PhilosophiePhilosophie

01 2021

Christine Chwaszcza, Stefan Gosepatz, Christian Neuhäuser, Elif Özmen, Veronique Zanetti:
Wo steht die politische Philosophie heute?

aus: Heft 1/2021, S. 30-45
 
 
Vor hundert Jahren wurde John Rawls geboren. Seine Philosophie bedeutete einen Paradigmenwechsel in der politischen Philosophie an westlichen Universitäten. Was hat zu diesem Erfolg geführt?
 
Stefan Gosepath: Warum Eine Theorie der Gerechtigkeit 1971 so schnell so ein durchschlagender Erfolg wurde, dazu gibt es eine Standarderzählung, nach der die enorme Wirkung dieser bahnbrechenden Arbeit mindestens in drei Faktoren begründet liegt. Im Kontrast zur bis dahin in den angelsächsischen Ländern dominanten sprachanalytischen Philosophie führt Rawls’ Theorie erstens zu einer Wiederbelebung bzw. Rehabilitierung einer normativen (politischen) Moralphilosophie. Zweitens gelingt es Rawls, den bis dahin in den angelsächsischen Ländern vorherrschenden Utilitarismus als Moraltheorie abzulösen. Drittens ist nach Rawls (im Gegensatz zu den klassischen Theorien von Hobbes, Locke, Kant u. a.) die zentrale normative Aufgabe einer heutigen politischen Theorie die Reflexion der Bedeutung von nicht nur mehr Koexistenzsicherung und Freiheitsregelung, sondern vielmehr auch wesentlich der Gerechtigkeit inklusive der Verteilung ökonomischer Güter und sozialer Chancen.
 
Diese Standarderläuterung ist aber wie so oft US-zentriert. In Europa (ganz zu schweigen von dem nicht unwesentlichen Rest der Welt) gab es hingegen in der Philosophie wie der Politik verbreitet marxistische (und in Frankreich auch eine post-strukturalistische) Strömungen. Das interessante ist nun, dass es u. a. auch durch Rawls‘ Einfluss in West-Europa dazu kam, dass das liberal-egalitäre Denken in Sinne des Individualismus, der Gerechtigkeit, der Freiheit und Gleichheit gegen den Marxismus zum dominanten Paradigma wurde.
 
Christian Neuhäuser: Dafür scheint es mir drei Gründe zu geben. Erstens hat Rawls analytische Philosophie mit normativer Gerechtigkeitstheorie verbunden. Analytische Philosophie war in den fünfziger bis siebziger Jahren zumindest im englischsprachigen Raum sehr dominant. In ihrer klassischen Form hat sie zu normativer Theoriebildung in Moralphilosophie und Gerechtigkeitstheorie eine gewisse Distanz gepflegt. Rawls hat gezeigt, dass und wie sich beides verbinden lässt.
 
Zweitens ist die Theorie der Gerechtigkeit einfach ein beeindruckendes Werk. Es ist sehr systematisch aufgebaut, sprudelt nur so vor Ideen und interessanten Argumentationsfiguren. Es ist zugleich sehr informiert in der Philosophie in ihrer ganzen Breite sowie relevanten Sozialwissenschaften.
 
Drittens hat Rawls in seiner Gerechtigkeitstheorie liberales und sozialistisches Denken miteinander verbunden. Das sehen nicht alle so. Mir scheint das aber ganz klar zu sein und erheblich zu dem Erfolg beigetragen zu haben. Spätestens mit der expliziten Absage an kapitalistische Wirtschaftssysteme in Gerechtigkeit als Fairness sind die sozialistischen Anteile in Rawls auch klar sichtbar. Besonders attraktiv scheint mir daran, dass er eine Verschränkung von freiheitlichen und sozialen Rechten denkbar macht, die von liberalen Denkern wie Isaiah Berlin oder Friedrich Hayek für nicht möglich gehalten wurde.
 
Christine Chwaszcza: Der Erfolg von Rawls Theory of Justice verdankt sich drei Gründen. Der kohärenztheoretische Ansatz des „reflective equilibrium“ hat gezeigt, dass Fragen der normativ-substantiellen Ethik und der Metaethik miteinander verschränkt sind. Man denke etwa an Rawls‘ personentheoretische Kritik des Utilitarismus oder an die Rolle der eudaimonistischen Konzeption eines gelungenen Lebens für die Kritik an der Fokussierung auf individuelle und soziale „Wohlfahrtsniveaus“ als Metrik sozialer Gerechtigkeit.
 
Die Verschränkung von substantiell-normativer Ethik und Metaethik überwindet die Präokkupation der analytischen Philosophie mit der logischen Analyse moralischer Ausdrücke zugunsten eines „ordinary language approach“. Zugleich wird deutlich, dass auch substantiell-normative Fragen der Ethik rational diskutiert werden können. Der kognitivistische Anspruch kohärenztheoretischer Rechtfertigung kann zwar keineswegs alle normativen Streitfragen lösen, da „reflective equibria“ nicht unique sind, zeigt aber, dass die verbleibenden Streitpunkte nicht subjektive Dämonen (Max Weber) oder bloße Geschmacksurteile sind, sondern ebenso wie Streitpunkte in der theoretischen Philosophie und in den Einzelwissenschaften argumentativ diskutiert werden können.
 
Die Rezeption der Theory im deutschsprachigen Raum betont zwar gerne die kantianischen Wurzeln der Idee deontologischer individueller Rechte. Rawls selbst hat aber mehrfach betont, dass er diese Idee für altbekannt hält. Der Anspruch philosophischer Neuerung der Theory besteht darin zu zeigen, wie diese Idee rational begründet werden kann.
 
Der zweite Grund für Rawls‘ Erfolg liegt in der Analyse des Begriffs der Gerechtigkeit als der obersten Tugend sozialer Institutionen. Indem Rawls die Gestaltung der gesellschaftlichen Grundstruktur als den Gegenstand der Gerechtigkeit auszeichnet, situiert er die Konzeption der „justice as fairness“ in einem praktischen Kontext, dessen Binnenstruktur auch Gegenstand empirisch-deskriptiver Forschung in den Rechts- und Sozialwissenschaften ist. Die Ausführungen in Teil II der Theory sind nicht nur inhaltlich informativ und vergleichsweise konkret, sondern waren zum Zeitpunkt der Abfassung auch aktuell, praktisch relevant und wurden interdisziplinär diskutiert.
 
 
Anders als der oft technokratische Ansatz des Utilitarismus zielt Rawls‘ Analyse öffentlicher Institutionen auf die Freilegung ihrer normativen Binnenstruktur. Im Vergleich zu tugendethischen Beiträgen zur Gerechtigkeit eignet sich Rawls‘ Theory für moderne Gesellschaften. Und verglichen mit rein prozeduralen Ansätzen, wie der Diskursethik, sind seine Ausführungen substantiell gehaltvoll.
 
