PhilosophiePhilosophie

ESSAY

Ursula Wolf:
Wie kann die Philosophie angewandte Ethik betreiben? Am Beispiel der Tierethik

aus: Heft 3/2021, S. 8-13

 Was ist angewandte Ethik?
 
Der Ausdruck „angewandte“ Ethik legt die Vorstellung nahe, man habe zuerst einen allgemeinen moralischen Standpunkt und frage dann, wie dieser auf Einzelfälle anzuwenden sei, also eine Art deduktiver Methode. Dagegen macht der Ausdruck „praktisch“, wie wir ihn beispielsweise in Singers Buchtitel Practical Ethics finden, einen Gegensatz zur Theorie der Ethik auf. Historisch ist die Bezeichnung „angewandte Ethik“ nicht aus der Entgegensetzung „allgemein-einzeln“ hervorgegangen, sondern aus dem Gegensatzpaar „theoretisch-praktisch“. Im Logischen Positivismus wird die Ethik, wenn überhaupt, dann nur theoretisch untersucht. Man nimmt an, dass nur diejenigen Sätze sinnvoll sind, welche sich empirisch überprüfen lassen, und außerdem apriorisch-analytische Sätze, die aufgrund der Bedeutung ihrer Satzform oder der in ihnen vorkommenden Begriffe wahr sind. Da ethische Urteile Wertungen enthalten und so nicht dem empiristischen Sinnkriterium genügen, kann die einzig sinnvolle philosophische Beschäftigung mit der Ethik nur darin bestehen, die ethische Rede allgemein-theoretisch zu analysieren, also Metaethik zu betreiben, die alle Aussagen über Inhalte und die Findung konkreter Entscheidungen ausklammert.
 
Doch die großen Moraltheorien sind nicht auf diese Weise begrenzt. Tatsächlich wird die Reduktion der Ethik auf Metaethik bald als unbefriedigend empfunden, als die zunehmende Entwicklung neuer Technologien, insbesondere Biotechnologien, und die damit einhergehenden Gefahren nach Kriterien der Bewertung und Entscheidung in Anwendungsfragen verlangen. Die Ausarbeitung solcher Kriterien gilt für gewöhnlich als Aufgabe der Ethik, und so wird durch den zunehmenden praktischen Druck die Selbstbeschränkung der philosophischen Ethik auf reine Theorie durchbrochen.
 
Die philosophische Ethik ist dann zunächst mit zwei Problemen konfrontiert. Wie die Debatten über schwierige Anwendungsfragen zeigen, haben verschiedene Gruppen bzw. Individuen unterschiedliche Grundüberzeugungen. Ich lasse im folgenden diese Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden inhaltlichen Moralkonzeptionen beiseite und beschränke mich auf die Methodenfrage im engeren Sinn, die Frage der Anwendung innerhalb einer Moralkonzeption. Hier herrscht in der heutigen Debatte über angewandte Ethik John Rawls‘ Methode des Überlegungsgleichgewichts vor. Diese besagt, dass wir bei der Suche nach einer moralischen Entscheidung nicht deduktiv vorgehen, sondern ein Gleichgewicht zwischen unseren Moralprinzipien einerseits und unseren reflektierten konkreten Überzeugungen andererseits suchen müssen, wobei beide Seiten für eine Revision offen sind. Das ist sicher überzeugend, was die Kritik am deduktiven Modell betrifft. Aber ist es zureichend?
 
Es gibt mindestens drei Ebenen, die bei Anwendungsfragen der Moral eine Rolle spielen: erstens einen eher vagen umfassenden Standpunkt auf der übergeordneten Ebene (also für die Leserschaft dieser Zeitschrift wohl der Standpunkt der universalen und gleichen Rücksicht); zweitens konkret-inhaltliche Normen der mittleren Ebene (kein Leiden zufügen, nicht töten, nicht belügen usw.), welche in der Gesellschaft gelten und welche die Individuen in Form von Tugenden internalisiert
haben; drittens schließlich Einzelentscheidungen auf der Ebene der konkreten Handlungssituation. Die philosophische angewandte Ethik befasst sich primär mit der mittleren oder zweiten Ebene, der Ebene der konkreten Normen. Quer zu dieser Differenzierung nach Graden der Abstraktion auf der Seite des moralischen Standpunkts steht eine vierte, die ethische Frage (wobei „ethisch“ jetzt nicht wie in „Metaethik“ die Theorie der Moral bedeutet, sondern die breitere Lehre vom guten Leben). Sie fragt, welches die Rolle und das Gewicht der moralischen Dimension unter den anderen Dimensionen unserer praktischen Einstellung ist.
 
Während Rawls an die Unabhängigkeit der Moraltheorie glaubt, zeigt diese vierte Frage, dass moralische Erwägungen für die handelnde Person nur ein Aspekt praktischer Entscheidungen neben anderen nicht-moralischen Werten bzw. Motiven sind, und daher wird die metaethische (in Rawls Ausdrucksweise: moralphilosophische) Frage, was moralische Überlegungen von anderen unterscheidet und wie sie sich zu diesen verhalten, Einfluss auf die Reflexion unseres moralischen Standpunkts haben.
 
