PhilosophiePhilosophie

ESSAY

Wolfgang Welsch:
Wie Konstruktivismus und Realismus zusammengehen können

 
aus: Heft 4/2020, S. 8-19
 
Die moderne Überzeugung: Unser Erkennen ist konstruktivistisch, nicht realistisch verfasst
 
In den vergangenen Jahrzehnten lautete eine communis opinio in der Philosophie: Die Wahrheit gehört dem Konstruktivismus, der Realismus hingegen ist falsch und obsolet.
 
Die Konstruktivisten argumentierten: Wir Menschen sind keine simplen und getreulichen Abbildner der Welt – die Idee eines „Spiegels der Natur“ ist allzu naiv (1). In vormoderner Zeit mag man an sie geglaubt haben, die Moderne aber hat uns über den grundsätzlich konstruktivistischen Wirklichkeitsbezug unseres Erkennens aufgeklärt. Descartes hat uns als erster beigebracht, dass keineswegs eine etwaige Ähnlichkeit unserer Repräsentationen mit dem Repräsentierten für unser Erkennen charakteristisch ist: „Es braucht an den Gegenständen nichts zu geben, was unseren Vorstellungen oder Wahrnehmungen, die wir von ihnen haben, ähnlich ist.“ (2) Beispielsweise ist unsere Vorstellung von Holz geistiger Natur und nicht etwa von hölzerner Beschaffenheit. Für unser Erkennen bedarf es nicht einer direkten Ähnlichkeit, sondern allein einer strukturellen Homologie zwischen den Wirklichkeitsbeständen einerseits und unseren Erkenntnisaussagen andererseits. Wo in der Wirklichkeit Unterschiede bestehen, müssen auch in unserer Wirklichkeitskonstruktion Unterschiede auftreten. Dann vermögen wir die Welt so korrekt zu repräsentieren, wie man es sich nur immer wünschen mag. Mehr als eine verlässliche Entsprechung zwischen epistemischen Behauptungen und realen Beständen ist nicht zu verlangen. Unsere Vorstellung von Wirklichkeit ist nicht ein durch Wirklichkeitskontakt zustande gekommenes
Abbild oder eine Kopie des Realen, sondern eine mentale Konstruktion von Wirklichkeit.
 
In diesem Sinn hat Kant 150 Jahre nach Descartes und für die Moderne maßgebend in der Kritik der reinen Vernunft dargelegt, dass unser Erkennen nicht, wie die vormaligen Positionen gemeint hatten, dadurch erfolgreich ist, dass es sich dem Realen angleicht („dass sich unsere Erkenntnis nach den Gegenständen zu richten habe“), sondern dass gerade umgekehrt „die Gegenstände […] sich nach unserem Erkenntnis richten“ müssen (3), und zwar deshalb, weil wir den Gegenständen durch unsere Anschauungsformen (Raum und Zeit) und Kategorien (Einheit, Vielheit, Kausalität, Wechselwirkung, Möglichkeit, Notwendigkeit und dergleichen) von vornherein die Formen vorgeben, unter denen sie überhaupt für uns erscheinen können. Somit sind alle Gegenstände grundlegend menschlich geprägt. Die apriorischen Formen unseres Erkenntnisvermögens haben konstitutive Bedeutung für die Beschaffenheit unserer Gegenstände. Was immer wir wahrnehmen oder erkennen, ist durch uns konstruiert. In diesem Sinn erklärte Kant: „Wir machen alles selbst“.
 
Das ist die moderne Auffassung schlechthin. Man findet sie – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – ebenso bei dem im Gegensatz zu Kant als anti-aufklärerisch und dunkel geltenden Nietzsche, wenn dieser erklärt: „Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden“ (5), so dass unsere sogenannte Wahrheit „durch und durch anthropomorphisch“ ist und „keinen einzigen Punct“ enthält, „der ‛wahr an sich’, wirklich und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen, wäre“ (6).
 
Man findet diese Auffassung ebenso bei der zum dionysischen Denker Nietzsche antipodischen Position des szientifisch gesonnenen Wiener Kreises, wenn dessen Vordenker Otto Neurath 1931 erklärt, dass die „wissenschaftliche Weltauffassung […] das stolze […] Selbstbewusstsein“ vermittelt, „dass der Mensch das Maß aller Dinge“ ist (7). Die menschliche Kognition wird strikt als Konstruktion aufgefasst. Dieses moderne Dogma reicht bis zu den zeitgenössischen Human- und Kulturwissenschaften, die erklären, dass sogar die Natur „nicht mehr als vorgegebene Wirklichkeit“ zu verstehen, sondern „als kulturell konstruiert“ zu erkennen sei (8).
 