Die Verknüpfung normativer und empirischer Elemente wird durch den kohärenztheoretischen Rechtfertigungsansatz gestützt und ist zweifellos einer der Hauptgründe für die anhaltende interdisziplinäre Rezeption der Theory. Ungeachtet der oft zitierten Sein-Sollens-Differenz ist offensichtlich, dass normative Prinzipien nicht rein abstrakt und losgelöst von der Analyse der praktischen Konflikte beurteilt werden können, die für das soziale Zusammenleben in modernen Gesellschaften charakteristisch sind. Die Theory hat vorgeführt,wie normative und empirische Untersuchung fruchtbar miteinander verknüpft werden können.
 
Ein dritter Grund für den Erfolg der Theory besteht in der Attraktivität von Rawls' Konstruktion des kontraktualistischen Arguments und – sicherlich nicht zuletzt – in der von Rawls neu eigenführten Terminologie. Begriffe wie „original position“, „primary social goods“ oder „veil of ignorance“ sind zwar nicht unbedingt erhellender als die metaphorische Begrifflichkeit traditioneller Theorien des Sozialkontrakts, klingen aber weniger angestaubt. Nicht zufällig hat das Erscheinen der Theory hat eine ganze Serie alternativer Urzustandsszenarien inspiriert.
 
Meines Erachtens ist dieser Grund jedoch der am wenigsten interessante. Die eigentliche Rechtfertigungslast trägt das „reflective equilibrium“. Das zeigt nicht nur die Kritik von Harsanyi, Nozick und Buchanan an Rawls, sondern auch das 1999 posthum veröffentlichte „Restatement“ der „justice as fairness“, das dem kontraktualistischen Argument nur mehr die Funktion einer Darstellungsfolie zuschreibt.
 
Welchen Einfluss hat Rawls heute auf die politische Philosophie?
 
 
Christine Chwaszcza: Das philosophische Erbe von Rawls‘ Philosophie ist ambivalent. Auf der einen Seite gibt es in der Politischen Philosophie kaum einen Autor, der sich nicht affirmativ oder kritisch zu Rawls‘ positioniert. Auf der anderen Seite finden sich unter den affirmativen Positionen nur wenige Autoren, die den philosophischen und methodischen Anspruch Rawls‘ fortführen.
 
Substantiell-normativ betrachtet hat sich Rawls‘ Politischer Liberalismus nicht durchsetzen können. Der aktuelle „mainstream“ philosophischer Gerechtigkeitstheorien tendiert zu egalitaristischen und wohlfahrtsorientierten Ansätzen.
 
Methodisch sind die Grenzen des kontraktualistischen Arguments ziemlich schnell deutlich geworden. Die Konzeptionen internationaler, globaler oder kosmopolitischer Gerechtigkeit, die die Theory inspiriert hat, sind nach Rawls‘ Zurückweisung in den Oxford Amnesty Lectures ziemlich schnell zu einer menschenrechtsfundierten Argumentation übergegangen. Aus rechtfertigungstheoretischer Sicht ist es leider oft der Fall, dass sich die Argumentation mehr an der moralischen Wünschbarkeit der normativen Konsequenzen aus Sicht des Autors zu orientieren scheint als an den Standards kohärenztheoretischer Rechtfertigung.
 
Angesichts des Umstands, dass internationale Institutionen vergleichsweise rudimentär entwickelt sind und ihre Erforschung erheblich mehr spezialwissenschaftliche Kenntnisse erfordert als das Verständnis der institutionellen Grundstruktur liberal-demokratisch verfasster Rechtsstaaten, erstaunt es nicht, dass Theorien postnationaler Gerechtigkeit sich stärker an moralischen Idealen orientieren als an institutionellen Rahmenbedingungen. Das Problem moralisch anspruchsvoller normativer Utopien liegt aber, meines Erachtens, in der Ausblendung der Einsicht, dass auch eine kohärenztheoretische Rechtfertigung ein Minimum an normativem Konsens erfordert – und zwar einen substantiellen, nicht nur einen „overlapping consensus“, wie Rawls ihn in Political Liberalism verteidigt. Ein solcher Konsens kann auf internationaler Ebene nicht unterstellt werden. Daher bleibt der kognitivistische Anspruch post-Rawlsianischer Theorien globaler Gerechtigkeit uneingelöst und provoziert – vielleicht nicht ganz zu Unrecht – bisweilen den Vorwurf eines politischen Moralismus.
 
Generell ist mein Eindruck, dass die Politische Philosophie sich unter dem interdisziplinären Druck postmoderner, postmarxistischer, identitätstheoretischer und anderer anti-liberaler Theoriepositionen zunehmend re-ideologisiert. Die Situation mag im deutschsprachigen Raum vielleicht weniger weit fortgeschritten sein als in den USA oder Großbritannien. Aber die Bewertung philosophischer Ansätze und Position unter Gesichtspunkten der „political correctness“ und des „virtue-signaling“ – im Gegensatz zu Standards rationaler Rechtfertigung – findet man auch im deutschsprachigen akademischen Raum.
 
Stefan Gosepath: Die Rawlssche Theorie stellt in der Politischen Philosophie der anglo-europäischen Länder das dominante Paradigma da. Selbst wer nicht in diesem Theorie-rahmen philosophieren will, muss zunächst die Abgrenzung von dem Paradigma benennen und begründen. Der inhaltliche Einfluss beruht im Wesentlichen darin, politische Philosophie als Gerechtigkeitstheorie zu betreiben. Politik und politische Institutionen werden als etwas nach Normen und Werten von Menschen zu Gestaltendes aufgefasst, nicht als durch bloße Macht oder Strukturen vollkommen Beherrschtes. Dabei sind die Ideale der individuellen Autonomie und gesellschaftlichen Gerechtigkeit zentral. Ziel der politischen Philosophie ist das Auffinden von allgemein geteilten Prinzipien, die die Gesellschaft als ein faires System der Kooperation regeln. Es gilt zu klären, wie das Ideal einer ‚wohlgeordneten Gesellschaft‘ verwirklicht werden kann. Das erscheint den Opponenten dieser Richtung zu idealistisch und zu normativ.
 
Christian Neuhäuser: Rawls ist nach wie vor der zentrale Referenzpunkt politischer Philosophie. Viele politische Philosoph*innen arbeiten mehr oder weniger in seinem Theorierahmen. Es gibt natürlich auch freundliche Kritiker*innen, wie beispielsweise Martha Nussbaum oder Amartya Sen, und feindliche Kritiker*innen wie etwa Raymond Geuss. Sie alle beziehen sich aber auf ihn.
 