Die ethische Frage mündet für das Individuum immer in eine konkrete Entscheidungsfrage: Was soll ich hier und jetzt, in dieser Situation, tun, wie ist hier und jetzt zu handeln gut bzw. richtig? Weil das Individuum in konkreten Situationen ständig mit dieser Frage konfrontiert ist, besteht ein dringendes Interesse an Klärung, wie sich die richtige Handlung finden lässt. Diese Methodenfrage bezieht sich darauf, wie sich allgemeiner Standpunkt, Normen der mittleren Ebene und konkrete Entscheidungssituation im Kontext des individuellen Lebens zueinander verhalten. Erst wenn der strukturelle Zusammenhang zwischen diesen verschiedenen Aspekten geklärt ist, können wir die Stellung der angewandten Ethik genauer bestimmen. Ich greife dazu auf die antike Ethik zurück, welche die moralischen Fragen immer schon im Kontext der weiteren ethischen Frage, der Frage nach dem guten Leben betrachtet hat. Sodann will ich erläutern, wie Platons Methode in den Frühdialogen, der Elenchos (Prüfungsgespräch), uns in der angewandten Ethik vor Verkürzungen bewahren kann.
 
 
Moral und gutes Leben
 
Wie lässt sich eine konkrete moralische Entscheidungsfrage beantworten? Wenn aus der Sicht des Individuums eine moralische Entscheidung immer zugleich im Kontext einer ethischen Entscheidung des guten Lebens steht, müsste es im Handeln immer zwei Orientierungspunkte haben, einmal einen moralischen Standpunkt, welcher das Verhalten gegenüber anderen regelt und der in inhaltlichen Normen und Tugenden liegt, und zweitens eine Konzeption des guten Lebens, der Eudaimonia, die sein Leben in allen Aspekten, nicht nur der Moral, leitet. Eine konkrete Handlungsentscheidung kommt erst zustande, wenn die moralische Bewertung der Handlungsalternativen in die Überlegung des guten Lebens eingefügt und in diesem Kontext beurteilt wird. Doch dieses umfassende Ziel, die Eudaimonia, das vollkommen gute Leben, stellt eine vage allgemeine Konzeption dar, die offen und unbestimmt bleibt und sich nicht für die ganze Lebenszeit und alle Menschen gleich bestimmen lässt.
 
Ähnliches gilt für die inhaltlichen Normen oder Tugenden. Auch aus ihnen lassen sich keine eindeutigen Kriterien für den Einzelfall ableiten, weil sie immer noch allgemein sind und daher unklar sein kann, wie sie anzuwenden sind. Das kommt insbesondere vor, wenn neuartige Fälle auftreten, auf welche die bisherigen Normen nicht zugeschnitten sind. Aber auch dann, wenn sich Normenkonflikte oder moralische Dilemmata ergeben.
 
Im ersten Fall, wenn ein neuartiges praktisches Problem eine Entscheidung verlangt, könnten wir darauf zurückgreifen, dass wir einen grundlegenden moralischen Standpunkt (eine Konzeption des Guten) besitzen. Wir müssten dann überlegen, was sich aus diesem für die neuen Handlungssituationen ergibt. Doch wie geht man dabei vor?
 
Was das zweite Problem, die Möglichkeit von Normkonflikten, betrifft, so ist die Auffassung verbreitet, dass wir in diesem Fall zwischen beiden Seiten des Dilemmas „abwägen“ müssen, wobei man an Rawls‘ Konzeption des Überlegungsgleichgewichts denkt. Doch was ist der Bezugspunkt der Abwägung? Die beiden offenen Fragen zeigen, dass eine klare Methodenbeschreibung bisher fehlt.
 
Platons Methode des Elenchos
 
Platons Frühdialoge beginnen häufig mit der Frage nach der Definition einer Tugend wie Besonnenheit, Tapferkeit oder Gerechtigkeit. Nun ist es typisch für diese Dialoge, dass sie kein Ergebnis haben, sondern in der Aporie enden. Denn was immer an Definitionen vorgeschlagen wird, es zeigt sich, dass in der Erfahrungswelt unter wechselnden Bedingun-gen und Relationen nichts immer und in jeder Hinsicht gut, schön oder richtig ist. So scheint es gerecht, geliehene Dinge zurückzugeben. Doch wenn sich der Besitzer der Waffe, die man ausgeliehen hat, gerade in einem Zustand der Raserei befindet, ist das Zurückgeben nicht richtig. Heute würde man sagen, dass diese Normen der mittleren Ebene prima facie Normen sind, die man beim Auftreten von offensichtlich nach einer Ausnahme verlangenden Situationen differenzierter formulieren müsste. Platon verweist darauf, dass ständig neue Ausnahmen auftreten können, und lehnt die Annahme fixer Definitionen konkreter Tugenden ab. Er sieht Tugenden als Konkretisierung des unbestimmten Guten, die durch praktische Überlegung an jeweilige Handlungssituationen angepasst werden müssen.
 