Am direktesten hat den Konstruktivismus des modernen Denkens der ‛Radikale Konstruktivismus’ artikuliert. Ernst von Glasersfeld erklärte, dass wir keinerlei direkten Zugriff auf die Realität haben, sondern nur Realitätskonstruktionen produzieren können, die im Idealfall nicht scheitern, sondern empirisch erfolgreich sind – was gleichwohl niemals als Beleg einer objektiven Übereinstimmung aufgefasst werden darf, sondern nur Indiz einer zureichenden Passung ist. Humberto Maturana glaubte zeigen zu können, dass unser Wahrnehmungssystem nicht Regeln einer Innen-Außen-Korrespondenz folgt, und er leitete daraus ab, dass das Nervensystem eine hermetisch geschlossene Organisation mit gegenüber der Umwelt undurchlässigen Grenzen ist. Jeder neuronale Prozess beruht ihm zufolge einzig auf internen Aktivitätsveränderungen des Nervensystems, deshalb sei unsere neuronale Konstruktion von Welt insgesamt eine rein innengeleitete Konstruktion. Niklas Luhmann hat diesen neuronalen Konstruktivismus dann schließlich auf die Gesellschaft übertragen. Die sozialen Systeme sollen gegenüber der Umwelt ähnlich geschlossen sein wie die Gehirne gegenüber der Realität. Ihre konstitutive Blindheit füreinander gilt als Bedingung ihres Erfolgs. –
 
Soweit ein knapper Überblick über das Prinzip und einige Versionen des für die Moderne typischen Konstruktivismus.
 
Halbherzige ältere und vollmundige neuere Plädoyers für Realismus
 
Der klassische Taschenspielertrick: Der Konstruktivismus ist als solcher ein Realismus
 
Allerdings gehörte zur Rhetorik der Moderne auch, dass der Konstruktivismus immer wieder beanspruchte, als solcher zugleich ein Realismus zu sein. Man empfand den eigenen Anti-Realismus offenbar als Manko und versuchte dies elegant zu kaschieren.
 
Klassisch trat der Konstruktivismus als Idealismus auf. Die Idealisten pflegten regelmäßig zu behaupten, dass sie just als Idealisten zugleich Realisten seien. Fichte hatte die Formel 1794 in seiner Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre eingeführt, indem er behauptete, seine Position könne gleichermaßen als „Real-Idealismus“ wie als „Ideal-Realismus“ bezeichnet werden (9). Schelling folgte dem, indem er darauf hinwies, dass Fichte doch „nur insofern Idealist ist, als er zugleich und eben desswegen der strengste und bündigste Realist ist“ (10).Und 1800 erklärte Schelling erneut, „dass das absolut-Ideale auch das absolut-Reale“ sei (11), sowie dass nur Einseitigkeiten und Ungenügendheiten zu einem Idealismus einerseits und zu einem Realismus andererseits führten, während die wahre Position beides enthalte und folglich ein „Ideal-Realismus“ sei (12).
 
 
 
Das ist die für den modernen Idealismus bzw. Konstruktivismus typische Konstellation: Man will, obwohl ‛Idealismus’ bzw. ‛Konstruktivismus’ die höhere Reputation haben, doch auch auf das ‛Realismus’-Prädikat nicht Verzicht tun. Man versucht daher darzulegen, dass man just als Idealist bzw. Konstruktivist zugleich ein Realist sei. Noch im 20. Jahrhundert finden sich solche Realismus-Bekenntnisse von in der Wolle gefärbten Idealisten beispielsweise bei Husserl, der, obwohl er ein engagierter transzendentaler Idealist war, zugleich erklärte, dass „kein gewöhnlicher ‛Realist’ [...] je so realistisch und so konkret gewesen" sei wie er, „der phänomenologische ‛Idealist’“ (13)
Solche Realismus-Reklamationen auf idealistischer bzw. konstruktivistischer Basis finden sich auch dort noch, wo man auf den ersten Blick nicht von Idealismus und kaum von Konstruktivismus würde sprechen wollen, nämlich innerhalb der analytischen Philosophie des späten 20. Jahrhunderts. Ein Paradebeispiel dafür ist Putnam, der verschiedentlich explizit für Realismus eintrat, dies aber ironischerweise immer nur auf sprachphilosophisch modifizierten idealistischen bzw. konstruktivistischen Grundlagen tat (14). Das sei nun etwas breiter dargelegt.
 
In den 1970er Jahren entwickelte Putnam einen semantisch-kausalen Realismus, demzufolge die Bedeutung von Gegenstandsausdrücken (etwa ‛Wasser’, ‛Leopard’ oder ‛Gold’) zumindest zum Teil durch die betreffenden Gegenstände selbst festgelegt werde (15). Unser Gegenstandsbezug sei also kein konstruktivistisches Spiel bei geschlossenen Türen, sondern die Realität wirke daran mit. Aber bald schon kritisierte Putnam, dass eine solche von außen kommende Einflussnahme und Entscheidungsaktivität der Welt rational ganz unverständlich sei, eine „magische“ Annahme darstelle (16). Entsprechend ging er in den achtziger Jahren zu einem internen Realismus über, demzufolge die Bestimmung dessen, was Wirklichkeit ist, prinzipiell nicht von außen, sondern allein von innen, d. h. aus dem Blickwinkel einer Theorie erfolgen kann. Alle Gegenstände sind von begrifflichen Schemata abhängig, ja sie existieren ohne diese überhaupt nicht: „‛Objects’ do not exist independently of conceptual schemes“ (17). Realität ist also nicht etwas, was ‛da draußen’ auf uns wartet oder von dort aus auf uns zukommt, sondern eine begriffliche Konstruktion ‛von innen’. Realität ist von Grund auf begriffsschema- und theoriekonstituiert (18). Das ist der Sinn und die Pointe von Putnams internem Realismus.
 