Trotz aller Sympathie für die Leistung von Rawls tut der politischen Philosophie diese Art von „Mainstreaming“ nicht nur gut. Philosophie lebt von der Vielstimmigkeit, und insbesondere praktische Philosophie soll die Belange aller Menschen im Blick haben, was nur durch einen möglichst breiten Diskurs erreicht werden kann.
 
Frische Impulse für die politische Philosophie kommen sicherlich aus der Sozialphilosophie und dem Feminismus, zwei wichtige Bereiche, zu denen Rawls nicht so viel zu sagen hatte. Das liegt wohl daran, dass er eher ideale Theorie betrieben und nach grundlegenden Gerechtigkeitsprinzipien gesucht hat.
 
Das ist ein wichtiger Baustein politischer Philosophie, aber sie muss zugleich auch nichtideal und realistisch sein. Politische Philosophie sollte sich also mit der Frage beschäftigen, wie bestehende Strukturen und Institutionen besser und insbesondere gerechter gemacht werden können. Und sie sollte die Tatsache berücksichtigen, dass es ungleiche Machtverhältnisse und egoistische Interessen gibt, die einer strukturellen Verbesserung in Gerechtigkeitsfragen entgegenstehen.
 
Die politische Philosophie von Rawls ist mit dieser Perspektiverweiterung vereinbar, sie trägt selbst jedoch nur wenig dazu bei.
 
Welchen Stellenwert hat die politische Philosophie heute innerhalb der deutschsprachigen universitären Philosophie?
 
Christian Neuhäuser: Vor einigen Jahren wäre die Antwort wohl noch gewesen, dass es um die politische Philosophie recht schlecht steht. Insbesondere seit den neunziger Jahren wurden viele Lehrstühle in der praktischen Philosophie mit einem Schwerpunkt in der angewandten Ethik besetzt. Da es insgesamt nicht mehr Lehrstühle gab, kam es also zu einem Verdrängungswettbewerb.
 
Ein Effekt davon war es sicherlich auch, politische Philosophie als angewandte Ethik, also politische Ethik, zu begreifen. Selbst die Arbeiten von Rawls wurden so gedeutet, was jedoch sicherlich nicht seinem Selbstverständnis entspricht und auch keiner genaueren Analyse standhält. Politische Ethik ist vielleicht ein Teil der politischen Philosophie, aber sie lässt sich darauf nicht reduzieren. Fragen der Macht, des politischen Konflikts, politischer Bewegungen, der Reform und der Revolution beispielsweise sind nicht einfach nur Fragen der Ethik. Ohnehin gibt es innerhalb der politischen Philosophie natürlich Positionen, die Moral und Ethik eher als Ausdruck politischer Verhältnisse begreifen und nicht umgekehrt.
 
Inzwischen hat sich die Lage ohnehin auch schon wieder ein wenig gewandelt. Es werden wieder mehr Professuren für politische Philosophie ausgeschrieben. Wahrscheinlich trägt die zunehmende Instabilität liberaler Rechtsstaaten dazu bei, die Notwendigkeit dieser Forschung anzuerkennen.
 
Ein bleibendes Problem besteht jedoch darin, dass die Vermittlung zwischen einer dominant analytischen theoretischen Philosophie und der politischen Philosophie nicht immer ganz leicht ist. Aufgrund ihres sehr fluiden und durch Theorie selbst stark beeinflussten Gegenstandbereichs, muss sich politische Philosophie eines breiten Spektrums an Methoden bedienen. Analytische Methoden gehören dazu, aber sind nur ein Teil des Portfolios. Kritische, hermeneutische, interpretative, phänomenologische, ja selbst narrative Methoden sind ebenso gefragt.
 
Stefan Gosepath: Es gibt es m. W. nur eine Professur in Deutschland, die ausschließlich die Denomination Politische Philosophie hat, nämlich die an der LMU München. In den meisten anderen Instituten hingegen lautet die Denomination allgemein ‚Praktische Philosophie‘, wozu dann politische Philosophie zählt. Dann hängt es sehr von der Besetzung der Professur ab, ob politische Philosophie betrieben wird. Das sind nicht zu viele. Man darf man jedoch nicht vernachlässigen, dass es bei der Politikwissenschaft im Regelfall eine Professur gibt, zu deren Aufgabenfeld Politische Theorie gehört. Da viele Vertreter*innen Politische Theorie auch normativ verstehen, sind die Grenzen zwischen Politischer Philosophie und Politischer Theorie durchlässig und fließend. Das Interesse an normativer politischer Theorie und Philosophie ist bei den Studierenden und der Öffentlichkeit sehr groß.
 
Sehen Sie interessante Weiterentwicklungen des Liberalismus à la Rawls, mit denen sich eine Beschäftigung lohnte?
 
Christian Neuhäuser: Vor einiger Zeit hätte ich eher gedacht, dass es besser sei, politische Philosophie jenseits von Rawls zu betreiben, weil er sie allzu lange allzu stark dominiert hat. Inzwischen gibt es jedoch wieder eine größere Vielstimmigkeit, so dass auch neue Perspektiven auf Rawls und seine sozialliberale Position ein willkommener Beitrag zum Diskurs der politischen Philosoph*innen sein kann.
 
Aus meiner Sicht sind es zwei Aspekte der von Rawls inspirierten Gerechtigkeitstheorie, die besonders interessant sind und es verdienen, weiterverfolgt zu werden. Das sind erstens die Rolle der Selbstachtung und zweitens die Frage nach einem gerechten Wirtschaftssystem. Beide Punkte erfahren gerade in der deutschsprachigen Rezeption nicht die ihnen angemessene Aufmerksamkeit.
 
Erstens ist Selbstachtung für Rawls das wahrscheinlich wichtigste Grundgut. Sie ist nötig für ein gesundes Selbstvertrauen, um die eigene Lebenspläne selbstbewusst verfolgen zu können. Hier zeigt sich, dass die Philosophie von Rawls die Aufgabe des Staates darin sieht, die institutionellen Grundlagen für diese Selbstachtung herzustellen und nicht nur negative Freiheit zu sichern. Die Gerechtigkeitsprinzipien von Rawls lassen sich als Mechanismen zur Sicherung der Selbstachtung verstehen. Nur in einer gerechten Gesellschaft, so seine Idee, können alle Menschen in Selbstachtung leben. Zugleich lässt sich kritisch rückfragen, ob dafür die von ihm aufgestellten Prinzipien ausreichen. Außerdem besitzt dieser Ansatz das Potential, die gegenwärtige Krise liberaler Rechtsstaaten besser zu verstehen, die dann auf die verletzte Selbstachtung politischer Gegner zurückzuführen wäre.
 
