PhilosophiePhilosophie

03 2020

Werner Stegmaier:
Orientierung in der Corona-Krise. Vom Wissens-Modus in den Orientierungs-Modus

aus: Heft 3/2020, S. 8-23
 
Beim Ausbruch einer bisher unbekannten Pandemie muss man sich neu orientieren, immer wieder. Kaum Erwartetes tritt ein, die Dinge ändern sich von Tag zu Tag, überraschende Situationen fordern neue Maßnahmen. Man schwebt in Ungewissheit, Angst kommt auf, zunächst um das Leben jeder und jedes Einzelnen, dann um die Ordnung der Gesellschaft, schließlich um den Bestand der Weltgesellschaft. Man kann nun nicht mehr das ,Schicksal‘ oder den ,göttlichen Willen‘ haftbar machen; woher das Virus auch gekommen sein mag, für die weitere Entwicklung sind alle mitverantwortlich, und darum müssen alle informiert sein. Um gemeinsam zu handeln, braucht man eine ebenso besonnene wie entschlossene Führung für kollektiv bindende Entscheidungen. Sie sollte sich auf überlegene Orientierung stützen. Kompetentes Wissen steht aber nur begrenzt zur Verfügung. Man muss unter Ungewissheit entscheiden. So hält man inne und besinnt sich darauf, wie und woran man sich orientieren kann. Die ansonsten routiniert ablaufenden Orientierungsprozesse kommen als solche zu Bewusstsein.
 
Die schnell verfassten Beiträge der „Star-Philosophen“ des Tages haben für die Orientierungsprobleme sensibilisiert, die Parameter der Orientierung aber nicht geklärt. Man setzte gleich mit Ethik ein. Hier gab es überaufgeregte, apokalyptische oder starr prinzipienorientierte Stellungnahmen, auf der anderen Seite allzu lockere, die Probleme herunterspielende, feuilletonistische Beiträge, dazwischen soziologische Analysen. (1) Es fehlte sichtlich noch an Erfahrung der Krise; man war noch kaum bei den Realitäten angekommen. Zunächst ging es offenbar mehr darum, der Philosophie und Soziologie in der Krise überhaupt Gehör zu schaffen. Vermutlich lagen auch moderate und instruktive philosophische Beiträge vor, an denen jedoch, weil weniger medienwirksam, die Zeitungen und Rundfunkanstalten weniger Interesse haben mochten.
 
Inzwischen haben wir schon ein Stück Erfahrung, und die großen politischen Entscheidungen sind gefallen. Die moral- und rechtsphilosophisch diskutierten Alternativen kamen nicht zum Zug: die völlige Bewegungsfreiheit aller weniger Gefährdeten zu erhalten, die nun so genannte Risikogruppe der Älteren und Vorerkrankten aber völlig zu isolieren und bei Triage-Entscheidungen im Fall der Knappheit medizinischer Ressourcen dem Schutz des Lebens schlechthin oder Menschen mit den größeren Lebenschancen den Vorrang zu geben, das eine im Namen der Menschenwürde, das andere im Blick auf das gesamtgesellschaftliche Wohl. Denn es zeigte sich bald, dass der Schutz des Lebens aller auch einen weitgehenden Fortgang der Wirtschaft erfordert, von dem nicht nur kurzfristig die Versorgung, sondern langfristig auch die finanziellen Ressourcen für alle weiteren Maßnahmen abhängen. Da eine Gesellschaft und mit ihr all ihre Bürger(innen) nur bei funktionierender Wirtschaft überleben können, lassen sich Moral, Recht und Ökonomie kaum gegeneinander abwägen. Die alten Kontroversen führten auch jetzt nicht zu brauchbaren Lösungen.
 
Stattdessen wurden nicht prinzipielle, sondern Entscheidungen auf Zeit getroffen: kurzfristig lock down, mittelfristig allmähliche Öffnung, langfristig „neue Normalität“, also schrittweise Umorientierung. Die hochgradig medienwirksamen Bilder von überforderten Kliniken, vom Abtransport von Särgen durch Kolonnen von Militärlastwagen und von der vorsorglichen Aushebung von Massengräbern drängten zum lock down, die sprunghaft steigenden Arbeitslosenzahlen, drohenden Insolvenzen von Schlüsselbetrieben vor allem im Verkehrssektor und die eine globalisierte Wirtschaft lähmenden Grenzschließungen forderten bald wieder Lockerungen; die Hoffnung auf eine spätere neue Normalität sollte die Schockstarre lösen, die Unternehmen und Banken, aber auch die einzelnen Bürger(innen) davon abhielten, ökonomische Zukunftsentscheidungen zu treffen. Das erste und nächstliegende Gebot war, die Ausbreitung von Sars-Cov-2 einzudämmen und die medizinischen Einrichtungen nicht zu überlasten.
 
Das keep calm and carry on ließ sich nicht durchhalten. Der Weg der schrittweisen Umorientierung wurde bald weltweit eingeschlagen; Regierungen, die zunächst anders entschieden, mussten um ihre Autorität und ihre Macht fürchten und folgten mit wenigen Ausnahmen nach. Der mächtigste Mann der Welt, der US-Präsident, der längst durch bizarre Falschaussagen und rücksichtslose Fokussierung auf seine eigene Wiederwahl aufgefallen war, wurde zum lehrreichen Beispiel dafür, wie nicht verfahren werden sollte. Dagegen wurde die deutsche Bundeskanzlerin zu einem weltweiten Vorbild für eine entschiedene und zugleich maßvolle Krisen-Politik. Im nationalen und internationalen Krisenmanagement lange erprobt, bewährte sich ihre „Politik auf Sicht“, d. h. eine Politik der vorläufigen Orientierung, auch in der Pandemie.
 
Von Hause aus Naturwissenschaftlerin, war die Kanzlerin bereit, auf die Wissenschaft, hier vor allem auf die Virologie zu hören. Aber die Virologie konnte keine klaren Leitlinien für die Politik liefern; das Wissen über Pandemie-Verläufe ist begrenzt; man kann sich nur an Anhaltspunkten orientieren, und sie lassen oft unterschiedliche Prognosen zu. So arbeitet auch die hier ausschlaggebende Wissenschaft im Orientierungs-Modus, und eine Politik im Orientierungs-Modus kann dem folgen. In der Krise ging man vom Wissens-Modus in den Orientierungs-Modus über.
 
