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FORSCHUNG

Phänomenologie: Jürgen Hasse will das Sinnliche durch das Leibliche erweitern

PHÄNOMENOLOGIE

Jürgen Hasse will das Sinnliche durch die Leiblichkeit erweitern


Es gibt kaum lebensweltliche Nischen, in die nicht Spuren wissenschaftlich-abstrakten Denkens eingesickert sind. Indes richtet sich das Leben der Menschen in den bestehenden Verhältnissen ein. Denn das technisch-wissenschaftliche Expertenwissen imprägniert zwar das lebensweltliche Wissen, aber die wissenschaftlichen Diskurse repräsentieren kein Lebenswissen. Sie generieren und verwalten Wissensbestände, die Produkte von Expertenwissen sind, und sie beziehen sich auf einen Horizont, der über den Niederungen des gelebten Lebens schwebt. Zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs auf der einen Seite und der Sprache wie dem Denken der Menschen auf der anderen Seite klafft ein Graben – eine kommunikative Wunde. „Niemals zugleich … gab es so viele neue Erfahrungen wie heute. Aber wir machen sie nicht mehr selbst, sondern andere machen sie für uns“, beschrieb dies Odo Marquard.

Die vernetzten und abstrakten Verhältnisse werden den Individuen aber nicht als „Last“ der Orientierung aufgebürdet – im Gegenteil. Der technologische Fortschritt erweist sich in der Segnung luxurierender Lebenssteigerung gerade als Orientierungs-Entlastung. Die Dinge täuschen in ihrem Erscheinen und ihrem Zur-Hand-Sein eine Unschuld der Einfachheit vor, die von der Last der aufwändigen Analysen und Rekonstruktionen befreit. Insbesondere die globalisierungsbedingten Systemverflechtungen, die der Produktion und Distribution von Waren und Dienstleistungen heute anhängen, sind der Wahrnehmung entzogen. Die Tiefseegarnele im Kühlregal des örtlichen Supermarktes ist in ihrer profanen Konkretheit als genießbares Schalentier unbestreitbar. Dennoch steht sie in einem höchst abstrakten Geschehens-, Wirkungs- und Systemzusammenhang.

Demgegenüber setzt der 1949 geborene und an der Frankfurter Universität Geographie
lehrende Jürgen Hasse in seinem Buch

Hasse, Jürgen: Fundsachen der Sinne. Eine phänomenologische Revision des alltäglichen Lebens. 434 S., kt., € 44.—, 2005, Neue Phänomenologie Band 4, Karl Alber, Freiburg

auf eine (phänomenologische) Stärkung der Sinnlichkeit. Er diagnostiziert in unserer Lebenswelt einen Mangel an spürendem Gewahrwerden der Sinne am eigenen Leib. Denn die Sinnlichkeit spannt die Brücke zwischen der Welt der Sprache und der Welt der Empfindungen. Für Hasse gilt es das Vergessen dieser achtsamen Sensibilisierung, die nicht wie Sehen und Hören an zentraler Stelle in unsere Sprach- und Schriftkultur eingebungen sind, aufzuheben. Seine Rück-wendung auf die Sinne, das Sinnliche und die damit verbundenen Gefühle folgt dem philosophischen Programm der „ästhetischen Erfahrung“. Ausgangspunkt ist das alltägliche Erleben, in dem Denken und Gefühle zunächst auf scheinbar untrennbare Weise miteinander verbunden sind.

Innerhalb der Sinne ist das Sehen in unserer Kultur stark privilegiert. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Christentum, war doch die religiöse Erbauung gerade über Bilder nachdrücklich vermittelbar. Parallel dazu konstituierte sich das christliche Subjekt im virtuellen Bild Gottes und unter dem permanenten Blick Gottes, als in einer metaphernhaften Form „fernen Sehens“, das die Distanznahme lebensweltlichen Sehens ins Unendliche und Jenseitige dehnte. Die allgegenwärtige Kontrolle durch das Auge Gottes ist in den säkularen High-Tech-Gesellschaften an die optische Kontrolle der Videokameras übergegangen, die mit deutlich steigender Tendenz den öffentlichen Raum „sichern“. Allerdings kommt dabei keine Rückkehr zu den Sinnen zum Ausdruck, sondern ein Fortgang ihres Obsoletwerdens im Fortschrittssog des Technischen, damit zugleich aber auch Ausdruck einer „Barbarisierung der Sehkunst“.