Zweitens sind Gesellschaften mit kapitalistischen Wirtschaftssystemen für Rawls ungerecht. Das macht er in Gerechtigkeit als Fairness ganz deutlich und lehnt damit alle prokapitalistischen, selbst auf die soziale Marktwirtschaft ausgerichteten, Interpretationen seiner Gerechtigkeitstheorie ab. Eine gerechte Gesellschaft ist ihm zufolge entweder mit einer egalitären Eigentumsdemokratie, also einer relativen Gleichverteilung des Produktionskapitals, oder mit einem Marktsozialismus verbunden. Hier zeigt sich, dass die Theorie von Rawls radikaler und systemkritischer ist, als häufig angenommen wird. Denn beide alternativen Wirtschaftssysteme setzen eine massive Beschränkung von Reichtum voraus.
 
Stefan Gosepath: Angefangen von der Grundstruktur einer Gesellschaft ist das Theorieprogramm erst zur internationalen und transnationalen Ebene übergegangen und nun zu strukturellen Phänomenen der Ungerechtigkeit. Letzteres beleuchtet das Verhältnis von individueller Verantwortung für gesamtgesellschaftliche Phänomene. Während es lange um den Stellenwert der Gleichheit ging, drängen sich jetzt Fragen nach der Freiheit und der Demokratie stärker in den Vordergrund. Das ist sicher der weltweiten politischen Auseinandersetzung in den letzten Jahren um den Liberalismus als politisches Model geschuldet.
 
Der Liberalismus à la Rawls muss in dieser Zeit daher politischer werden und nicht nur scheinbar wie beim Erscheinen von Einer Theorie der Gerechtigkeit nachholend für den demokratischen Wohlfahrtsstaat in seiner Blüte eine philosophische Rechtfertigung geben.
 
Es scheint, der Liberalismus habe an den philosophischen Seminaren andere Richtungen verdrängt und sei nun dominant. Ist das so?
 
Christian Neuhäuser: Das war lange so, und es gibt immer noch einen gewissen Bias in diese Richtung. Aber aus meiner Sicht besteht Hoffnung, dass dies aufbricht. Die interessantesten Arbeiten stammen von oft jüngeren Kolleg*innen, die analytisch und liberal geprägte Gerechtigkeitstheorie mit anderen Ansätzen aus der kritischen Theorie, dem Poststrukturalismus oder dem Marxismus und feministischen Perspektiven verbinden. Es kann gut sein, dass sich diese vielseitigeren Ansätze durchsetzen. Auch weil sie inzwischen als Journalpublikationen, der gegenwärtige Goldstandard für Karriereschritte, gute Chancen haben.
 
Jetzt sollte diese Perspektive noch auf eine globale Philosophie ausgeweitet, also der fast ausschließliche Fokus auf das angelsächsische Ausland aufgegeben werden. Ein offener und anhaltender Diskurs mit Philosoph*innen beispielsweise aus Afrika, Ostasien und Südamerika kann nur dazu beitragen, der politischen Philosophie ihre kritische Stimme als gesellschaftspolitisch relevante Macht zurückzugeben. Diesen Stellenwert hat sie nämlich aufgrund ihrer Reduktion auf hochspezialisierte Fachdebatten in mikroskopisch kleinen Zirkeln leider verloren. An dieser Entwicklung war Rawls sicherlich nicht ganz unschuldig, wenn wahrscheinlich auch ungewollt. Da seine politische Philosophie weltweit diskutiert wird, kann sein Erbe jetzt aber gut zu einer neu ausgerichteten globalen und politisch relevanten Philosophie beitragen.
 
Christine Chwaszcza: Ich habe zwar keine Erhebung unter philosophischen Seminaren durchgeführt, aber ich teile diese Ansicht ganz und gar nicht. Ich tendiere zu der Ansicht, dass in der politischen Philosophie in Deutschland die Diskursethik nach wie vor eine starke Position einnimmt und dass analytische Ansätze primär in re-kantianisierter (oder re-hegelianisierter) Interpretation vertreten werden.
 
Stefan Gosepath: Es gibt auf der einen Seite Theorien, wie u. a. die Habermas’sche Gesellschaftstheorie und die heute sehr beliebte Nicht-Beherrschungstheorie die das Rawls’-sche Paradigma sinnvoll erweitern. Auf der anderen Seite bleiben Kritische Theorie, Foucault, Post-Strukturalismus und inzwischen wieder Marxismus weiterhin wichtige Theoriealternativen. Zudem beobachte ich ein Ermüden des Rawls’schen Paradigmas
 
Das hat m. E. drei Gründe: Zum einen haben sich die politischen Zeiten seit Rawls so verändert, dass der Liberalismus nicht nur politisch durch autoritäre und populistische Strömungen, sondern auch theoretisch angefochten wird. Zum anderen ist Rawls und sein Werk inzwischen zum philosophischen Klassiker aufgestiegen und zugleich damit ins Archiv eingerückt, so dass er entsprechend philosophiehistorisch kritisch beforscht werden kann, was ihm seine Aktualität zu nehmen scheint. Zum dritten haben jüngere Generationen scheinbar nur die Chance Detailfragen in einem gut etablierten Paradigma zu beforschen. Große neue Perspektiven scheinen ihnen innerhalb dieses Paradigmas nicht mehr absehbar. Deshalb wenden sie sich neuen Themen und methodischen Ansätzen zu.
 
Welches sind die wichtigsten Argumente gegen den politischen Liberalismus?
 
Elif Özmen: Eine Anatomie des Antiliberalismus würde wohl mehrere Bände füllen. Gerade in den letzten Jahren hat sich „der“ Liberalismus zu einem schrillen Feindbild verschiedenster Parteiungen und politischer Bewegungen entwickelt. Daher möchte ich die Frage mit Bezug auf zwei Kritiken beantworten, die auf charakteristische liberale Eigenschaften und Erwartungen zielen und daher auch die Herzblut-Liberale herausfordern.
 
Das ist zum einen die liberale Sozialontologie, die manche als „atomistisch“ kritisieren, da sie die soziale Natur des Menschen marginalisiere zugunsten eines „possessiven“ Individualismus, entgrenzter Freiheitsrechte und eines funktionalistischen Gemeinschaftsverständnisses. Hier gilt es die Gründe für den liberalen Vorrang des Individuums, des Rechts und der Gesellschaft vor kommunitären und kollektiven Bindungen und Ansprüchen zu erhellen. Das ist kein bloß akademisches Projekt. Vielmehr birgt das faktische Erstarken identitätsbezogener, z. B. kultureller, pseudo-religiöser oder ethnisch-nationalistischer Narrative in der Politik eine Aufforderung, das trio liberale von Individualismus, Freiheit und Gleichheit noch einmal zu reflektieren. Und zwar mit Bezug auf die Voraussetzungen, auf die die freiheitliche Demokratie angewiesen ist und die sie auch garantieren kann.
 