Menschliche Orientierung stützt sich auf Wissen, geht ihm aber auch voraus. Sie ist auf dynamische Situationen eingestellt und bezieht weit mehr als wissenschaftliches Wissen ein – Verhaltensgewohnheiten (Routinen), Bewertungen moralischer und außermoralischer Art, rechtliche Gesichtspunkte, Entscheidungen unter Ungewissheit, Zeitdruck, Effektivität und Kreativität, Kommunikation in doppelter Kontingenz, die Autorität von Persönlichkeiten, all das, um immer neue Situationen zu bewältigen. In normalen Zeiten fallen die Strukturen und Prozesse der menschlichen Orientierung kaum auf, in schweren und unüberschaubaren Krisen kommt man bewusst auf sie zurück. Von wenigem war in der Corona-Krise häufiger die Rede als von „Orientierung“; mit dem Begriff „Orientierung“, der ein großes Bedeutungsspektrum und dennoch ein klares Profil hat, (2)ließ sich am besten verstehen, was geschah. Ich lege die Umstellung auf den Orientierung-Modus in der Corona-Krise in 7 Punkten dar, verdeutliche, ausgehend vom wissenschaftlichen Wissen, den Orientierungs-Modus in der Politik, der Moral, im Recht und in den Medien und skizziere abschließend allgemeinere Züge des Orientierungs-Modus, die in der Krise zur Geltung kamen, wie die experimentelle Nutzung der Vielfalt von Orientierungen und die Zuversicht schaffende Entwicklung neuer Routinen.
 
 
1. Orientierung als Krisen-Modus des wissenschaftlichen Wissens
 
Die Corona-Pandemie hat zunächst vor aller Augen gestellt, wie sich die Wissenschaft orientiert, hier die Virologie, auf deren Expertise sich die Politik weitgehend verlassen musste. Sie kann als exemplarisch für den heutigen Stand der Wissenschaft gelten: hochgradig differenziert, komplex, international vernetzt, sehr erfolgreich – und in der Krise doch begrenzt aussagekräftig. Noch nie in der Geschichte der Menschheit stand ein so vielversprechendes Mittel zur Verfügung, um Seuchen zu bekämpfen, hatte man so umfassende technische und ökonomische Mittel, um den Kampf global zu führen, und dennoch fehlten neben Medikationen und Impfstoffen klare Prognosen für die tödliche Wirkung und Verbreitung der Epidemie. Denn es handelt sich hier nicht mehr um leicht verfolgbare Kausalitäten, die zuverlässige Berechnungen ermöglichen, sondern um „vielfach in sich rückgekoppelte und in ständigem Wandel begriffene“ Verläufe. (3) Wissenschaft, die der Politik Gewissheit schaffen soll, muss selbst mit hochgradigen Ungewissheiten operieren, selbst wenn man es bei einer solchen Pandemie im Vergleich etwa zur kritischen Erderwärmung immer noch mit einem „eher simplen Fall komplexer Dynamik“, der „stochastischen Ausbreitung eines träg mutierenden Virus in relativ homogenen Populationen“ zu tun hat. (4) An der Virologie, die sich im Verlauf der Krise auch durch geschicktes Informationsmanagement breite Anerkennung und großes Vertrauen bei Politiker(inne)n und bei den Bevölkerungen erworben hat, ist schlagend deutlich geworden, dass
 
a) [WS1] sich der Sachstand einer Wissenschaft laufend ändern kann,
 
b) ihr Wissen darum immer nur vorläufig und entsprechend umstritten ist,
 
c) die Berücksichtigung ihrer Ergebnisse selbst den Sachstand verändert,
 
d) sie darum Rückkopplungen einbeziehen muss und
 
e) auf diese Weise keine klaren Prognosen stellen, sondern nur alternative Entwicklungen modellieren kann. Dabei hält sie sich
 
f) an prägnant darstellbare Anhaltspunkte wie standardisierte Verlaufskurven und kritische Schwellenwerte wie die Reproduktionszahl des pandemischen Virus in bestimmten Zeitspannen oder die Rate der Übersterblichkeit gegenüber bekannten und weiterhin grassierenden Infektionskrankheiten und prüft sie auf ihre Konsistenz. Sie sind Orientierungswerte, und die Wissenschaft operiert in solchen Fällen im Orientierungs-Modus.
 
Orientierung ist die Leistung, [WS2] sich in undurchsichtigen und dynamischen Situationen zu-recht zu finden, um in ihnen Handlungsmöglichkeiten auszumachen, durch die sie sich bewältigen lassen, und unter Ungewissheit unter den Alternativen zu entscheiden[WS3]  (5).
 
Die [WS4] alltägliche Orientierung reagiert auf ständig wechselnde Situationen (a), kann sie nie vollständig übersehen (b), bezieht rekursiv laufend Orientierungserfahrungen in neue Orientierungsentscheidungen ein (c), durch die sie die Situation selbst verändert – hat man sich über eine Situation hinreichend orientiert, hat sie sich dadurch schon gewandelt – (d), und präferiert, ohne die weitere Entwicklung absehen zu können (e), Handlungsmöglichkeiten nach dem Kriterium, wie weit sich vorläufig haltbare Anhaltspunkte zu Erfolg versprechenden Mustern zusammenfügen (f). Tauchen [WS5] im Handlungsvollzug weitere relevante Anhaltspunkte auf, werden die Muster bekräftigt oder verändert oder verworfen (Hitchcock-Filme führen das modellhaft vor).
 
 Die[WS6]  alltägliche Orientierung ist bis zu einem gewissen Grad stets im Krisen-Modus, ist immer von Desorientierung bedroht, die zu Angst und Verzweiflung führen kann, und sie steht meist unter Zeit- und Entscheidungsdruck. So ist auch beim virologischen Wissen neben dem Validitätsfaktor der Zeitfaktor ausschlaggebend. Hier wie dort kann sich bei näherer Nachforschung die Ungewissheit nicht vermindern, sondern vergrößern. Das gilt auch für die Politik. Wissenschaft und Politik können sich bei ihrem Krisenmanagement an die alltägliche Orientierungserfahrung halten, sich an ihr orientieren.
 
Angesichts der begrenzten Berechenbarkeit des epidemischen Verlaufs greift die Virologie zur Szenarienmethode. Auch sie professionalisiert die alltägliche Orientierung: In schwierigen Entscheidungssituationen modelliert man best und worst cases und entscheidet in deren Spielraum für das angemessene Vorgehen; im Fall der Epidemie ent[WS7] scheiden die politischen Entscheidungsträger(innen). Durch den Entwurf von Szenarien werden die Entscheidungsfolgen konkret vorstellbar, auch wenn sie nur erdacht sind; sie lösen gegebenenfalls Ängste und durch sie Handlungsimpulse aus.
 