Insofern stellt dieser am Ende eine Position von eklatant konstruktivistischem Zuschnitt dar, die sich nur noch des Epitheton ‛Realismus’ bedient. Der Realismus hat dem konstruktivistischen Lager nicht bloß nachgegeben, er ist in es übergelaufen. Putnams Realismus unterscheidet sich seiner eigenen Interpretation zufolge überhaupt nicht von der Magna Charta des modernen Konstruktivismus, von der kantischen Epistemologie: „Kant wird am besten so gelesen, dass er als Erster das vorschlägt, was ich eine ‛internalistische’ oder ‛intern realistische’ Wahrheitsauffassung genannt habe.“ (19) – Ein veritabler Realismus ist so freilich ganz und gar nicht erreicht, dafür wird es anderer Maßnahmen bedürfen. (20)
 
Neue Proklamationen von Realismus
 
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts traten dann Positionen auf den Plan, die einen neuartigen Realismus zu begründen suchten: zum einen der ‛neue Realismus’ von Markus Gabriel und Maurizio Ferraris, zum anderen der ‛spekulative Realismus’ von Quentin Meillassoux, Graham Harman und anderen (21).
 
Der ‛neue Realismus’ wendet sich gegen den modernen und postmodernen Konstruktivismus und Relativismus. Seine Vertreter bestreiten nicht, dass manches konstruiert und vieles relativ ist, aber sie beharren darauf, dass nicht alles bloß menschliche Konstruktion und dem Relativismus überantwortet ist. Das Reale ist uns nicht völlig unzugänglich, sondern wir sind in unserer Erkenntnis und Erfahrung vielfach mit dem Realen in Kontakt. Ferraris vertritt dabei (in vorkantischer Manier) die Auffassung, dass die Welt aus Tatsachen besteht, die unabhängig von unserem Erkennen und Bewusstsein existieren – während umgekehrt die Wahrheit unserer Aussagen von diesen Tatsachen abhängt. Gabriel hingegen erklärt die mögliche Realitätshaltigkeit unserer Erfahrung und unseres Erkennens auf andere Weise. In postkantischer Manier lehnt er die Vorstellung ab, dass es in unserem Erkennen und Erfahren überhaupt um die jeweils einzig wahre Bezugnahme auf Dinge an sich gehe, die von sich aus schon schlechthin bestimmt wären. Vielmehr erschließt sich das Wirkliche Gabriel zufolge in unterschiedlichen Perspektiven („Sinnfeldern“) je anders, wobei diesen Erfassungsweisen deshalb Wahrheit bzw. Realitätsgehalt zukommt, weil diese Perspektiven ihrerseits zur Wirklichkeit gehören. Von daher sollen bei Gabriel Perspektivenpluralismus und Realismus zusammengehen.
 
Ist diese Art von Realismus tatsächlich neu? Die Variante Ferraris ist, genau besehen, alt-metaphysisch. Und die Variante Gabriel ist, mit Verlaub, recht modern oder gar postmodern. Denn einen derartigen Beschreibungspluralismus haben längst die Hermeneutik und die Symboltheorie oder in der analytischen Philosophie Putnam (seit seiner Orientierung am Skolem-Paradox) sowie unter postmodernem Vorzeichen Rorty und Feyerabend vertreten. Und ist dieser Realismus – das ist die wichtigere Frage – tatsächlich anti-konstruktivistisch und anti-relativistisch?
 
Das ist er allenfalls der eigenen Rhetorik, nicht aber der Sache nach. Denn selbstverständlich sind die „Sinnfelder“ Konstitutions- und Konstruktionsräume (22), und offenkundig sind alle Erfahrungen und Aussagen relativ auf diese jeweiligen Räume. Die Rede von „Bosonen“ etwa macht im juristischen Kontext keinen Sinn und die von einer „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ im physikalischen Kontext nicht. An der Sinnfeld-Relativität führt kein Weg vorbei. Genau sie machte aber immer schon das Kernstück von (vernünftigen) Relativismen aus. Für Sextus Empiricus waren die Wahrnehmungsgehalte von Eidechsen relativ auf die Eidechsenart und die von Menschen relativ auf die Menschenart, und Sextus hat niemals damit kokettiert, daraus ein anything goes beliebiger Gehalte für beliebige Arten zu machen – und bei den modernen und postmodernen Relativisten war das nicht anders. Gabriels Kritik richtet sich also in puncto Relativismus wie in puncto Konstruktivismus gegen einen Popanz – anscheinend um zu verdecken, wie konstruktivistisch und relativistisch seine eigene Position ist.
 
Die andere neue Spielart, der ‛spekulative Realismus’, wendet sich gegen die moderne Epistemologie, wonach alles Seiende bewusstseins- bzw. sprachabhängig sei; er attackiert diesen Anthropozentrismus des modernen Denkens und plädiert für ein von allen Relationen unabhängiges Selbstsein der Dinge.
 
So hat Meillassoux den durch Kant kanonisch gemachten „Korrelationismus“ aufs Korn genommen, demzufolge wir von Gegenständen nur sprechen können, indem wir ihre Beziehung zu unserem Erkenntnisvermögen beachten, d. h. ihre Prägung durch unsere Anschauungsformen und Kategorien in Rechnung stellen. Dagegen postuliert Meillassoux (ähnlich wie Ferraris) die Existenz einer vom menschlichen Bewusstsein völlig unabhängigen Realität. Für die Philosophie komme es darauf an, sich endlich aus den anthropozentrischen Spiegelspielen zu befreien und die Welt ohne den Menschen zu denken. Harman hat in ähnlicher Weise eine „object-oriented ontology“ entwickelt, der zufolge die Gegenstände als solche gleichsam in ein Vakuum eingeschlossen und für uns letztlich unzugänglich sind – jede Bezugnahme welcher Art auch immer könne sie allenfalls indirekt und höchst unvollständig erschließen.
 
Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings der Verdacht, dass hier einfach der Kant der Erscheinungen („Korrelationismus“) durch den Kant des Dings-an-sich ersetzt wird und dass die Selbstbenennung als „spekulativ“ vor allem als Lizenz für gewagte Spekulationen dient.
 
Insgesamt stehen neuer und spekulativer Realismus in einem auffallend konträren Verhältnis. Während der neue Realismus sozusagen ein Ermächtigungs-Realismus ist, der uns Menschen Realitätserkenntnis dadurch zuspricht, dass er unsere vielen Sinnfelder zu Konstituenzien der Wirklichkeit erklärt, ist der spekulative Realismus eher ein Entmächtigungs-Realismus, der die Realität für unerkennbar erklärt und unsere Sinnperspektiven zu unwichtigen Einbildungen degradiert. Die beiden Positionen stehen einander als Erscheinungs-Realismus einerseits und Ding-an-sich-Realismus andererseits gegenüber. Der neue Realismus Gabriels erklärt just den Kernpunkt des spekulativen Realismus (die ansichseiende, aber unerkennbare Welt) für eine Illusion („die Welt gibt es nicht“). Und der spekulative Realismus sieht in Gabriels Eldorado (den „Sinnfeldern“) nur eine Perennierung des modernen epistemischen Anthropozentrismus und seiner Verfehltheiten.
 
Vieles am ‛neuen’ wie am ‛spekulativen’ Realismus erscheint kritikabel. Dennoch sind diese beiden Richtungen gerade in ihrer Gegensätzlichkeit interessant. Ihr Grundmotiv ist die Wiedergewinnung eines Realismus im Gegenzug gegen dessen sukzessive Austreibung durch den modernen Konstruktivismus. Das andere Grundmotiv ist der Versuch, über die anthropozentrische Engführung der modernen Epistemologie und den Kokon einer bloß menschlich gedeuteten Welt hinauszugelangen. Die Lösungsvorschläge sind verschieden, aber das gemeinsame Anliegen geht dahin, ein Verständnis der Wirklichkeit zu gewinnen, das diese nicht mehr eskamotiert, sondern ihr endlich gerecht wird.
 
Wie das tatsächlich möglich ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Während der neue und der spekulative Realismus unter anderem daran kranken, dass sie den Konstruktivismus nur als Feind ansehen und bloß eine gleicher-maßen einseitige Gegenposition entwickeln, soll nun dargelegt werden, wie Konstruktivismus und Realismus tatsächlich zusam-mengehen können und wie sich dadurch manche der uns seit Jahrzehnten beirrenden Probleme wie von selbst auflösen.
 
Wie Konstruktivismus und Realismus zusammengehen können
 
Evolutionäre Erkenntnistheorie: unsere  apriorischen Formen sind nicht subjektive Idiosynkrasien, sondern realitätshaltig
 
Einen ersten Lösungsschritt bietet die Evolutionäre Erkenntnistheorie. Sie legt dar, dass unsere Konstruktionsmuster evolutionär entstanden sind und dabei seitens der Wirklichkeit ständig harten Adäquatheitstests unterzogen wurden, so dass in der Form, die sie schließlich angenommen haben, viel Realitätspassung abgespeichert ist. Unsere Konstruktionsmuster sind nicht einfachhin unsere Erfindung, sondern sind zu guten Teilen realitätsinduziert, realitätsgetestet und realitätsgesichert (23).
 
Die bekannte Formel der Evolutionären Erkenntnistheorie – von Herbert Spencer geprägt und von Konrad Lorenz wieder aufgenommen – lautet: „Das ontogenetische Apriori ist ein phylogenetisches Aposteriori“, will sagen: Was ontogenetisch als Apriori erscheint, ist in Wahrheit ein phylogenetisches Aposteriori (24). Hier liegt der große Unterschied zu Kant und der konstruktivistischen Tradition insgesamt: Zwar gehen auch der evolutionistischen Auffassung zufolge Konstruktionsleistungen in unseren Weltbezug und unsere Welterkenntnis ein, aber unsere Konstruktionsformen beruhen nicht einfach auf humaner Idiosynkrasie (sind nicht einfachhin ‛subjektiv’), sondern sie haben sich in ständigem Abgleich mit der Wirklichkeit herausgebildet und sind von daher grundsätzlich nicht weltfremd, sondern welthaltig. Genau das ist es, was Kant fehlte. Er sah keine Möglichkeit anzugeben, wo die unserer „Erkenntniskraft eingepflanzten Gesetze“ herstammen (25), und hielt sie deshalb für „selbstgedachte erste Prinzipien a priori unserer Erkenntnis“ und schätzte sie als bloß subjektiv ein (26). Dagegen eröffnet die Evolutionäre Erkenntnistheorie einen Blick auf die „Rückseite des Spiegels“, auf die evolutionäre Herkunft und Wirklichkeitsimprägniertheit unserer apriorischen Formen, und dadurch verändert sich das ganze Bild: Man erkennt die Welthaltigkeit unserer Konstruktionsformen, und der Verdacht bloßer Subjektivität löst sich zugunsten offensichtlicher Objektivität auf. Die Konstruktionsmuster sind selbst schon realitätshaltig. Konstruktion und Realität stehen nicht gegeneinander. Das ist eine erste Weise, wie Konstruktivismus und Realismus zusammengehen.
 