Der zweite Einwand zielt auf den ökonomistischen Ruch, der auch dem politischen Liberalismus anhafte. Die Ausweitung des Modells ökonomischer Rationalität unterwerfe die Gesellschaft im Ganzen den „liberalen“ Prinzipien des Wettbewerbs, der Konkurrenz und Leistung. Eine solche Entwicklung und der mit ihr einhergehende Verlust an sozialem Gerechtigkeitssinn wäre tatsächlich als eine Verkümmerung des Liberalismus zu einem – in politischer, moralischer, epistemischer und auch ökonomischer Hinsicht besonders naiven – „Kapitalliberalismus“ zu bewerten. Es stellt sich daher die Frage, welche Ökonomie (auch: Eigentums-, Arbeits- und Wohlstandstheorie) geeignet ist, die liberalen Hoffnungen in Bezug auf den individuellen Wert der Freiheit, einen freien Wettbewerb der Ideen, auf gesellschaftlichen Fortschritt und auch auf materielle Prosperität zu erfüllen. Sicher ist jedenfalls: nicht die sogenannte „neoliberale“.
 
Veronique Zanetti: Liberale Demokratien beruhen auf der Anerkennung von Freiheit und Gleichheit ihrer Bürger und sind pluralistisch. Liberale Theorien gehen aber unterschiedliche Wege, sobald sie sich mit dem Faktum des Pluralismus theoretisch auseinandersetzen.
 
Nach Ansicht der Pluralisten gibt es kein höchstes Gut, und die Idee einer Höherbewertung einiger Güter über andere hilft, wenn überhaupt, nur innerhalb einer einzelnen   Theorie. Das hat zur Folge, dass in einigen Fällen Werte, Güter oder Prinzipien nicht ge-geneinander abgewogen werden können. Geraten diese dann in Konflikt, mag unter Umständen ein unabhängiges Prinzip fehlen, mit dessen Hilfe der Konflikt auf eine für alle zufriedenstellende Weise gelöst werden kann.
 
Rawls ist sich dessen durchaus bewusst. Zwar verfolgt er eine politische Konzeption, die sich von Ideologien und metaphysischem Ballast möglichst freihält, um von allen Bürgern anerkannt werden zu können. Dennoch bleibt er bei seiner Grundüberzeugung, dass vernünftige Bürger, weil sie in einer Gesellschaft leben wollen, in der sie mit ihren Mitbürgern zu Bedingungen kooperieren können, die für alle akzeptabel sind, sich auf die fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit einigen werden. Trotz seines Pluralismus setzt er also auf einen ‚überlappenden Konsens‘.
 
Was ist aber zu tun, wenn diese Hoffnung nur in der „idealen Theorie“ gedeiht, in der nicht-idealen Welt aber keinen Rückhalt findet? Die Frage stellt sich nicht nur im, Blick auf die Empirie; sie ergibt sich aus der Theorie selbst: Denn bei Rawls gehen Prinzipienfundamentalismus und Pluralismus eine spannungsvolle Verbindung ein. Wenn Streit darüber aufkommt, an welche Gerechtigkeitskonzeption wir uns halten sollen, haben wir keinen gemeinschaftlich anerkannten Wert, der Orientierung verschafft. Die Beschwörung eines höheren Prinzips bedeutet dann, sich über die Meinung der Andersdenkenden hinwegzusetzen und eine der konkurrierenden Positionen zu privilegieren.
 
Wo immer ein Konsens sich nicht erreichen lässt, nur ein modus vivendi, sind Alternativen zur ultimativen Einigung der Streitenden gefragt. So empfehlen sich etwa Kompromisse als demokratisches Verhandlungsinstrument. Sie versprechen eine gerechtere Lösung, als die Formel „the winner takes all“ in Aussicht stellt.
 
Rawls behandelt den modus vivendi und den Kompromiss abschätzig. Aus seiner Sicht sind Kompromisse notgedrungene Zugeständnisse zwischen souveränen Partnern, deren jeder eigentlich nur auf den eigenen Vorteil aus ist. Von Kompromissen sei keine langfristige Verpflichtung und keine Loyalität gegenüber Rechtsverhältnissen zu erwarten, weil die Präferenzen der Partner von ihnen unberührt bleiben. Das scheint mir zu kurz gegriffen. Kompromisse mögen tendenziell instabil sein, weil man dazu neigt, sie bei wechselnden Konstellationen neu zu verhandeln. Man darf jedoch ihre tatsächliche Stabilität nicht unterschätzen. Man denke an die Schweiz. Wenn sich dort eine politische Disziplin zur Kunstform gesteigert hat, so ist es die Kompromissfindung. In der Schweiz werden die Entscheidungen des Bundesrats vom Kollegium gemeinsam getroffen. Das hat zur Folge, dass die Regierung ständig, weil grundsätzlich zu Kompromisshandlungen gezwungen ist. Über allen ihren Entscheidungen schwebt das Damoklesschwert der Referendumsdrohung, was – im Gegensatz zu Ländern mit repräsentativer Demokratie – stets am Durchregieren verhindert. Und doch sind erstaunliche Entscheidungen rechtskräftig geworden.
 
Der philosophische Liberalismus ist auf den Begriff der Gerechtigkeit fokussiert. Kommen dadurch in der gegenwärtigen Philosophie der Politik andere Themen zu kurz?
 
Veronique Zanetti: Wo immer wir uns auf ein Ideal der Gerechtigkeit nicht einigen können, sollten wir uns damit bescheiden, in Frieden zu leben. Ein gesellschaftliches Leben ohne gewalttätige Konflikte stellt ein von aller Welt begehrtes Gut dar. Damit darf natürlich nicht gemeint sein, dass der Friede an die Stelle eines „höchsten Guts“ und des Ideals der Gerechtigkeit tritt. Der gesellschaftliche Friede hat eine instrumentelle Funktion; er ist wünschenswert, einfach deshalb, weil er die Fortführung des Lebens und die Verwirklichung weiterer Güter möglich macht.
 
Elif Özmen: Die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls hat der politischen Philosophie im Ganzen und dem Liberalismus im Besonderen zu einer bemerkenswerten Renaissance verholfen, die bis heute andauert. Ein Grund dafür liegt in der Fokussierung auf Gerechtigkeit als normatives Leitkonzept, das das altbekannte begriffliche Spektrum des Liberalismus – Freiheit, Gleichheit, individuelle Rechte, Wohlfahrt, Toleranz – integriert, aber auch erweitert. Es ist doch eine geradezu brillante Idee von Rawls, den Liberalismus unter den leitenden Begriff einer fast zweieinhalbtausendjährigen politischen Ideengeschichte zu stellen!
 
