PhilosophiePhilosophie

01 2021

Paul Hoyningen-Huene:
Sagt die Physik die Wahrheit?

aus: Heft 1/2021, S. 8-17
 
Hinsichtlich des Themas, das Physik und Wahrheit in Beziehung setzt, kann man verschiedene Fragen stellen. Für Philosophen ist es naheliegend zu fragen, was man denn in der Physik unter Wahrheit versteht. Diese Frage werde ich nicht behandeln, weil ich unterstelle, dass die Physik unter Wahrheit das Gleiche versteht wie wir im Alltag, und dass in beiden Bereichen der Wahrheitsbegriff meist problemlos funktioniert. Das heißt, dass wir wissen, was es bedeutet, dass eine Aussage wahr (oder falsch) ist. Etwas ganz anderes ist die Feststellung der Wahrheit einer Aussage, das ist oft alles andere als problemlos. So kann man fragen: Erreicht die Physik die Wahrheit, d. h. gibt uns die Physik wahre Aussagen? Falls sie das tut, wie schafft sie das? Und falls sie die Wahrheit nicht erreicht, was liefert sie uns dann?
 
Realismus und Instrumentalismus
 
Eine Position, die behauptet, dass die Physik die Wahrheit zumindest approximativ er­reicht, wird „realistisch“ genannt. Dabei gibt es eine Reihe von Varianten, die sich vor allem darin unterscheiden, hinsichtlich welcher Aspekte der Welt die Physik die Wahrheit erreichen soll. Der „wissenschaftliche Realismus“ behauptet, dass in der Physik die Wahrheit über die physischen Bestandteile des Universums erreicht wird, während der „strukturelle Realismus“ behauptet, dass man die Wahrheit über die (mathematische) Struktur des Universums herausfinden kann. Den Streit innerhalb des realistischen Lagers, welche Variante die eigentlich richtige Version des Realismus ist, lasse ich hier auf sich beruhen.
 
Zu den „antirealistischen“ Gegenpositionen gehört der Instrumentalismus, der physikalische Theorien nicht als etwas ansieht, dessen Zweck es ist, die Wahrheit über das Universum zu artikulieren, und die entsprechend wahr oder falsch sein können, je nachdem, ob das gelingt oder nicht. Vielmehr sagt der Instrumentalismus, dass Theorien lediglich Instrumente sind, mit denen man bekannte Beobachtungsdaten systematisieren und Vorhersagen von neuen Beobachtungsdaten erzeugen kann. Ein Instrument ist aber weder wahr noch falsch, vielmehr erfüllt es seinen Zweck oder eben nicht. In dieser Sicht sind alle wissenschaftlichen Theorien bloße Modelle der Realität, ohne den geringsten Anspruch, diese Realität irgendwie wahrheitsgetreu abzubilden. Zugespitzt ist in dieser Sicht die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit von Theorien sogar falsch gestellt, weil nicht sachangemessen, wie die Frage, ob Primzahlen eigentlich grün sind oder nicht.
 
Beobachtbares vs. Unbeobachtbares
 
Die Unterscheidung von Beobachtbarem und Unbeobachtbarem ist in diesem Kontext wichtig, weil Wahrheitsansprüche, die durch direkte Beobachtung eingelöst werden können, weniger problematisch sind als solche, bei denen das nicht der Fall ist. Kontrastieren wir z. B. die Aussage „Am 21. 8. 2017 gab es in Stayton OR, USA um 10:17 eine totale Sonnenfinsternis“ mit der Aussage „Vor ca. 13,78 Mio. Jahren begann unser Universum mit dem sog. Big Bang, dem ‚Urknall‘“. Die Aussage über die Sonnenfinsternis bezieht sich auf ein direkt und unproblematisch beobachtbares Ereignis; ihre Wahrheit (oder Falschheit) lässt sich daher durch Beobachtung unmittelbar feststellen. Die Aussage über die Existenz des Urknalls bezieht sich dagegen auf ein vergangenes, grundsätzlich unbeobachtbares Ereignis, und entsprechend ist es nicht offensichtlich, wie man die Wahrheit (oder Falschheit) dieser Aussage feststellen kann.
 