Erkenntnisleistungen sind Weltbestände
 
Ein zweiter Gesichtspunkt, der den Abstand zwischen Konstruktion und Realität verringert, beruht auf dem Umstand, dass Erkenntnisakte nicht außerweltliche, sondern in der Welt auftretende Ereignisse sind. Erkenntnisakte gehören (ganz egal, ob sie zutreffend sind oder nicht) zur Wirklichkeit. Und das betrifft nicht nur die Akte menschlicher Erkenntnis, sondern kognitive Vollzüge generell, also auch schon die kognitiven Akte anderer Lebewesen. Es ist ja nicht so, dass Kognition erst bei uns Menschen vorkäme, sondern in schwächeren und zum Teil extrem minimen Formen finden sich kognitive Vollzüge schon in der sonstigen organischen Welt.
 
Es ist trivial (aber, wie sich bald zeigen wird, auch folgenreich): Erkenntnisakte gehören ebenso wie Akte von Mord und Totschlag, Liebe und Großmut, Betrug und Mitleid, Genialität und Wahnsinn oder auch Überschwemmungen, Schneefälle und Sternschnuppen zu dieser Welt. Sie sind Vorkommnisse im Arsenal der Realität. Ohne sie wäre die Realität eine andere.
 
Wahrnehmung: Konstruktionsleistungen haben entdeckenden Charakter
 
Der gängig angenommene Unterschied zwischen Konstruktion und Wiedergabe ist kleiner, als man denkt. Wir haben gesehen, dass unsere Standardmuster ein realistisches Fundament besitzen. Sie sind nicht idiosynkratische Konstruktionen, sondern wirklichkeitsgeprüft und wirklichkeitsbewährt. Das gilt aber nicht nur von unseren Mustern, sondern ebenso von den Konstruktionsmustern anderer Lebewesen, die sich von unserem Arsenal zum Teil beträchtlich unterscheiden. Beispielsweise vermögen Bienen und etliche andere Insekten UV-Licht wahrzunehmen. Das erlaubt ihnen, UV-Muster auf Blüten zu erkennen und so nektarreiche Blumen zu identifizieren oder, da UV-Strahlen ein (für uns Menschen ebenfalls unsichtbares) Muster am Himmel erzeugen, den Stand der Sonne selbst bei wolkenverhangenem Himmel abzulesen und sich so besser zu orientieren. Oder die Grubenotter vermag Wärmestrahlung (Infrarotlicht) zu registrieren und kann so ihre Beute sogar in der Dunkelheit erspähen und ergreifen. Und die Nilhechte können selbst in extrem schlammigen Wasser, wo das Augensehen nicht mehr weiterhilft, zielsicher navigieren, indem sie mit speziellen Muskelzellen ein elektrisches Feld erzeugen, das von Objekten in ihrer Umgebung modifiziert wird, wodurch sie ein detailreiches Bild ihrer Umgebung gewinnen (28). In all diesen Fällen handelt es sich um ingeniöse Wahrnehmungsleistungen, die keineswegs fiktional, sondern durchaus veridisch sind. Sie erlauben, Aspekte der Wirklichkeit zu entdecken, die zwar uns Menschen verschlossen, aber nicht weniger wahrhaftig sind als unsere Wahrnehmungserkenntnisse. Auch die genannten Konstruktionsverfahren haben entdeckenden Charakter.
 
Selbst ein Physikalist, der die physikalische Wirklichkeit für die einzig wahre Wirklichkeit ansieht (für den also Gefühle, Wahrnehmungen oder gar Gedanken keineswegs zur Wirklichkeit gehören, sondern allenfalls epiphänomenalen Status besitzen), muss zugeben, dass die zuletzt genannten Wahrnehmungsweisen ein physikalisches fundamentum in re haben, dass sie auf physikalisch reale Strukturen reagieren und physikalisch Reales entdecken (etwa Muster der UV-Strahlung). Schon die menschliche Wahrnehmung geht zwar über den rein physikalischen Bestand hinaus (wir sehen Sonnenblumen als gelb, aber an den Sonnenblumen selbst finden sich keine Gelbpartikel), sie tut dies aber nicht arbiträr, sondern hat eine physikalische Grundlage am Gegenstand selbst. Denn immer dann, wenn dessen Molekülstruktur so ist, dass er Licht einer Wellenlänge von 575 Nanometer reflektiert, sehen wir ihn als gelb. Und immer dann, wenn er Licht mit 660 Nanometern reflektiert, sehen wir ihn als rot. Dass der Gegenstand (an dem sich, wie gesagt, keine Farbpartikel finden) von Lebewesen, die über Farbensinn verfügen, als farbig wahrgenommen wird, bedeutet nicht eine Verfälschung jenes Gegenstandes, sondern stellt eine neue, über das bloß physikalische Sein hinausgehende Erscheinungsweise dieses Gegenstandes dar. Die Farbigkeit ist sozusagen eine in der physikalischen Struktur des Gegenstandes angelegte Valenz, die genutzt werden kann. Und wenn ein Farbenseher diese Möglichkeit tatsächlich nutzt, dann stellt sich der Gegenstand eben als farbig dar. Und diese Farbigkeit ist zwar kein Bestandteil der physikalischen, sondern erst der aisthetischen Welt, aber sie ist physikalisch fundiert – wie gesagt, in der Molekülstruktur des Gegenstandes, die zur Folge hat, dass Licht bestimmter Wellenlängen von ihm absorbiert, anderes hingegen reflektiert wird.
 