Folgerichtig beginnt die Theorie mit der Feststellung, dass Gerechtigkeit „die erste Tugend sozialer Institutionen“ darstellt und sich deren Legitimität kompromisslos an diesem normativen Ideal zu erweisen habe. Dabei wird Gerechtigkeit liberal austariert und konsequent als epistemisch und ethisch „dünner“ Begriff verhandelt. Das bedeutet aber, dass es im Gerechtigkeitsliberalismus weder um die ideale gerechte Ordnung noch um das gute Leben, auch nicht um moralische Gerechtigkeit gehen kann. Eben diese Themen, die manche gerne innerhalb der politischen Philosophie verhandelt sehen wollen, kommen also gewissermaßen zu kurz. Allerdings nicht, weil sie nicht wichtig wären, sondern weil sie als zu wichtig und eigenständig gelten, um sie mit den Mitteln liberaler Demokratien zu normieren, d. h. unter den Zwang von Gesetzen zu stellen. Dieser beschränkte Begriff von Gerechtigkeit ist also eine Konsequenz des liberalen Politik-Verständnisses, demzufolge staatliche Gewalt als kleineres und notwendiges Übel legitimiert werden kann, aber nur insofern die verbleibenden individuellen Freiheitsräume möglichst groß gehalten werden. Diese Beschränkung oder eben auch Verkür-zung macht für mich die normative Attraktivität des politischen Liberalismus aus.
 
Ist der politische Liberalismus dazu geeignet, der Politik Antworten auf die Frage nach dem Umgang mit dem Klimawandel zu geben oder dem Verhalten in der Corona-Krise zu geben?
 
Elif Özmen: Liberalismus, so wie ich ihn verstehe, meint eine Verfassung der Freiheit, die mit bestimmten Normen und Institutionen der Rechtsstaatlichkeit, der Menschen- und Bürgerrechte, des Konstitutionalismus und Parlamentarismus einhergeht. Er bietet daher bestenfalls einen groben grundrechtlichen und gerechtigkeitsbezogenen Rahmen für die Behandlung so komplexer multidisziplinärer Problemlagen wie den Klimawandel oder die Corona-Pandemie.
 
Aber eigentlich finde ich die Frage falsch gestellt bzw. von überhöhten Erwartungen an die Philosophie getragen. Welche politikphilosophische Großtheorie ist schon geeignet, der Politik „Antworten zu geben“ auf (welche?) Fragen, die aus diesen konkreten, aber globalen und beharrlichen Krisensituationen entstehen? Nicht zuletzt, da ein Teil dieser Krisen durch epistemische Unsicherheiten verursacht wird, etwa die Unsicherheit, die (nur u. a. politisch) relevanten Phänomene überhaupt zu erfassen, alternative und reali-stische Handlungsmöglichkeiten zu formulieren und deren Konsequenzen zu prognostizieren, um sie schlussendlich zu evaluieren und gegebenenfalls Empfehlungen auszusprechen.
 
Auch wenn die politische Philosophie nur eine kleine Rolle in der Politikberatung spielen kann, vermag sie (und natürlich auch der politische Liberalismus) an den gesellschaftlichen Diskussionen und öffentlichen Meinungsbildungen mitzuwirken, die gerade diese beiden Themen begleiten. Beispielsweise finden sich in der sog. Querdenker-Bewegung Argumentationsweisen, die sich an liberalen Topoi zu orientieren scheinen, etwa der Vorstellung von individuellen Freiheitsrechten als normativen Trümpfen gegen die faktische Macht von kollektiven Zielsetzungen. Da wird das Verweigern des Tragens von Alltagsmasken zu einem Akt freiheitlichen Widerstandes gegen die Tyrannei des Staates stilisiert. Der politische Liberalismus kann dieses Freiheitsverständnis enttarnen, indem er auf die sozialen, politischen, rechtlichen und moralischen Kontexte individueller Freiheit erinnert, also z.B. an die Grenzen der eigenen Freiheitsausübung in den Freiheiten Dritter, das Nichtschädigungsgebot, die notwendige Abwägung von kollidierenden Freiheitsrechten und natürlich auch an die Freiheit, das Vernünftige zu tun.
 
Veronique Zanetti: Der politische Liberalismus ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als andere Theorien in der Lage, konkrete Probleme wie den Umgang mit dem Klimawandel oder einer Pandemie zu lösen. Sein Instrument ist die Anerkennung der Menschenrechte, allen voran der Freiheitsrechte. Aus Sicht einer liberalen Theorie gilt, dass gesetzlicher Zwang dann gerechtfertigt ist, wenn die erhofften Vorteile bezüglich des öffentlichen Guts die Nachteile auf Seiten des verletzen Rechtes überwiegen. Die größte Schwierigkeit liegt darin, die richtige Abwägung zwischen Gütern zu finden, die gleichermaßen zu den Grundgütern gehören.
 
Der Umgang mit dem Klimawandel oder mit der Corona-Pandemie haben dies gemein, dass individuelle Freiheiten bei der Verwirklichung von selbstgesetzten Zielen eine radikale Einschränkung erfahren müssen, damit kollektive Ziele durchgesetzt werden können (Reduktion der CO2-Emission, Drosselung der Infektionskurve und Schutz der Personen, die zur Risikogruppe gehören). Nun ist der Klimawandel Menschen-gemacht, wie die Wissenschaft uns fast einhellig bestätigt (aus Platzgründen werde ich mich auf den Umgang mit dem Klimawandel beschränken). Darum stellen Maßnahmen der Minderung von Kohlendioxid-Emissionen einen genuinen Grund für einschränkende Einmischung in die Selbstbestimmung der individuellen Lebensziele dar. Eine Erhöhung der Erdtemperatur hätte tatsächlich eine verheerende Auswirkung weltweit auf Grundgüter wie Zugang zu natürlichen Ressourcen, Nahrungsmitteln und Lebensraum. Die zulässigen Emissionen werden zu einem knappen Gut.
 
Aus Sicht einer Gerechtigkeitstheorie folgt daraus, dass die Emissionsrechte weltweit gerecht verteilt werden müssen. Dass das Problem eine globale Dimension hat, weil es potentiell alle Menschen auf dem Planeten und auch die künftigen Generationen betrifft, ist eine Prämisse, die der politische Liberalismus zur Kenntnis zu nehmen hat. Der Klimawandel, so denken einige Theoretiker, gefährdet mindestens drei zentrale Menschenrechte: das Menschenrecht auf Leben, auf Gesundheit und auf Subsistenz. Wenn wir nichts tun, um den Anstieg der Produktion von Treibhausgasen zu verhindern und den armen Ländern dabei zu helfen, mit den Auswirkungen der globalen Erwärmung fertig zu werden, können wir zu Recht wegen Verletzung der Menschenrechte angeklagt werden.
 