In solche Szenarien gehen in der alltäglichen Orientierung immer auch Bewertungen (Präferenzen) ein. In der Wissenschaft werden sie nach der sogenannten Delphi-Methode (die nach dem Orakel benannt ist) durch mehrstufige und wiederum rückgekoppelte Befragungen repräsentativer Wissenschaftler(innen) ermittelt. Denn auch hier können die Ausgangsannahmen strittig sein, weil sie von unterschiedlichen Beobachtungsstandpunkten aus erfolgen und die Ergebnisse von den jeweils bevorzugten methodischen Instrumentarien der ausgewählten Expert(inn)en abhängig sind. Relevante Faktoren können unterschiedlich berücksichtigt und gewichtet werden, unterschiedliche Test-, Zähl- und Darstellungsverfahren schon in der Bestandsaufnahme des Infektionsgeschehens zum Zug kommen. Im Abgleich subjektiver Orientierungen bleibt auch die Objektivität der Wissenschaft prekär, flächendeckende Konsense sind kaum zu erwarten, in der Regel nicht zu erreichen, aber auch nicht nötig: Mit Hilfe der methodischen Abgleichung der jeweiligen Berechnungen und Prognosen lassen sich gleichwohl sogenannte roadmaps erstellen, Karten zur Orientierung für das weitere wissenschaftliche Vorgehen, die Spielräume für besondere Wege im Einzelnen lassen. Man geht explizit im Orientierungs-Modus vor.
 
Solange die Wissenschaft, hier die Virologie, von der Politik für umfassende Handlungsentscheidungen herangezogen wird, hält sie mit ihrem natürlichen und sachlich auch gebotenen Streit auf Zeit zurück. Die möglichen politischen Konsequenzen und die Plausibilitäten, denen sie folgen, werden, soweit möglich, schon in den Entwurf der wissenschaftlichen Szenarien einbezogen, auch wenn die Handlungsentscheidungen dann der Politik überlassen werden. Die Wissenschaft soll brauchbar sein, ihre Autorität darum nicht in Frage, sondern eine möglichst hohe Gewissheit in Aussicht gestellt werden. (6) Wie schwer das fällt, zeigte sich am Wiederaufleben des wissenschaftlichen Streits bei den ersten Anzeichen der Erfolge unterschiedlicher Strategien in der Erforschung und Bekämpfung der Pandemie. Man kehrt bei nächster Gelegenheit in den Rechtfertigungs-Modus des besseren Wissens zurück. Dadurch erneuert und verschärft sich jedoch die Ungewissheit im Publikum, das Orientierungsbedürfnis verstärkt sich.
 
2. Orientierung als Not-Modus der Politik
 
Angesichts der Ungewissheit der wissenschaftlichen Prognosen müssen sich alle umsichtig orientieren und vorsichtig verhalten: Weil im Fall einer Ansteckung durch Sars-CoV-2 Symptome lange oder gar nicht sichtbar sind, kann jede und jeder durch ihr Verhalten die Erkrankung oder den Tod einer unabsehbaren Zahl anderer herbeiführen. Das kann man nicht einfach dem guten Willen der Einzelnen überlassen. Die Regierungen müssen darum auf unterschiedlichen Ebenen kollektiv bindende Entscheidungen für die jeweilige Gesellschaft im Ganzen treffen und durchsetzen. Bei einer Epidemie haben sie dafür erweiterte Entscheidungsbefugnisse. Solche Nöte und Krisen sind die „Stunde der Exekutive“, der resoluten Entscheidung. Wie Historiker zeigen, hat die Politik einen großen Teil ihrer Exekutivmacht im Zug der Seuchenbekämpfung gewonnen. „Der Staat“, sagte ein deutscher Ministerpräsident, „kann in einer solchen Situation nur paternalistisch sein, und die Menschen erwarten das von uns“.[WS8]  (7) Auch Regierungskritiker akzeptieren das; alle politischen „Spielchen“ werden auf Zeit eingestellt, die Opposition hält sich mit Gegenvorschlägen zurück. Die roadmap der Regierung wird stillschweigend geduldet, um nun die Autorität der Politik gegenüber der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. In Orientierungs-Not soll keine zusätzliche Verwirrung aufkommen. Es wird zum Kriterium für die Glaubwürdigkeit von Politiker(innen), wie weit sie den Not-Modus der Politik erkennen.
 
Auch das entspricht der alltäglichen Orientierungspraxis z. B. in Familien und Firmen: In der Not enden die Diskussionen, die Orientierung geht in den Handlungs-Modus. Dabei ist man nicht auf Konsens, sondern auf Kooperation angewiesen, die auch ohne Konsens möglich ist: Man muss nicht in seinen Meinungen übereinstimmen, um sich in seinem Handeln aufeinander abzustimmen; Kompromisse kämen anders nicht zustande. Kooperation aber kann leichter und längerfristig durch Transparenz und Vertrauensbildung als durch Befehl und Zwang erreicht werden. In funktionierenden Demokratien brauchen Regierungen die Anerkennung der Bevölkerung für ihr Krisenmanagement, auch wenn sie Erfolge nicht versprechen können. Sie können diese Anerkennung vorläufig nur für ihre Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit erwerben.
 
Für die wissenschaftlich nur bedingt prognostizierbaren Verläufe der Pandemie standen die politisch zunächst gleich belastenden Alternativen einer hohen Anzahl von Kranken und Toten und, sollte diese durch einen entschiedenen lock down des gesellschaftlichen Lebens gedrückt werden, eines schweren Einbruchs der Wirtschaftstätigkeit zur Verfügung. Da die Wirtschaft aber letztlich die Ressourcen auch für die medizinische Versorgung der Bevölkerung erwirtschaften, also weiterarbeiten können muss, eine durch Krankheit eingeschränkte Bevölkerung aber weniger Erwerbsarbeit leisten kann, mussten beide Alternativen miteinander verbunden werden. Am Ende des Tages konnte alles harmlos verlaufen, aber auch Horror-Szenarien wie „2020 = 1919 + 1929“ Realität werden: zu einer schweren Pandemie, damals der „Spanischen Grippe“, kommt eine schwere Wirtschaftskrise, die, wie besonders in Deutschland geschehen, einen brutal autoritären Führer an die Macht bringt. Setzt[WS9]  man umfangreiche Finanzmittel ein, um sowohl die medizinische Forschung massiv auszubauen als auch den wirtschaftlichen Einbruch kurzfristig zu dämpfen, kann man damit mittelfristig eine Inflation auslösen und langfristig kommende Generationen schwer belasten, beides mit der Aussicht auf starke Verschiebungen des politischen Spektrums und mögliche Unruhen. Man kann die Bevölkerung in falscher Sicherheit wiegen, aber leicht auch Panik erzeugen und mit beidem ebenfalls politische Katastrophen herbeiführen. Wie komplex hier die politische Orientierung wurde und wie schwer darum die Dinge zu beurteilen und zu entscheiden waren, zeigte, dass von unterschiedlichen Ländern zunächst unterschiedliche Strategien eingeschlagen wurden.
 