Nicht nur die physikalische, sondern auch andere Seinsdimensionengehören zur Welt
 
Zur Wirklichkeit gehören nicht nur Atome und Berge und Gräser und Rosen, sondern auch Bienen, Eichelhäher, Gazellen und Menschen. Die Letzteren haben unter anderem gemeinsam, dass sie Farbenseher sind. Und für Farbenseher sind Farben real und bedeutsam. Also gehören auch Farben, wenn Farbenseher zur Realität gehören, zur Realität. Und je mehr weitere Sinnesvermögen sich entwickelten, umso mehr gehörten auch weitere Sinnesqualitäten zur Wirklichkeit – olfaktorische, taktile, auditive etc.
 
Eine Realitätsauffassung, welche diese Wahrnehmungsgehalte außer Acht ließe, wäre höchst unvollständig und geradezu falsch. Denn diese Sinnesqualitäten haben, wie gesagt, erstens ein fundamentum in re. In ihnen wird etwas erfahren, was in einer Welt mit aisthetischen Akteuren real ist. Zudem sind diese Wahrnehmungsgehalte für die Lebewesen, die über solche Sinnesvermögen verfügen, essenziell. Sie bieten ihnen Nahrungs- oder Gefahrenhinweise und insgesamt Orientierungshilfe. Sie sind also für die Lebensführung und das Überleben der betreffenden Lebewesen unverzichtbar. Ohne sie vermöchten diese Lebewesen nicht so zu leben, wie sie es tun. Kein einziger Organismus wäre ohne Sinneserfahrungen der, der er ist. Da man nun nicht bestreiten kann, dass die Organismen zur Welt gehören, muss man a fortiori anerkennen, dass auch diese für das Leben der Organismen konstitutiven Sinnesgegenstände und Sinneserfahrungen zur Wirklichkeit gehören. Die Realität bedarf nicht nur einer physikalischen, sondern ebenso einer die Organismen einbegreifenden Beschreibung. Wirklichkeit, das ist eben nicht bloß die physikalische Realität, sondern, sobald Organismen und sinnesbegabte Wesen auftreten, auch eine aisthetische, eine gewahrende Wirklichkeit. Auch die Perspektiven auf die Wirklichkeit gehören zur Wirklichkeit. Es wäre grotesk, sie aus dieser wegstreichen zu wollen. Da könnte man gleich alle Lebewesen aus ihr wegstreichen. Dann bliebe nur noch eine anorganische Schrumpfwelt übrig, aber nicht die Wirklichkeit, wie sie tatsächlich ist.
 
Bis hierher ist klargeworden, dass kognitive, aisthetische etc. Konstruktionsleistungen veritable Teile der Wirklichkeit sind. Sie kommen in der Wirklichkeit nicht nur vor, sondern spielen darin eine konstitutive Rolle.
 
Kognition erfasst Realität nicht nur, sondern verändert sie auch
 
Nun kommt ein gewichtiger weiterer Punkt hinzu. Die genannten Konstruktionsleistungen sind nicht nur wirklichkeitsentdeckend, sondern haben auch Einfluss auf die Wirklichkeit, sie verändern diese. Das rührt daher, dass die Lebewesen ihr Leben eben im Licht ihrer kognitiven Leistungen führen und diesen gemäß auf die sie umgebende Wirklichkeit einwirken. Davon sind Bestände der organischen wie der physischen Wirklichkeit betroffen. Mit Hilfe ihrer kognitiven Leistungen ja-gen Tiere andere Tiere und töten sie; im Duktus somatischer und ästhetischer Präferenzen vermehren sie sich; und durch ihr appetenz- wie kognitionsgeleitetes Verhalten verändern sie die sie umgebende vegetabilische und anorganische Natur (Versteppung, Co2-Aufladung der Atmosphäre, etc.). In all diesen Fällen wirkt sich die Kognition auf die Wirklichkeit aus. Die konkrete Gestalt der Letzteren verdankt sich (mal zu größeren, mal zu geringeren Anteilen) den kognitionsgeleiteten Verhaltensweisen der Tiere.
 
Deshalb muss die Frage nach dem Verhältnis von Konstruktion und Realität eine neue Form annehmen. Traditionell fragte man nur, inwiefern und inwieweit unsere epistemischen Konstruktionen der Realität entsprechen. Jetzt haben wir gesehen, dass dies allenfalls die eine Seite der Medaille ist. Die andere ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kognition die Wirklichkeit auch verändert, sie umgestaltet. Die Beziehung zwischen Kognition und Wirklichkeit ist nicht bloß epistemisch, sondern auch pragmatisch. Und während im epistemischen Verhältnis die Wirklichkeit die Führung hat, kommt diese im pragmatischen Verhältnis der Kognition zu. Während im ersteren Fall die Kognition der Wirklichkeit folgt, folgt im letzteren die Wirklichkeit der Kognition. Kognitive Vollzüge verändern die Hardware der Wirklichkeit.
 