Damit bleiben allerdings sehr viele Fragen offen, für die eine normative liberale Theorie keine Rezepte in der Tasche hat. Inwieweit zum Beispiel spielt die kausale Verantwortung für historische Emissionen eine normative Rolle? Die Gerechtigkeitstheorie befasst sich mit der fairen Verteilung der Gewinne und der Lasten der Kooperation. Nun ist der Klimawandel weitestgehend durch Handlungen verursacht, für die die Industrienationen verantwortlich sind. In diesem Fall entspringen aus der Kooperation keine gemeinsamen Güter, die gerecht umverteilt werden könnten und sollten, sondern nur die Kosten für die Reduktion der Emissionsproduktion, und diese sollten von denen, die sie produziert haben, im Verhältnis zur produzierten Menge bezahlt werden. Wir hätten demnach einen klaren Fall von ausgleichender Gerechtigkeit, keinen Fall von Verteilungsgerechtigkeit. Inwiefern bleibt es jeder Gesellschaft vorbehalten, eigenverantwortlich ihre eigenen Maßnahmen zur Verwirklichung der Klimaziele zu setzen? Sollen angesichts der Dringlichkeit und der Dimension der Aufgabe nicht vielmehr pragmatische und effizienzorientierte als Gerechtigkeits-Lösungen vorgezogen werden, die einzelne Staaten verhältnismäßig viel stärker in die Pflicht nehmen als andere, weil sie reicher sind?
 
Andere, nicht minder grundsätzliche Fragen betreffen die Konkretisierung der Ziele und die notwendige Abwägung zwischen den Grundgütern. Wie stark dürfen Gesetze die Gestaltung des individuellen Lebens bestimmen und beeinträchtigen, die Wirtschaft zügeln, Eigentum einschränken? Der Prozess der Abwägung bzw. die Berücksichtigung von Verhältnismäßigkeit, um herauszufinden, ob Zwangsmaßnahmen durch die staatliche Gesetzgebung gerechtfertigt sind, – dieser Prozess gehört zum klassischen Geschäft der Politik. Parteipolitische und mehrheitliche Interessen müssen berücksichtigt werden, damit stabile Verhältnisse und der soziale Friede bewahrt werden. Kompromisse werden gemacht: der politische Alltag beginnt.
 
Wie sehen Sie die Behandlung des Themas Migration innerhalb des Liberalismus?
 
Christine Chwaszcza: Wenn man „Liberalismus“ mit der substantiell-moralischen These identifiziert, dass Personen die Freiheit haben sollen, ihre gerechtfertigten Interessen in dem Maße frei verfolgen zu können, in dem dies damit vereinbar ist, dass allen Personen gleiche Freiheiten zugestanden werden und in dem eine sozialverträgliche Wahrnehmung dieser Freiheit möglich ist, dann sehe ich nicht, wie man die Option von Migration aus liberaler Perspektive grundsätzlich ablehnen kann.
 
Die normative Crux der Problematik liegt angesichts gegenwärtiger Phänomene ökonomisch motivierter Massenmigration darin zu bestimmen, wie gerechtfertigte Interessen potentieller Migranten mit ebenfalls gerechtfertigten Interessen aller anderen betroffenen Parteien zu bewerten und gewichten sind. Da Migration – sei sie freiwillig oder unfreiwillig – ein transnationales Phänomen darstellt, geht es bei den Parteien nicht nur um individuelle Personen, sondern auch um den normativen Status gesellschaftlicher Assoziationen, das (völkerrechtliche) Recht auf kollektive Selbstbestimmung und den normativen Stellenwert demokratischer Selbstbestimmung – und zwar sowohl auf Seiten der Aufnahmegesellschaften als auch der Entsendegesellschaften.
 
Das ist eine sehr komplexe Problemlage. Hinzukommt, dass eine normative Bewertung der sich aus Migration ergebenden Probleme eine einigermaßen verlässliche Einschätzung der sozialen, ökonomischen und politischen Auswirkungen verlangt, die von empirisch-kontingenten Faktoren abhängen (u.a. der Zahl der Migranten, den Ursachen der Migration, der Gestaltung der Immigrationspolitik, etc.) und sich schwer generalisieren lassen. Der Kontrast von "open borders" versus „closed Borders“ ist daher ein offensichtlich falscher Kontrast.
 
Persönlich denke ich, dass eine Auffassung der Gerechtigkeit als oberster Tugend politischer Institutionen zumindest fruchtbare Ansatzpunkte für eine Ethik der Migration – auch unter Bedingungen ökonomisch motivierter Massenmigration – bietet, wenn der transnationale Charakter der Migrationsthematik adäquat erfasst wird. Das ist durchaus möglich, wenn man die sozialphilosophischen Implikationen normativer Alternativen auslotet. Mir ist aber derzeit kein Ansatz bekannt, der dies in überzeugender Weise tut. Zwischen den Positionen David Millers und Joseph Carens' lässt sich eine Vielzahl normativer Alternativen denken.
 
Elif Özmen: Die politische Philosophie im Ganzen hat sich die längere Zeit ihrer Geschichte mit Themen zwischenstaatlicher Politik schwergetan. Aber gerade liberale Autoren, wie John Locke oder Immanuel Kant, bilden eine Ausnahme von dieser Regel der Marginalisierung. Die jüngere philosophische Debatte um Migration ist seit ihren Anfängen in den 1980er Jahren ohnehin durch liberale Normen und Argumentationsfiguren geprägt, wie z.B. menschenrechtlichen Freiheiten und Schutzansprüchen, der Konventionalität von Grenzen, einem formalen Volks- und Staatsbürgerschaftsverständnis. Hingegen muten die Bemerkungen von John Rawls zu diesem Thema bestürzend schlicht an, ja eigentlich blind gegenüber den Fakten der politischen Verfolgung in (wie er sie nennt) „Schurkenstaaten“, den historischen Gründen für ungleiche und ungerechte Ressourcenverteilungen und den individuell unverschuldeten Anlässen erzwungener Migration.
 
Veronique Zanetti: Ich möchte die letzten beiden Fragen zusammen behandeln, weil meine Antwort auf die erste einen Hinweis auf die Art und Weise gibt, wie ich die zweite beantworten will.
 