Am aussichtsreichsten war auch hier der Orientierungs-Modus selbst: „transparent“ die Lage erkunden, Handlungsalternativen ermitteln, sich nicht zu früh auf eine von ihnen festlegen, sie so weit wie möglich verbinden, sich mit Aussicht auf vorläufigen Erfolg nur vorläufig entscheiden, ohne andere Handlungsmöglichkeiten zu verbauen – die „Politik auf Sicht“. (8) Auch die Politik professionalisiert damit die Praxis der alltäglichen Orientierung. Wo jede und jeder Einzelne in ihrer und seiner Situation unter Ungewissheit erfolgversprechende Handlungsmöglichkeiten zu finden hat, leistet Politik das für die Gesellschaft: sie ist ein planvoller Umgang mit ungewissen Handlungsmöglichkeiten einer Gesellschaft.
 
Ein weltweit beachtetes Modell für eine Politik der vorläufigen Orientierung lieferte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ihre Politik auf Sicht ist geprägt von der Offenheit für wissenschaftliche Vorgaben, von der Fähigkeit, ihre Relevanz zu beurteilen, der Bereitschaft, Ungewissheiten einzugestehen[WS10]  und, wo nötig, sich selbst zu korrigieren, der Besonnenheit in der Einschätzung des Gefahren- und Panikpotentials der jeweiligen Situation, der konsequenten Einbeziehung anderer Politiker(innen) in die Entscheidungsfindung und dem Aufzeigen von Kooperationsmöglichkeiten, auch wo kein Konsens besteht, dem Finden von zumindest vorerst haltbaren Kompromissen, dem Berücksichtigen von oft unberechenbaren Nebenfolgen der Entscheidungen, der Entscheidung im richtigen Augenblick und der Entschiedenheit, eine einmal getroffene Entscheidung auch unter wechselnden Umständen durchzuhalten, wenn nicht unvorhergesehene gravierende Umstände zwingen, neu zu entscheiden, der fraglosen Einhaltung moralischer Standards, der Zurückhaltung mit vorschnellen Äußerungen und dem Verzicht auf erkennbares Schönreden und abgehobenes Pathos. So wenig spektakulär diese politische Methodik wirkt, schafft sie doch, zusammen mit der Zurückstellung der eigenen Person, nüchterner Sachlichkeit, Gelassenheit, Ruhe, Geduld und Ausdauer, Vertrauen unter Politiker(inne)n und in der Bevölkerung.
 
Eine Politik dieser Art und eine Politikerin diesen Ranges kann natürlich nicht unumstritten bleiben, und ihre konkreten Entscheidungen sind nie wirklich alternativlos. Dennoch erzeugt, beabsichtigt oder nicht, dieser Politikstil den Eindruck hoher Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit, die in der Not einer Krise besonders gefordert sind. Die deutsche Sprache bringt die Orientierungstugenden einer solchen Politik auf Sicht gerne auf Komposita von „Sicht“ wie Übersicht, Einsicht, Umsicht, Weitsicht, Rücksicht, Klarsicht, Nachsicht (für Angriffe konkurrierender Politiker) und Zuversicht, und auch die Kanzlerin selbst gebraucht diese Begriffe gern. Und so werden in der Alltagssprache auch „Vernunft“ oder „Vernünftigkeit“ verstanden: als Ensemble eben dieser Orientierungstugenden.
 
Sie lassen nicht unbedingt Führungsstärke erwarten. Denn auch „ewiges Zögern“ und „Aussitzen der Probleme“ werden so möglich. Aber beides schließt sich nicht aus. Sind die Orientierungstugenden wie in diesem Fall mit „Authentizität“, dem erkennbaren Verzicht auf Schauspielerei, und persönlicher „Souveränität“, dem erprobten Geschick in der Meisterung auch schwieriger Situationen, verbunden, bekommt die Macht, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Erziehung, den Medien usw., ein anderes Gesicht. Sie kommt dann aus Orientierungsüberlegenheit und sie kommt immer dann zum Zug, wenn schwierige, andere rat- und hilflos machende Situationen eintreten. So sehr Macht moralischen Verdacht auf sich zieht, in dieser Weise ist sie auch in gut funktionierenden Demokratien willkommen – solange die Orientierungsüberlegenheit nicht vom Machthaber für seine     eigenen Interessen missbraucht wird. Umgekehrt wird in Krisen Orientierungsversagen grell sichtbar: bestallte Machthaber riskieren Ansehen und Amt, wenn sie nicht über eine überlegene Orientierung verfügen, wie die Not bewältigt werden kann, oder doch einschätzen können, an wem sie sich ihrerseits in der Krisenbewältigung am besten orientieren. (9) In Orientierungssituationen steht der Macht-Modus stets auf dem Prüfstand.
 
3. Orientierung als Bereitschafts-Modus der Moral
 
In einer Krise, in der es um die Gesundheit jeder und jedes Einzelnen geht, kommt stärker denn je auch die Moral ins Spiel, jedoch nicht nach Prinzipien: In schweren Nöten anderer regt sich in der inter-individuellen Orientierung unmittelbar der Impuls, unverzüglich zu helfen. Dabei schließen sich auf Zeit die gewohnten Orientierungsspielräume: In der Bereitschaft zu helfen stellt man eigene Bedürfnisse und Interessen zurück, fühlt sich unmittelbar zum rückhaltlosen und manchmal hoch riskanten Einsatz verpflichtet (man springt spontan ins eiskalte Wasser, um ein ertrinkendes Kind zu retten und kann dabei seine eigenen Kinder zu Waisen machen; man macht die Behörden auf schwere hygienische Mängel seiner Firma aufmerksam und kann dabei seine Stelle verlieren). Man muss diese spontane Bereitschaft zur Hilfe, wie sie auch in der Samariter-Episode des Lukas-Evangeliums vorgeführt wird, nicht mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe verknüpfen. Die Sorge um Menschen in schwerer Not muss nicht schon Liebe, noch nicht einmal Empathie sein; Samariter wurden damals von den Hebräern diskriminiert. Man bringt die Hilfsbereitschaft, worin immer sie begründet sein mag, jetzt unter den Begriff der Solidarität. In der Corona-Krise gilt sie nicht nur den Gefährdeten, Alten und Kranken, sondern auch der Wirtschaft, die nun, ansonsten wegen ihres Profitstrebens ebenfalls moralisch eher [WS11] verdächtig, in Not und auf Rettungsmaßnahmen angewiesen ist.
 