Resümee: Konstruktivismus und Realismus bilden keinen Gegensatz, sondern gehen Hand in Hand
 
Konstruktion und Realität stehen einander insofern nicht gegenüber, sondern gehören zusammen. Die Realität ist voll von Konstruktionsleistungen und ist durch deren Folgen bestimmt.
 
Die physikalische Wirklichkeitsauffassung (die ihrerseits ganz offensichtlich auf zum Teil extremen Konstruktionen beruht, man denke nur an die String-Theorie) ist nur eine, wenngleich gewichtige Wirklichkeitsbeschreibung, aber die Wirklichkeit geht in ihr nicht vollständig auf, sondern reicht weit über sie hinaus: auch Gefühle und Wahrnehmungen, Gedanken und Dialoge, Kunstwerke und Gebete, Rituale und Sozialhysterien gehören zur Wirklichkeit (29). Insofern ist die Wirklichkeit (zumindest von der organischen Seinsdimension an) voller Konstruktionen. Wollte man diese abziehen, bliebe nur eine arg amputierte und kastrierte Realität über. Konstruktionen gehören zum Fleisch der Realität.
 
Ausblick: Konstruktivismus und Realismus aus dem Blickwinkel einer relationalen Ontologie
 
Das bisher Dargelegte reicht meines Erachtens aus, um den einfachen Gegensatz von Konstruktivismus und Realismus ad absurdum zu führen. Ich möchte dem gleichwohl noch eine weitere Betrachtung anfügen, die zusätzlich geeignet ist, diesen Befund evident zu machen. Es handelt sich um eine ontologische Betrachtung, um das Konzept einer strikt relationalen Ontologie (30). Auch wer diesem Konzept nicht zustimmt, wird, so hoffe ich, durch die vorangegangenen Betrachtungen überzeugt worden sein, dass die blanke Konfrontation von Konstruktivismus und Realismus an der Sache vorbeigeht. Aber vielleicht kann die ontologische Überlegung zusätzliche Evidenz erbringen.
 
Die Grundthese des Konzepts lautet: Ein jedes Seiendes ist, was es ist, nur in Relation zu anderem Seienden. Nichts ist, was es ist, einfachhin aus sich selbst. Sondern es ist, was es ist, aufgrund seiner und in seinen Relationen zu anderem.
 
Für gewöhnlich denkt man (zumindest im abendländischen Raum) anders. Man meint, ein Seiendes sei zuerst einmal es selbst und stehe erst sekundär in Relationen. In Wahrheit verhält es sich jedoch umgekehrt: jedes Seiende ist primär ein Verknüpfungspunkt von Beziehungen und erscheint nur sekundär (aber fälschlich) als selbstständig Seiendes, als Substanz. Dinge sind, was sie sind, nicht an sich, nicht aus sich selbst. Ansichsein, das ist der große Irrtum in der Philosophie und im Alltag. Ein jedes Seiende ist, was es ist, nur durch die Relationen, in denen es steht. Die Relationen sind nicht schöne Zutaten, sondern die Dinge sind bis in ihren ‛Kern’ hinein relational verfasst und bestimmt. Nimmt man diese vermeintlich externen Bedingungen weg, so zeigt sich sogleich, dass das scheinbare Ansich, das Wesen, schlicht zusammenbricht, verdampft.
 
Nehmen wir Wasser als Beispiel. Man denkt im allgemeinen, Wasser sei von sich aus flüssig. Das ist ein Irrtum. Wasser ist unter bestimmten Temperaturbedingungen flüssig, unter anderen aber ist es festes, gefrorenes Eis, und unter noch einmal anderen löst es sich in Dampf auf. Oder glauben Sie, ein Automobil sei – wie der Name es suggeriert – ein selbstfahrendes Gerät? Nimmt man den Kraftstoff oder die Elektroenergie weg und dann auch noch Straßen und Wege und den festen Untergrund, so ist es mit der Automobilität der Kiste schnell vorbei. Und man kann noch weiter gehen: Wenn man die Erdatmosphäre wegnähme, würden nicht nur alle Autoreifen platzen, sondern alle Organismen (uns eingeschlossen) würden zerbersten. Die Organismen sind auf den Atmosphärendruck perfekt abgestimmt. Ihr Zellinnendruck hält dem Außendruck der Atmosphäre passgenau die Waage. Die Organismen haben sich eben in Abstimmung mit dieser Außenbedingung entwickelt. Deshalb gehört diese untrennbar zu ihnen, ist ihnen eingeschrieben. Die als äußerlich erscheinende Relation ist eine innerliche.
 
Nur denken wir gemeinhin nicht an derlei externe Bedingtheiten dessen, was anscheinend selbstständig vorliegt. Diese Bedingungen sind aber absolut elementar. Es ist eine arge Verkürzung, wenn wir die Dinge, wie sie vor Augen stehen – eine Blume oder einen Hund, eine Geige oder ein Klavier – für autonome Gegenstände nehmen, die von sich aus blühen oder bellen oder klingen könnten. Ohne den Atmosphärendruck würden Blumen und Hunde sich instantan auflösen, und ohne die umgebende Luft vermöchten Geigen und Klaviere keinerlei Klang zu erzeugen. Die Außenbedingungen sind dem, was als Wesen oder Eigentätigkeit einer Sache erscheint, eingeschrieben. Sie sind keineswegs peripher, sondern absolut essenziell. Noch einmal: Nichts ist, was es ist, einfachhin aus sich selbst, sondern nur im Verbund mit Außenbedingungen, die unabdingbar zu seiner Verfassung gehören.
 