Aufs Engste mit dem Sehen verbunden ist das Hören. Zwar kann man hören, was man nicht gesehen hat. Aber das Gehörte ergänzt auch, was man schon gesehen hat; es wird durch die Zugabe des Gehörten verständlicher. Der enge Konnex von Sehen und Hören resultiert aus der Kultivierung der Sinne für eine vornehmlich sprachlich konstituierte Welt. Im Hören ist der Affekt unmittelbarer angesprochen, weil die für das Sehen typische Distanz zum Gesehenwerden wegfällt. In der mittelalterlichen Welt des christlichen Glaubens waren es die Ohren, deren Wert den der anderen Sinne überstieg. Es galt Gottes Wort und nicht sein Bild. Die Imagination eines Gottesbildes wurde sogar geächtet: „Du sollst dir kein Bild machen!“ heißt es in der Bibel. Das im Hören anklingende Vernehmen Gottes führt in der christlichen Lehre zur Wahrheit.

Im Tasten sind die Grenzen des eigenen Körpers aufgehoben – mehr als bei allen anderen Sinnen. Wer etwas ertastet, mit der Hand, den Füßen oder der Stirn, der hat die Distanz zu einem anderen Körper aufgehoben. Was man taktil berühren kann, hat einen großen Realitätswert. Tasterfahrungen können auch nicht wie einmal vollzogene Denkakte, gesehene Figuren oder gehörte Worte erinnert werden. Dennoch prägen sich Tasterfahrungen ein. Sie können sich mit der visuellen Erscheinung eines Gegenstandes verbinden, sodass man Weichheit und Härte an der Gestalt einer Oberfläche in gewisser Weise auch sehen kann. Eine Reihe von Berührungen – wie das Küssen und noch eindeutigere erotische Berührungen – sind nur auf dem Hintergrund symbolischer Beziehungen verständlich.

Die heute übliche Hierarchisierung von Geruchs- und Geschmackssinn als „niedere Sinne“ hat sich erst im 17. Jahrhundert angebahnt. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert wurde das Riechen abqualifiziert. Die ideelle Stärkung der Vernunft weist den Geruch auf einen endgültig niederen Rang, denn er liefert dem Denken keine abstraktionsfähigen Objekte wie das Sehen und Hören und – und in gewisser Weise selbst noch das Tasten. Gert Mattenklott hat eine kulturelle Grenze zwischen den Sinnen diagnostiziert. Die Gürtellinie entspricht danach einem Äquator, in dessen südlicher Hemisphäre die niederen menschlichen Abläufe ihren Platz haben sollen: Esslust, Verdauung, Sexualtrieb. In der nördlichen Hemisphäre dagegen liegen die höheren und kulturell transformierten Vermögen der Menschen, allen voran der Verstand und sodann das Auge und die Sprache. Die Hoch- oder Geringschätzung sinnlicher Vermögen war und ist Ausdruck kultureller Dynamik. So kann man in der Gegenwart der sich schnell differenzierenden Gesellschaft Anzeichen erkennen, wonach die „niederen“ Sinne als Medien der Lust eine Aufwertung erfahren – als Folge eines sich punktuell luxurierenden Lebens.

Sinnliche Eindrücke sind stets in Situationen eingebunden und liegen in einem Gravitationsfeld des Sinns, der festhält, was man zu denken, zu sehen, zu erkennen und zu sagen hat. In Anlehnung an den Phänomenologen Hermann Schmitz nennt Hasse ganzheitliche Wahrnehmung „Einleibung“. Diese kann nur unter der Voraussetzung gelingen, dass „man im Sehen mehr wahrnimmt als man sieht, nämlich auch den eigenen Leib, den man dann nicht zu sehen pflegt, der aber durch Einleibung mit dem Gesehenen so verschmolzen ist, dass er damit ohne Reaktionszeit koagieren kann“ (Schmitz). In der Bewegung ist leibliche Kommunikation die grundsätzlich maßgebliche Wahrnehmungsweise. Im sinnlichen Erleben erfüllt die leibliche Kommunikation eine handlungsvermittelnde Rolle. Aus der Totalität des Erlebens schließt sie die Erträge der einzelnen Sinne in einem Ganzen zusammen. Für Hasse bedeutet Leiblichkeit eine Erweiterung des Sinnlichen.