Die Politik kann für ihre Unterstützungsprogramme ebenfalls mit Zustimmung der Bevölkerung rechnen, auch wenn sie hier sicherlich nicht nur moralischen und schon gar nicht religiösen, sondern auch politischen Motiven folgt: Ein Einbruch der Wirtschaft würde die Ordnung der Gesellschaft im Ganzen gefährden. In einer Not wie der Corona-Pandemie rücken moralische Impulse und politische Interessen nah zusammen: Die politische Hilfe, die hier eine ökonomische ist, kommt Unternehmer(inne)n und Arbeitnehmer(inne)n gleichermaßen zugute.
 
Die Solidarität der Menschen füreinander stand jedoch im Vordergrund: die Solidarität der weniger gesundheitlich Gefährdeten, die im Fall von Sars-CoV-2 die überwiegende Mehrheit darstellt, mit den Älteren und Vorerkrankten. Die Minderheit der Risikogruppe wurde in den meisten Ländern nicht um der Bewegungsfreiheit der Mehrheit willen „weggesperrt“, sondern alle schränkten ihre Bewegungsfreiheit so weit ein, dass die Gefährdung der Risikogruppe deutlich sank – das „Abstandsgebot“ oder „Kontaktverbot“. Da die Erkrankungsrisiken auch stark nach Generationen verteilt sind, war das auch eine Solidarität der Jüngeren mit den Älteren. Moralische und juristische Debatten, ob nun die Freiheit aller oder das Leben jeder und jedes Einzelnen, wie alt und schwach sie auch sein mögen, der höhere Wert sei, sind dagegen ins Leere gelaufen, weil sie nicht prinzipiell entscheidbar sind und die konkreten Notsituationen nur bedingt berühren. Denn viele der Älteren wären etwa in Triage-Situationen ihrerseits bereit, Jüngeren unmittelbar zu helfen, indem sie von sich aus auf ihre möglichen moralischen und juristischen Rechte verzichten und denen, die den größten Teil des Lebens noch vor sich und darin wiederum für andere, etwa für Kinder, zu sorgen haben, die Beatmungsgeräte überlassen. (10) Auch hier überwiegt der Bereitschafts-Modus der alltäglichen moralischen Orientierung prinzipientheoretische Begründungen.
 
Aber auch die Solidarität im generellen Einhalten des Abstandsgebots ist nur bedingt moralisch motiviert: Man schützt dadurch nicht nur andere, sondern auch sich selbst vor Ansteckung. Als die Unterstützung anderer Länder gefragt war, in denen die Pandemie eine größere Not auslöste, flammte der Impuls zu helfen zwar sogleich auf, stieß aber bald an Grenzen. Auch hier wird zeitlich unterschieden: Der Bereitschafts-Modus der Moral herrscht nur auf Zeit vor; er ist auf Dauer nur möglich, wenn er zeitlich begrenzt wird. Die immer allen helfen wollen, machen sich des „Helfersyndroms“, des „pathologischen Altruismus“ verdächtig, (11)wenn sie nicht zu Aktivist(inn)en, Fanatiker(inne)n oder Heiligen werden. Auch in „normalen“ Zeiten hält der Bereitschafts-Modus der Moral nur für eine gewisse Zeit an; (12) er ist auch in der alltäglichen Orientierung ein Not-Modus. Bei einem Notfall in der unmittelbaren Umgebung kann der moralische Impuls die Orientierung mit einem Mal ganz beherrschen, wenn auch nicht bei allen in gleichem Maß, erlahmt aber mit der Zeit: Die eigenen Inter-essen und Bedürfnisse melden sich zurück, die vielfältigen Spielräume der menschlichen Orientierung öffnen sich wieder. Und für die Rückkehr in die Normalität wird keine moralische Rechtfertigung erwartet. Mit dem Argument aber, man müsse sich erst selbst helfen, bevor man anderen hilft, macht man es sich zu leicht: im Bereitschafts-Modus der alltäglichen moralischen Orientierung gilt es gerade nicht.
Auch die Religionen sind in der Pandemie großenteils selbstkritisch geworden, wagen kaum mehr wie in früheren Zeiten, sie als Strafe Gottes für die sündige Menschheit einzustufen. Man beschränkt sich auf Ermutigungen zur Zuversicht: „Die entscheidenden Hilfsmittel unserer Zivilisation sind ein funktionierendes Staatswesen, medizinisches Können und wissenschaftliche Rationalität“, schreibt jetzt ein Kirchenhistoriker. (13) Im Ernst der Not sieht man auf das Nächstliegende und unmittelbar Weiterführende; Rechtfertigungen und Abrechnungen werden auf später verschoben. Und das wird kaum angefochten: In Notzeiten verzichten auch Kunst und Satire auf Provokationen. Der Ernst der Situation lässt [WS12] sie moralisch nicht zu.
 
4. Orientierung als pragmatischer Modus im Umgang mit dem Recht
 
Wiewohl beim Ansteigen der Epidemie von der Regierung stark in das alltägliche Leben eingegriffen wurde und dabei Rechte gegen Rechte, Freiheiten gegen Freiheiten standen, blieben Klagen vor Gericht zunächst aus – um dann bald vehement wieder einzusetzen; in vielen Städten folgten öffentliche Demonstrationen. Rechtlich handelte es sich in Deutschland nicht um einen Ausnahmezustand, der hier nur im Fall von Naturkatastrophen, Aufständen und Kriegen ausgerufen werden darf; die Pandemie wurde nicht zur Naturkatastrophe deklariert. Dennoch ging man jetzt mit Gesetzen anders um. Das deutsche Grundgesetz hat sich in der Krise als „außerordentlich flexibel erwiesen“, schreibt eine ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht. (14) Man hatte auf der Verwaltungsebene Gesetze für bisher unbekannte Maßnahmen auszulegen, Ermessensspielräume entsprechend zu nutzen, aufgrund von gesetzlichen Ermächtigungen rasch und zuweilen auch undurchdacht und unkoordiniert Verordnungen zu erlassen und war darum gehalten, ihre Befolgung durch die Bevölkerung wiederum flexibel, das heißt situationsgerecht und „auf Sicht“ zu kontrollieren. Die Bevölkerung ging in ihrer überwiegenden Mehrheit auf die Erlasse und Verordnungen ein, erwies sich, auch in anderen Ländern, auf dem (ersten) Höhepunkt der Krise als erstaunlich fügsam, selbst wenn die Regelungen nicht immer nachvollziehbar waren. Bisher ganz ungewohnte Regeln für das Verhalten aller wurden als sachlich notwendig wahrgenommen; Prominente, die sich Ausnahmen erlaubten, wurden streng gerügt, weil sie mit ihrem Verhalten den Sinn der Regeln als solcher in Frage stellten.
 