Wenn nun ein jedes Seiende das ist, was es in und durch Relationen ist, dann gehören dazu auch die kognitiven Relationen im weitesten Sinn. Sie können eminent wichtig sein. Beispielsweise waren Orchideen der Wahrnehmung durch Bienenmännchen ausgesetzt, und daraus sind neue Arten entstanden (31). Oder Pfauenmännchen werden von Pfauenweibchen ästhetisch bewertet und können infolgedessen eine beträchtliche Nachkommenschaft erzeugen – oder leer ausgehen. Bestimmte Steine werden von Menschen als nützlich oder schön perzipiert – und das führt zur Ausbeutung der Vorkommen durch Bergbau und Edelsteinindustrie. Feiner betrachtet zeigt sich, dass organisches Leben allenthalben durch eine eminente Vielzahl von Eigen- und Fremdperspektiven bestimmt ist: nicht nur in Beute- und Jägerbeziehungen schaukeln sich die wechselseitigen Perzeptionen mit physischen Aufrüstungs- und kognitiven Verfeinerungsfolgen hoch, sondern schon jedes einzelne Lebewesen ist durch eine Mehrzahl perzeptiver Eigenvollzüge (Artgenossen, Feinde, Nahrungsquellen, Umweltbeschaffenheit etc.) wie Fremdvollzüge (durch Artgenossen oder Fressfeinde, aber auch durch Symbionten, Parasiten etc.) bestimmt. Ein einzelnes Lebewesen zu verstehen, verlangt eine Vielzahl von Lebewesen und das vielgliedrige Netz ihrer wechselseitigen Beziehungen zu verstehen.
 
Schon die anorganische Wirklichkeit ist ein immenses Gefüge von Beziehungs- und Antwortformen. Bereits das physikalische Sein ist grundlegend durch Responsivität gekennzeichnet. Vom Atombau über kausale Zusammenhänge bis hin zu den Verbänden von Galaxien und Sternhaufen stehen die Dinge in Zusammenhängen von Bedingung, Reaktion und Antwort. Alles Sein ist elementar responsiv. Insofern besteht die Welt aus Antwortformen. Und diese Antwortformen sind nicht auf eine ihnen vorgängige oder gar ihnen gegenüber unabhängige Welt bezogen, sondern auf weitere Antwortformen bzw. Interpretationen. Denn was sind ihre Bezugspunkte? Etwa elementare und letzte Wirklichkeitskerne? Nein, dergleichen findet sich nirgendwo. Die Bezugspunkte sind ihrerseits schon wieder Reaktionsweisen, Interpretationen, Bündel von Relationen. Dass ‛Sichten’ die Welt mitprägen, beginnt nicht erst mit der Kognition, sondern gilt von Anfang an. Und das bedeutet insgesamt: Die Sichten der Welt gehören nicht nur zur Welt, sie machen die Welt aus. Das gilt von der Elektronenbindung über chemische Reaktionen bis hin zum Schwimmverhalten einer Amöbe oder der Baumwahrnehmung  eines Eichhörnchens oder der menschlichen Weltbildproduktion. Die Welt besteht aus ihren Sichten – aus deren Geflechten und Wirkungen.
 
Alles ist ein Mehrfaches. Das Elektron eines Wasserstoffatoms ist der Gegenpol seines Protons, ein Bindungsagent für ein Wassermolekül, Rekrutierungskandidat für Elektronenstrahlung, ein Untersuchungsobjekt für den Physiker, usw. Oder ein Baum ist ein Stabilisator für den Erdboden, ein Nistplatz für Vögel, ein Schattenspender für Wanderer, ein Renditeobjekt für die Holzindustrie und ein Motiv für den Landschaftsmaler. Tierische wie menschliche Perzeptionen und Nutzungsperspektiven gehören zu seiner Existenz. Wäre er nicht nützlich für die Holzindustrie, so wäre er nicht gepflanzt worden; würde er nicht den Buchfinken einen Nistplatz bieten und den Spechten eine Nahrungsquelle, so stünde es schlecht um diese; und hätten sein wohltuender Schatten und seine Schönheit nicht Naturschützer auf den Plan gerufen, wäre er längst gefällt worden. Alles Seiende ist ein Gewebe aus Hardware und Software, aus materiellen Beständen sowie Beziehungen von Symbiose und Nützlichkeit, wechselseitiger Angewiesenheit oder Abstoßung einerseits und von entsprechenden Wahrnehmungen, Einschätzungen und Bewertungen andererseits.
 
Insofern zeigt sich gerade in dieser relationalen Perspektive, dass die Realität allenthalben von Konstruktionen (Perzeptionen, Kognitionen) durchzogen und durch sie geprägt ist. Realität und Konstruktion sind untrennbar amalgamiert. Daran sollten Realismus und Konstruktivismus sich orientieren. Nur wo sie Hand in Hand gehen, vermögen sie der Wirklichkeit gerecht zu werden.
 
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UNSER AUTOR:
 
Wolfgang Welsch ist emeritierter Professor für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und lebt in Berlin.