesehenen) Corona-Fond. Auch Philosophen haben den Aufruf unterzeichnet, so Rainer Forst, Jürgen Habermas, Axel Honneth und Julian Nida-Rümelin.

Martin Gessmann, Professor für Kultur- und Techniktheorien an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, fordert, zwei praktische Lehren aus der Krise zu ziehen, nämlich

● dass das ganze Hin und Her auf den Straßen durch ein Hin und Her im Öffentlichen Personennahverkehr zu ersetzen keine Lösung sein kann. Wir müssen Arbeiten und Wohnen viel näher zusammenbringen.

● beim Wiederaufbau gleich vieles besser zu machen: Städte und Verkehr menschenfreundlich, Produktion und Energiegewinnung umweltfreundlich (Prae/faktisch 5. April)

Norbert Paulo (Graz) sieht als Lösung für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die für viele entstehen, die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens (Prae/faktisch 16. März). Derselben Meinung ist auch Philipp Kovce: „In der gegenwärtigen Krise würde es viele Probleme lösen. Warum? Weil das Grundeinkommen exakt jene unbürokratische, ja unbedingte Existenzsicherung darstellt, die unzähligen Menschen dieser Tage fatalerweise fehlt.“ (Deutschlandfunk. 7. April)

Wenn das Schlimmste vorbei ist, werden wir die Systemfrage stellen müssen, glaubt Slavoj Žižek (ARD 22. März). Ganz anders sein Freund Alain Badiou. Für ihn bleibt alles beim Alten: „Nichts Neues unter der zeitgenössischen Sonne. Wir wissen, dass der globalisierte Markt unweigerlich schwere und zerstörerische Epidemien hervorbringt. Für mich gab es nichts anderes zu tun als zu versuchen, mich zu Hause einzuschließen. Und nichts anderes zu sagen als: Macht es genauso.“ (Frankfurter Allgemeine, 5. April) Veränderung bringen kann für ihn, da ist er mit Žižek einig, nur der Marxismus.

Konrad Paul Liessmann glaubt, dass der „Technikglaube“, der Glaube, mittels der Technik die Natur mehr und mehr zu beherrschen, durch die Krise „einen schweren Einbruch erlitten hat“. Umgekehrt sieht er im bisherigen Umgang mit der Krise einen Beleg für die Stärke der Demokratie. Wer Trost sucht, für den empfiehlt er „Trost der Philosophie“ von Boethius. (Kleine Zeitung, 17. März, Profil 31. März).

Nach Reinhard Mehring müssen wir achtgeben, was aus unserer liberalen politischen Kultur wird. Er sieht die Gefahr einer Expertokratie: „Die Politik treibt die Experten in eine Diktatur der Virologen, in der diese als Akteure ohne demokratische Kontrolle praktisch unbeschränkte Vollmachten zugestanden bekommen. Und das, obwohl es in der Sache nicht einmal einen wissenschaftlichen Konsens gibt. Die Virologen wissen selbst nicht genau, was es mit Corona auf sich hat und wie sich das Virus entwickelt.“ Er hält es für wichtig, dass „offen und – wenn nötig – kontrovers über alles gesprochen wird. Nicht nur über die Beschaffung von Beatmungsgeräten, sondern auch über den Geist der Demokratie und wie wir ihn schützen.“ (Frankfurter Rundschau 26. März).
 
Der in Berlin lebende koreanische Philosoph Byung-Chul Han diagnostiziert eine „Hysterie des Überlebens“ in Europa. Die Menschen seien in Panik, weil sie im Kapitalismus verlernt hätten, mit Negativität zu leben und die Digitalisierung sie in den letzten Jahren zudem von der Wirklichkeit abgeschottet habe. Er sieht nach der Krise einen Überwachungsstaat nach chinesischem Muster auf uns zukommen und schlägt eine Neudefinition des Souveränitätsbegriffs vor: „Souverän ist, wer über Daten verfügt.“
 
Ähnliche Gefahren sehen Andreas Wolkenstein und Johannes Kögel (beide München) in politischer Hinsicht, und zwar in der Hinwendung zur starken, autoritären Person und deren Aufruf zum „nicht so genau hinsehen“ (Söder) im Ausnahmezustand, etwa wenn es darum geht, was mit den Daten von Handynutzern geschieht. (Prae/faktisch 20. März).
 
Wo von Philosophie die Rede ist, darf auch Deutschlands beliebtester Philosoph, Richard David Precht, nicht fehlen. Was sagt er zur Corona-Krise? Wenn es um die notwendige ökologische Umwandlung unserer Wirtschaft zur Nachhaltigkeit gehe, seien die Leute nicht bereit, sich einzuschränken. Und nun sei plötzlich alles möglich, obwohl es sich beim Virus um etwas „vergleichsweise Harmloses handle, so gefährlich wie eine Grippe …das weckt den Sinn für das Nachdenken“ philosophierte er am 10. März in Düsseldorf an Focus Inner Circle. Später erklärte er in der Talkshow von Markus Lanz, er möchte nicht in die Normalität der Situation vor der Krise zurück. Es könne ja beispielsweise nicht angehen, dass ein Konzern wie Amazon auch in dieser Krise zu den Gewinnern zähle, während kleine Einzelhändler Verluste machen würden. Das müsse man in Zukunft verhindern.
 
Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel macht in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau (11. Mai)darauf aufmerksam, dass das Corona-Virus wohl nicht das letzte Virus sein wird, das die Menschheit in eine Krise stürzt und dass spätere Krisen durchaus noch gefährlicher werden können: „Wir werden mit kommenden Viruspandemien und vielleicht hohen Zahlen ihrer Opfer leben müssen, ohne sie mit Lockdowns blockieren zu können. Sie werden zu unserem Leben gehören wie die Grippeepidemien seit eh und je.“