Regelbedarfe ergeben sich aus Nöten, die eine Gesellschaft nur gemeinsam bewältigen kann. Dadurch steigt die Autorität des Rechts, die nun keiner weiteren Begründung bedarf. Die ins Wanken geratene Orientierung bekommt am situativ herangezogenen Recht einen neu-en Anhalt. Regeln schaffen auch und gerade in der Ausnahmesituation für jede und jeden klare und gleiche Handlungsspielräume – und werden, wenn die Ausnahmesituation mit Hilfe der Regeln bewältigt wurde oder einfach vorüber ist, auch wieder aufgehoben. Man sieht die Spielräume sich verengen und erweitern, man wird sich seiner Handlungsspielräume stärker denn je bewusst, aber auch der Kontingenz ihrer Festlegungen, die nun von klar identifizierbaren Personen und Behörden ausgeht, die unter unterschiedlichen Bedingungen unterschiedlich entscheiden können.
 
Je dichter die Regeln werden und je mehr dadurch Grenzfälle entstehen, wie sie wann genau zu befolgen sind (wenn zwei Haushalte trotz Kontaktverbots zusammenkommen dürfen, wer genau gehört zu einem Haushalt, auch der Freund der Tochter?), desto mehr wird man in seiner spezifischen Situation selbst überlegen, beurteilen, sich orientieren, wie streng man die Regeln befolgen, wie ernst man sie nehmen soll, welchen Sinn sie in der gegebenen Situation haben. Die Befolgung von Regeln und auch die polizeiliche Kontrolle dieser Befolgung ist dann wieder eine Frage vielfacher Spielräume. Abweichungen von Regeln fallen oft gar nicht auf, sie können, wenn sie auffallen, nicht geahndet werden, und sie werden, wenn sie geahndet werden, richterlich häufig unterschiedlich beurteilt. So aber funktioniert das Recht auch in normalen Zeiten. Es lässt weite Spielräume zur pragmatischen Orientierung. Dabei hat man es stets mit Wittgensteins Regel-Paradox zu tun. (15) Danach folgt man einer Regel vollkommen nur dann, wenn man ihr „blind“ folgt, also ohne ihrer bewusst zu sein, was in einer Demokratie nicht zu wünschen ist. Folgt man ihr aber bewusst, bleibt man zu ihr in Distanz und behält sich dann vor, ihr auch nicht oder nur in einem Spielraum zu folgen. In diesem Sinn orientiert man sich „an“ ihr, folgt ihr unter Vorbehalt, behält sich eigene Entscheidungen vor – man lässt sie gelten und suspendiert sie zugleich. Und auch Spielräume selbst sind etwas Paradoxes: Sie geben wie ein umzäunter Spielplatz geregelte Grenzen für ungeregeltes Verhalten vor.
 
Die – auch und gerade in Notzeiten sinnvolle – Orientierung an allgemeingültigen Regeln [WS13] in individuellen Spielräumen lässt sich nicht wieder auf allgemeingültige Regeln bringen. Sie gleicht dem Umgang mit der Sprache, die für ihren Gebrauch in unterschiedlichen Situationen ebenfalls Spielräume für die Bedeutung ihrer Zeichen lassen muss. Sie ist, so Wittgenstein, eine „Praxis“, eine Orientierungspraxis, die jeder Theorie vorausliegt.
 
5. Orientierung als seriöser Informations-Modus der Medien
 
In Not, Angst und Desorientierung kann man, auch wenn es kein vollständig gesichertes Wissen gibt, Orientierung „geben“ – zunächst in Gestalt von hier und jetzt gültigen Informationen, die bald schon wieder überholt sein können: den Nachrichten der Massenmedien. Nachrichten des Tages, aber auch Ratschläge für das Verhalten, sind nie so begehrt wie in Krisen-Zeiten, zumal in der Corona-Krise, die jede und jeden unmittelbar betrifft. Auf der anderen Seite brauchen die Entscheidungsträger(innen) die Massenmedien, um die von ihnen ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie der Bevölkerung mitzuteilen und sie zur Kooperation zu gewinnen; entsprechend häufig treten sie in den Medien auf. Die Medien ihrerseits, die nun erhöhte Verantwortung tragen, stellen demonstrativ auf einen möglichst seriösen Informations-Modus um, auch und gerade dann, wenn sie es mit einer leichtfertigen [WS14] Politik zu tun haben. Man setzt wohl weiter auf Bilder, personalisiert (lässt neben Entscheidungsträger(inne)n zugleich sachkundige und medientaugliche Wissenschaftler(innen) auftreten) und emotionalisiert (preist „systemrelevantes“ Personal als „Held(inn)en“ an). Die Krise braucht jedoch nicht als attraktive Sensation aufgebauscht werden, sie ist eine. Unterhaltung und Fiktion können nun zurücktreten oder auf die Vertreibung der Langeweile während der Ausgangssperren ausgerichtet werden.
 
Die Seriosität der Medien wird daran bemessen, wie haltbar ihre Informationen sind. Die Tages-Nachrichten über den Verlauf der Pandemie in den unterschiedlichen Regionen, über die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung, die Gründe, die für sie geltend gemacht werden, und die Strenge, mit denen sie befolgt werden, können nie vollständig und auch nicht vollständig überprüfbar, nicht „objektiv“ sein. Wie alle Orientierung hängen sie von Beobachtungsstandpunkten ab, unterliegen der Selektion und der Bewertung ihrer Relevanz. Die Entscheidungsträger(innen) können sie nur begrenzt korrigieren, das Publikum kann sie nur überprüfen, indem sie die Nachrichten verschiedener Medien vergleicht. Am ehesten können Medien einander kontrollieren, sofern ihnen die nötigen Apparate zu professioneller Recherche zu Gebote stehen. So hat man an den Nachrichten, die mitgeteilt werden, „nur“ Anhaltspunkte und „nur“ Orientierung. Das reicht aber weitgehend aus – sofern und soweit die Medien glaubwürdig [WS15] arbeiten. Das kann man jedoch [WS16] wiederum nur nach seiner eigenen Orientierungs- und Urteilsfähigkeit einschätzen, für die es keine allgemeine Regel gibt.
 