Die politische Philosophie, die sich in der liberalen Tradition bewegt, behandelt die Migrationsfrage vor dem Hintergrund fundamentaler ethischer Fragen. Es geht grundsätzlich darum, ob Menschen überhaupt über ein (gleichermaßen starkes) Recht auf Aus- und Einwanderung verfügen, ob und unter welchen Bedingungen die Schließung der Staatsgrenzen ethisch begründet ist, und gegebenenfalls, ob Staaten Kompensationspflichten haben, wenn sie ihre Grenze schließen.
 
Es lässt sich absehen, dass die Antworten weit auseinandergehen. Daran ist problematisch, dass sie gleichwohl allesamt von theoretischen Annahmen ausgehen, die ihre Grundlage im politischen Liberalismus haben.
Aus kosmopolitischer Sicht gehören Landesgrenzen zu den Zufallsfaktoren des Lebens, und die Beweislast für eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit jedes Individuums liegt auf dem Terrain der Legitimierung der Staaten und des Völkerrechts mit seiner Souveränitätsbestimmung. Auf der Gegenseite gehen Kommunitaristen vom Recht auf kollektive Selbstbestimmung aus und argumentieren zugunsten des Rechts der Gemeinschaften, ihre Sprache, Geschichte und kulturellen Werte zu verteidigen. Die Aufmerksamkeit richtet sich folglich auf die negativen Folgen der individuellen Freiheitsausübung für eine Gemeinschaft, sowohl beim uneingeschränkten Austritt (‚brain drain‘) der Person aus der bzw. bei ihrem Eintritt in die Gruppe. Je nachdem, von welcher normativen Prämisse die Theorie ausgeht: vom Universalismus der individuellen Rechte auf Freiheit, auf Leben und Autonomie, von der utilitaristischen Verpflichtung, das Interesse aller Personen gleichwertig zu berücksichtigen, vom Partikularismus des Rechts auf kollektive Selbstbestimmung, oder von der demokratietheoretischen Rechtfertigung souveräner Staaten, folgen unterschiedliche normative Konsequenzen und Empfehlungen, alle jedoch in Übereinstimmung mit liberalen Grundsätzen. Das Dickicht der liberalen Theoriefamilie lie-fert keine zufriedenstellenden Antworten auf konkrete Fragen, die sich in dem Hier und Jetzt politischer Entscheidungen stellen.
 
Soll man daraus mit Honneth den Schluss ziehen, dass die politische Philosophie einem Irrweg gefolgt ist, solange sie sich mit Fragen der Normativität auf Kosten empirisch fundierter Gesellschaftsanalyse beschäftigt hat? Ich denke nicht. Normative Ansätze sind unerlässlich, weil sie Leitlinien bei der Bestimmung dessen geben, was für Argumente zugelassen sind und warum sie es sind. Sie sind allerdings unzureichend bei der Spezifizierung gut balancierter Abwägungen für einzelne Entscheidungen. Damit ausgewogene und gut informierte Entscheidungen getroffen werden, müssen allerlei empirische Daten zu kurz- und langfristigen Kosten und Gewinn für alle Betroffenen, aber auch zum psychologischen Stimmungsbild innerhalb einer Par-teienlandschaft und in der Bevölkerung des Aufnahmelands zu Rate gezogen werden. Dafür brauchen politische Philosophen die Unterstützung von anderen Fächern, allen voran von den Soziologen oder Politologen.
 
Axel Honneth hat kritisiert, die politische Philosophie sei einem Irrweg gefolgt, sich auf Kosten einer empirisch fundierten Gesellschaftsanalyse mit Fragen der Normativität zu beschäftigen. Was sagen Sie dazu?
 
Elif Özmen: Etwas frech könnte man darauf verweisen, dass nicht wenige meinen, dass sich der Anspruch der Frankfurter Schule, eine empirisch fundierte Gesellschaftsanalyse in kritisch-emanzipatorischer Hinsicht vorzulegen, bei gründlicher philosophischer Analyse regelmäßig „verflüssige“ und sich daher als Irrweg erweise. Aber so richtig ernst nehmen könnte man eine solche Bewertung doch auch nicht, wenn man sich vor Augen führt, wie ungemein konstruktiv, international einflussreich und streitbar diese Schule seit fast einem Jahrhundert in und außerhalb der akademischen Philosophie wirkt.
 
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem normativen Liberalismus. Es mag gute und schlechte Gründe für und gegen ihn geben. Seine Relevanz für die politische Philosophie der Gegenwart und ihre normative, auch gesellschaftliche Orientierungsfunktion bleiben davon gänzlich unbenommen. Zudem benötigt ja auch eine empirisch fundierte Gesellschaftsanalyse, jedenfalls wenn sie Politikphilosophie sein will, einen normativen Nukleus. Und eben da bestehen meiner eigenen Erfahrung nach zwischen den Vertreter*innen der Frankfurter Schule und des Liberalismus deutlich mehr Gemeinsamkeiten als radikal Trennendes.
 
Christine Chwaszcza: Der Kontext der Äußerung von Axel Honneth ist mir leider nicht bekannt. Persönlich bin ich der Ansicht, dass die Politische Philosophie sowohl eine deskriptive Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit leisten als auch Standards für die rationale Kritik des normativen status quo bereitstellen sollte. Die sozialen Institutionen und Praktiken, die das gesellschaftliche Leben strukturieren, sind inhärent normativ, konventionell und kontinuierlich Gegenstand normativer Reflexion und Kritik. Diese Kritik ist keineswegs ein Privileg der Philosophie oder Rechtstheorie, sondern fester Bestandteil der moralischen Alltagspraxis.
 
Die Aufgabe der politischen Philosophie als einer akademischen Disziplin besteht meines Erachtens darin, die normative Binnenlogik der Institutionen freizulegen und rationale Standards für ihre Reflektion und normative Bewertung zur Diskussion zu stellen.
 
Dessen ungeachtet teile ich die Kritik an der Empirieflucht der gegenwärtigen Politischen Philosophie. Persönlich würde ich das Motiv dafür aber nicht am Problem der Normativität festmachen, sondern an dem Umstand, dass viele der praktischen Konflikte der Gegenwart eine post-nationale Dimension aufweisen, die in Theorieansätzen, die sich am Modell des liberal-demokratischen Rechtsstaats orientierten, nicht angemessen abgebildet werden kann.
 
UNSER AUTORINNEN UND AUTOREN:
 
Christine Chwaszcza ist Professorin für Politische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Köln. Stefan Gosepath ist Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität zu Köln. Christian Neuhäuser ist Professor für Politische Philosophie an der Universität Dortmund. Elif Özmen ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Gießen und Veronique Zanetti ist Professorin für Politische Philosophie an der Universität Bielefeld.
 
Die Stellungnahmen sind unabhängig voneinander per Email von der Redaktion erhoben worden. Die Autorinnen und Autoren hatten keine Kenntnisse von den Texten der anderen und nehmen keinen Bezug aufeinander.