Der Kontrast dieser beiden Beispiele kann den Eindruck erwecken, als seien Aussagen über Beobachtbares in den Wissenschaften unproblematisch. Das stimmt aber nicht, denn in den Wissenschaften werden nicht nur Aussagen über beobachtbare Einzelereignisse gemacht, wie die über eine ganz bestimmte Sonnenfinsternis, sondern auch über allgemeine Sachverhalte, z. B. „Unter Normalbedingungen friert Wasser immer bei 0 Grad Celsius“. Zwar ist jeder einzelne Fall von Wassergefrieren bei 0 Grad Celsius unproblematisch beobachtbar (falls man in das Wassergefäß hineinschauen kann), aber dass das immer der Fall ist, lässt sich nicht wirklich beobachten. Diese Aussage umfasst nämlich potenziell unendlich viele Fälle in Vergangenheit und Zukunft, die nicht alle überprüft werden können. Dieses Problem ist unter dem Namen „Induktionsproblem“ bekannt. Es sieht so aus, dass man einen „Induktionsschluss“ von endlich vielen beobachtbaren Fällen auf potenziell unendlich viele andere benötigt, und wie das genau geschehen soll, ist umstritten. Klar ist lediglich, dass Induktionsschlüsse manchmal gelingen – oder zumindest zu gelingen scheinen! –, während sie manchmal sicher scheitern. Wenn beispielsweise jemand bei einem unfreiwilligen Fall von einem Hochhaus nach Passieren von zwanzig, dreißig oder vierzig Stockwerken annimmt, dass es auch weiterhin gut gehen wird, so ist diese unbeschränkte Verallgemeinerung zum Scheitern verurteilt.
 
Unbeobachtbares
 
In den Naturwissenschaften, speziell der Physik, werden vielfach Aussagen über Unbeobachtbares gemacht. Dabei handelt es sich oft um Dinge, die anscheinend prinzipiell unbeobachtbar sind. Ein Ereignis wie der Urknall, der in der Vergangenheit liegt, ist prinzipiell ebenso unbeobachtbar wie etwa das Aussterben der Dinosaurier. In einem strikten Sinn sind aber auch z.B. Felder, Gravitationswellen, dunkle Materie, dunkle Energie, oder Elektronen unbeobachtbar, weil wir eigentlich nur ihre Wirkungen beobachten können. So können wir beispielsweise die Spur eines Elektrons in einer Nebelkammer beobachten, aber diese Spur ist nicht das Elektron selbst, sondern kleine Bläschen, die der Vorbeiflug des Elektrons erzeugt hat. Allerdings kann sich die Grenze zwischen „beobachtbar“ und „unbeobachtbar“ verschieben, wenn beispielsweise etwas, was zu klein oder zu groß ist, um mit unseren Sinnesorganen oder Instrumenten erfasst zu werden, durch neuartige Instrumente sinnlich zugänglich wird. Beispielsweise gab es im 19. Jahrhundert eine lange und kontroverse theoretische Diskussion über die Existenz von Atomen. Lange, nachdem diese Diskussion dann zugunsten der Existenz der Atome entschieden war, konnte man Atome mit dem Rasterelektronenmikroskop auch direkt sichtbar machen; damit hatte sich auch die Grenze zwischen beobachtbar und unbeobachtbar verschoben. Aber wie hatte man sich davor, ohne direkte Beobachtung, von der Existenz der Atome überzeugt? Letzten Endes geschah das ebenfalls auf der Grundlage von Beobachtungen und Experimenten, denn schließlich sind die Naturwissenschaften empirische Wissenschaften. Das bedeutet ja, dass die Empirie, d. h. die (Sinnes-)Erfahrung, fundamental bei der Verteidigung von Wissensansprüchen beteiligt ist. Aber die empirische Stützung von theoretischen Postulaten, wie die der Existenz von Atomen, geschieht auf indirekte Weise. Eine solche empirische Stützung ist wissenschaftliche unabdingbar, denn sonst blieben theoretische Postulate Spekulationen mit einem hohen Grad an Beliebigkeit.
...


Sie wollen den vollständigen Beitrag lesen?