Nicht [WS17] nur die Regierungen, auch die Medien werden in der Krise paternalistisch. Sie unterstützen die Bemühungen der Regierungen, auch die unangenehmsten und unheilvollsten Informationen so in die Bevölkerung zu tragen, dass sie keine Panik verursachen, solange die Not andauert, die sie dadurch unbeherrschbar machen würden. Das wiederum darf nicht ausgesprochen werden, weil dies erst recht Panik verbreiten und Verschwörungsphantasien ventilieren würde. Das Publikum kann darum nur begrenzt ermessen, wie groß die Gefahren wirklich sind, was ebenfalls Verschwörungsphantasien begünstigt.
 
Noch schwerer wird die eigene Orientierung, wenn die Medien von den Regierungen „gelenkt“ sind. Der Paternalismus steigt, die Seriosität sinkt dann. Auch das kann von Bevölkerungen mehrheitlich geschätzt werden, zumal wenn sie die autoritären Regierungen selbst demokratisch (oder scheindemokratisch) gewählt haben. Glaubhafte und vorgetäuschte Informationen, true und fake news, sind dann kaum noch zu unterscheiden. Hier setzt jedoch ein anderer Orientierungsmechanismus ein. Bei Informationen, die von Massenmedien, freien oder unfreien, verbreitet werden, weiß man nicht nur, was (mehr oder weniger) alle wissen, sondern auch dass (mehr oder weniger) alle es wissen, beobachtet, wie andere sich auf die Informationen hin verhalten, und berücksichtigt das in der eigenen Orientierung. Es kann dann beruhigen, mit der Orientierung der andern mitzugehen und sich, zumal in Not-Zeiten, nicht auf eigene Verantwortung orientieren zu müssen. Man folgt dann, despektierlich gesagt, dem Herdeninstinkt und wünscht sich umso mehr einen guten Hirten, der (oder die) führt[WS18] . Dann hängt, siehe oben, alles davon ab, wie diese Führer [WS19] ihre Macht gebrauchen. Je weniger sie mit ihren eigenen Nöten zurechtkommen, desto mehr sind große Teile der Bevölkerung bereit, auch über Machtmissbrauch im eigenen Interesse der Regierenden hinwegzusehen. Es gab kaum ein größeres Volk in der Geschichte, das nicht zu bestimmten Zeiten in den Modus der Herdenorientierung gegangen wäre, und mochte es noch so aufgeklärt sein.
 
In beide Richtungen, der Herdenorientierung und der eigenständigen Orientierung, wirkt die inter-individuelle Orientierung, die jetzt durch die social media weit ausgedehnt, intensiviert und beschleunigt wird. Über sie können wohl die notorischen Verschwörungsphantasien verbreitet werden. Sie machen aber auch die Rückprüfung „offizieller“ Informationen an individuellen Erfahrungen möglich. Solange eine Krise wie die Corona-Pandemie, aber auch politische Krisen sich unvorhersehbar entwickeln, werden sie zum Hauptthema der Kommunikation, die Informationen, wie auch immer dramatisiert oder verwässert, werden durch persönliche Erfahrungen ergänzt und dabei auch korrigiert. In dieser Gestalt bleiben sie bei den Einzelnen hängen. „Rein“ liegen sie nirgends vor. Umso mehr ist auch hier, in demokratischen wie in autoritären Regimen, die eigene Orientierungs- und Urteilsfähigkeit gefragt: Wie die Glaubwürdigkeit der Wissenschaftler(innen), die mehr oder weniger sorgfältig Tatbestände durch Hypothesen und Theorien klären, die Glaubwürdigkeit der Politiker(innen), die mehr oder weniger vernünftig und verantwortungsvoll kollektiv bindende Entscheidungen treffen, und die Glaubwürdigkeit der Medien, die mehr oder weniger seriös die Informationen, die sie weitergeben, recherchieren, selektieren und artikulieren, so muss man auch die Glaubwürdigkeit der Personen, die einem ihre Erfahrungen mehr oder weniger kritisch mitteilen und damit die eigene Orientierung formieren, unterscheiden und einschätzen können. Hinter die eigene Orientierungs- und Urteilsfähigkeit kommt man nirgends zurück, auch und gerade in Notzeiten nicht.
 
6. Orientierung als Nutzung der Vielfalt von Orientierungen
 
Dennoch nutzt die Vielfalt der Orientierungen. Als Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise ergriffen wurden, noch mehr aber, als man die Maßnahmen schrittweise wieder zu lockern begann, wurde hartnäckig auf ihre Einheitlichkeit in den verschiedenen Regionen gepocht und über „Flickenteppiche“ geklagt, wenn es nicht zu dieser Einheitlichkeit kam. Dahinter stand die Vorstellung, dass alles am besten zentral zu steuern wäre.
 
Einheitlichkeit erleichtert die Übersicht, und die Übersicht über die Situation und die Handlungsmöglichkeiten in ihr ist das erste Ziel der Orientierung. Doch auch die Übersicht ist mit einer Paradoxie verbunden – im Deutschen bis in die Sprache hinein: Je mehr man eine Situation übersieht (als ganze im Blick hat), desto leichter übersieht man die Details in ihr (verliert sie aus dem Blick). Die menschliche Orientierung kann auch mit dieser Paradoxie gut arbeiten, indem sie zwischen beidem oszilliert, abwechselnd aufs Ganze und auf die Details blickt und so Schritt für Schritt den Zusammenhang der Details im Ganzen entdeckt. Nur so ist eine erfolgreiche Orientierung möglich.
 
Die hartnäckige Forderung nach Einheitlichkeit dürfte durch Philosophien und Wissenschaften motiviert sein, die traditionell auf Allgemeines fixiert sind, das vom Einzelnen abstrahiert. Bei der Bekämpfung der Pandemie kann man so nicht abstrahieren, weil die Pandemie, wie sich bald gezeigt hat, unter unterschiedlichen Bedingungen unterschiedlich verläuft und darum auch unterschiedliche Maßnahmen in unterschiedlichem Grad und zu unterschiedlichen Zeiten ergriffen werden müssen. In föderalistischen Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz [WS20] sind darum auch unterschiedliche behördliche Zuständigkeiten vorgesehen; denn vor Ort kennt man die Situation am besten. Wäre grundsätzlich Einheitlichkeit geboten, dann dürfte sie sich nicht auf einen Staat beschränken, sondern müsste sich auf die ganze Welt erstrecken; das Virus, wie man oft gesagt hat, kennt keine geographischen Grenzen. Weltweit einheitlich ließ sich die Pandemie jedoch ohnehin nicht bekämpfen, weil dafür keine effektiven Exekutivorgane bestehen. Die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, ist nur eine Beobachtungsinstitution, und auch ihre Finanzierung ist von Einzelstaaten abhängig.
 