Sinnliche Erfahrung macht sinnliches Erleben zu ihrem Gegenstand. Nach-denkend vollzieht sie die leiblich-gefühlsmäßigen und darin evaluativen Resonanzen des gelebten Lebens nach. Die Möglichkeit gelingender sinnlicher Erfahrung setzt voraus, dass

- der Raum alltäglicher Wahrnehmung entroutiniert wird, so dass Aufmerksamkeiten für ihre sinnliche Dimension und die subjektive Tatsache leiblicher Betroffenheit keimen können;
- dass es bei der Artikulation neuer Erfahrung nicht vornehmlich auf „terminologische“ Präzision ankommt, sondern entscheidend auf die Aussage ganzheitlichen Erlebens;
- die Sinne als „Weichen“ begriffen werden, die zugleich auf zwei Geleise führen: dasjenige eines ins Nach-Spüren des Erlebten und eines ins Nach-Denken des Gespürten;
- zum Fluss gelebten Lebens gehörende Gefühle des Betroffenseins als Bewertungen „verstanden“ werden, die aus der Perspektive konkreter Erlebnissituationen einen ganzheitlichen Bezug zum Leben widerspiegeln;
- die vom Sinnlichen ausgehende leibliche Betroffenheit auf einen Entstehungs- und Wirkungszusammenhang bezogen wird, in dem subjektive wie objektive „Interessen“ an Gefühlen virulent sind und
- die Sinne in ihrer leiblich-ganzheitlichen Verknüpftheit erfahren werden können.

Sinnliche Erfahrung, die sich in einem Rahmen entfalten kann, in dem sich diese Anforderungen zu einem überwiegenden Teil einlösen lassen, hat existentielle Bedeutung. Sie macht das eigene Dasein nicht an Essenzen eines im Leben Erreichten oder Nicht-Erreichten fest. Existenz wird in ihrem Geschehenscharakter zum Thema. Die Perspektive ist nicht auf Inhalte justiert, die von diesen Lebensgeschehen modelliert und hervorgebracht werden, sondern auf den vitalen Vollzug dieses Geschehens selbst.

Konkrete Orte sinnlicher Erfahrung sind etwa „Das Plötzliche“. Das Plötzliche ist eine Erlebniskategorie des Leiblichen und kann eine Quelle neuer Orientierung bilden. Oder das landschaftliche Erleben, das die Aufmerksamkeit schärft. Oder das Sich Situationen aussetzen. Dazu gehört etwa die bewusste Einlassung auf das eigene leibliche Befinden im Raum einer architektonischen Inszenierung.

Die Mannigfaltigkeit der Verstrickung des Sinnlichen mit dem Denken und dem praktischen Tun stellt sich als ein mehrschichtiges Wechselwirkungsverhältnis heraus, innerhalb dessen die Leiblichkeit eine vermittelnde Rolle spielt. Was man sinnlich erlebt, erlebt man zugleich gefühlsmäßig. Eindrücke, die neben ihrer inhaltlichen Form durch die von ihnen wachgerufenen Gefühle auch eine befindliche Form haben, fungieren als Evaluationen im menschlichen Handeln. Sie bewerten kognitive Muster, die wie Wissen, Theorien oder Konzepte auf das menschliche Tun einwirken. Die affektive Strukturierung ist aber auch kognitiv geprägt. Wissen „lagert“ nicht abgeschottet in imaginären Datenspeichern, sondern wird durch ein hoch komplexes Bewertungssystem der Gefühle in gewisser Weise „verwaltet“. In der Konsequenz hat die Anerkennung dieser komplexen Wirkungszusammenhänge einen Verzicht auf jede separatistische Konzeptionalisierung von Sinneseindrücken, leiblichen und körperlichen Prozessen, kognitivem Denken, affektivem Fühlen und praktischem Tun zur Folge.