Ein Flickenteppich erschwert nicht nur die Übersicht, er schafft auch Ungleichheiten, die als Ungerechtigkeiten empfunden werden, und in Grenzgebieten zuweilen skurrile Situationen. Auf der anderen Seite steht jedoch das Risiko, dass eine von zentraler Stelle aus verbindliche Entscheidung unter Bedingungen der Ungewissheit die Krise extrem verschlimmern kann – wenn sie falsch ist, was zunächst niemand genau wissen kann. Nutzt man dagegen die Vielfalt der Entscheidungen in verschiedenen Regionen und beobachtet wechselseitig, welche Folgen sie haben, so kann man voneinander lernen, und wenn die Entscheidungen zeitversetzt fallen, so hat man auch Zeit zu lernen. Nicht nur Notsituationen, alle Situationen lassen, medizinisch gesprochen, unterschiedliche Diagnosen und Therapien zu; so ist zu erwarten und ist es auch richtig, dass unterschiedlich entschieden wird. Arbeiten viele im Wettbewerb an Problemlösungen, so steigt die Chance kreativer Lösungen, und kreative Lösungen verbreiten sich schnell. Auch hier orientiert man sich an den Orientierungen anderer, ohne sie einfach zu übernehmen; stattdessen sieht man zu, wie sie sich unter den eigenen Verhältnissen bewähren könnten. Was dort helfen mag, kann hier überflüssig sein oder sogar schaden. Das Sich-Orientieren an Entscheidungen an Stelle ihrer bloßen Übernahme ist in Krisen, in denen es um Leben und Tod geht, umso bedeutsamer. Unterschiedliche Orientierungen werden dann zu Experimentierfeldern füreinander, dieselben Versuche müssen nicht überall gemacht, sondern können stetig optimiert werden.
 
Orientierung, könnte man sagen, breitet sich aus wie das Corona-Virus: Man ist schon angesteckt durch andere, bevor man es bemerkt, und steckt laufend andere an, ohne dass sie es bemerken und bevor man überhaupt Nachforschungen anstellt. Bewussten Überlegungen und Argumentationen geht die diffuse Verteilung von Plausibilitäten voraus, die dann zum Ausgangspunkt von Argumentationen werden. In Krisen werden Debatten nicht ausführlich und manchmal gar nicht geführt, einfach weil keine Zeit dazu bleibt. Wenn in schwierigen Situationen aber die meisten anders vorgehen als man selbst, stutzt man und überlegt sich seine abweichenden Orientierungsentscheidungen noch einmal und dies umso gründlicher, wenn es sich um für andere verbindliche und dadurch besonders verantwortliche Entscheidungen handelt. Damit verfällt man noch nicht der Herdenorientierung. Stattdessen kommt so und kam auch in der Corona-Krise eine zwar zeitverzögerte, aber weitgehende und hinreichende Einheitlichkeit zustande, die Spielräume für regionale Abweichungen lässt. So riskant der Modus der Orientierung an anderen Orientierungen für eine seriöse Information ist, so sehr bewährt er sich in der Bewältigung von Krisen- und Notsituationen.
 
7. Orientierung als Zuversicht schaffende Entwicklung von Routinen
 
Orientierung gibt noch auf andere Weise in Krisen Halt, den Halt in Routinen. Routinen, individuelle und gesellschaftliche, sind Orientierungsgewohnheiten, sie ersparen neue Orientierungsentscheidungen und lassen Raum für die Aufmerksamkeit auf anderes. Routinen spielen sich unter den jeweiligen Bedingungen mit der Zeit ein, sind, anders als abstrakte Regeln, zugeschnitten auf diese Bedingungen und verändern sich mit ihnen. Solange sie weiterlaufen, geben sie Zuversicht, dass es auch künftig so weitergehen wird. Sie beruhigen.
In Krisen ändert sich nicht alles. In der Corona-Krise sind, weil das gesellschaftliche Leben nahezu stillgestellt wurde, zwar besonders viele Routinen eingebrochen – die gemeinsame Arbeit in Werkhallen oder in Büros (wenn nicht Kurzarbeit oder Verlust der Arbeit überhaupt), der Kita- und Schulbesuch der Kinder, die Treffen mit Freunden, der gemeinsame Sport, die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, die Besuche der Alten in Pflegeheimen usw. [WS21]  Aber andere sind weitergelaufen – die Versorgung mit Lebensmitteln, mit Wasser, Strom, Gas und Benzin, mit Zeitungen usw., das nun noch wichtigere Telephon und Internet trug auch die weit größere Inanspruchnahme, kurz: basale Lebensbedingungen, auch der wiewohl [WS22] nun umständlichere Zugang zu Behörden, blieben zumindest in höher entwickelten Gesellschaften weitgehend erhalten, man konnte auch jetzt noch einen einigermaßen regelmäßigen Tagesablauf organisieren. Zugleich spielten sich neue Routinen ein, das home office, das Miteinander-Auskommen auch in engen Wohnungen, das Distanz-Halten draußen und das Atemschutz-Tragen in Geschäften usw. Unter wechselnden behördlichen Vorgaben spielten sich mittelfristig Routinen auch im Wechsel von Routinen ein und schließlich langfristig Routinen der Krisenbewältigung überhaupt, die künftig von Nutzen sein können[WS23] .  Sie festigen sich, solange man erfolgreich mit der Krise umgehen, sich auch in ihr orientieren kann. Im Not- und Krisen-Modus wird man für Routinen dankbar, die sonst als öde gelten. Denn durch Routinen wird man seiner Orientierung sicher, soweit in ihr Sicherheit möglich ist – im Bewusstsein, dass immer neue Desorientierung drohen kann.
 
UNSER AUTOR:
 
Werner Stegmaier ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Greifswald.[WS24] 
 
Die Fußnoten finden sich auf unserer Webseite www.information-philosophie.de unter
„Nachweise“.
 
Im Oktober 2019 wurde in Nashville, Tennessee, USA, eine Foundation for Philosophical Orientation ins Leben gerufen, die Stegmaiers Orientierungsphilosophie unterstützt:
www. stegmaier-orientierung.de, hfpo.com