Das Modell für praktisches Überlegen, welches Platon vorfindet, ist dasjenige der techne, des Herstellungswissens. Hier ist ein bestimmtes umgrenztes Ziel gegeben, das sich definieren lässt, bei künstlichen Dingen ist das meist die Funktion, die das hergestellte Ding erfüllen soll, z. B. hat die Schiffsbaukunst die Herstellung von Schiffen als Bereich, der sich klar dadurch bestimmen lässt, dass ein Schiff die Funktion hat, dass man damit übers Meer fahren kann. Daraus lässt sich dann zurücküberlegen, welche Materialien in Frage kommen und wie diese anzuordnen sind, damit ein brauchbares Schiff entsteht. Doch das letzte Ziel der Überlegung des guten Lebens, die vollkommene Eudaimonia, ist gerade nicht klar umgrenzt, sie betrifft das Leben insgesamt, wo wir es mit einem vagen und breiten Feld aus Phänomenen und Vormeinungen zu tun haben. Dann ist hier eine neue Methode erforderlich, und es ist diese Methode, der Elenchos, den Platon Sokrates in den frühen Dialogen vorführen lässt. Sie geht gewissermaßen umgekehrt vor wie die techne, sie fragt nicht von einem definierten Zweck zurück, sondern ordnet schrittweise ein unbestimmtes und offenes Feld an Meinungen und stellt so von unten Einheit, Grenzen, Differenzierungen her.
 
Zwar scheint der Elenchos in Platons Frühdialogen primär ein negatives Verfahren, mit dem begriffliche Unklarheiten und logische Inkonsistenzen aufgewiesen und beseitigt werden. Das ist jedoch nicht alles. Denn erstens hat der Elenchos ein Ziel vor Augen, das Gute als vage antizipiertes Fernziel, welches der Überlegung die Orientierung vorgibt, ohne allerdings ein Kriterium für Entscheidungen zu liefern, und an das sie sich nach und nach anzunähern versucht. Zweitens vollzieht sich die Prüfung immer an gegebenem Material, nämlich den vorhandenen Meinungen über inhaltliche Normen der mittleren Ebene. Wo die Prüfung nicht auf der mittleren Ebene stehen bleibt, sind drittens die Daten der konkreten Handlungssituation hinzuzunehmen. Der Elenchos beschränkt sich nicht im Sinn von Rawls auf das Abwägen von konkreten Überzeugungen und Prinzipien. Das ist eine verkürzte Beschreibung dessen, was wir in solchen Situationen tun. Platons Methode bietet ein differenzierteres Verständnis des Vorgehens. Er ordnet ein praktisches Problem jeweils in ein umfassenderes Feld des Verstehens ein, indem er auf benachbarte oder verwandte Begriffe verweist und dieses weitere Feld zu ordnen und zu strukturieren versucht. Auf diese Weise lassen sich nicht nur konkrete praktische Probleme besser fassen und klären, sondern es wird auch schrittweise das alles menschliche Handeln orientierende Fernziel des Guten expliziert und artikuliert.
 
Beispiel Tierethik
 
Machen wir uns das an einem Problem der Tierethik beispielhaft klar. Die Frage, ob Tierversuche moralisch gerechtfertigt sein können, wird gewöhnlich so formuliert, dass wir einerseits mit dem Verbot konfrontiert sind, Tieren Leiden zuzufügen, andererseits die Pflicht besteht, Menschen gegen Krankheiten zu helfen. Dadurch entsteht, so wird gesagt, ein moralisches Dilemma, das wir so entscheiden, dass wir zwischen den beiden konfligierenden Werten abwägen. Aber ist eine solche direkte Abwägung überhaupt sinnvoll und möglich?
 
In der Moralphilosophie ist das Problem, dass in einer konkreten Situation zwei oder auch mehr moralische Normen der mittleren Ebene in Konflikt stehen können, immer schon gesehen worden. Die klassischen Moraltheorien versuchen die Existenz solcher Konflikte ganz wegzuinterpretieren. So vertreten Platon und Aristoteles die These von der Einheit der Tugenden, und Kant ist der Auffassung, dass zumindest die strengen Pflichten nicht konfligieren können. Warum das so ist, können wir deutlich bei Platon sehen. Wie erläutert, ist für Platon das letztliche Ziel, welches die praktische Überlegung steuert, das Gute, und zwar das Gute im Sinn der Eudaimonia, des vollkommen guten Lebens. Das vollkommene Gute zeichnet sich durch Ganzheit und Einheit aus. Diese können Menschen als zeitliche und materielle Wesen nicht vollständig erreichen, vielmehr können sie nur versuchen, sich an sie anzunähern. Wenn es aber getrennte Bereiche des Guten gibt, die miteinander in einen unaufhebbaren Konflikt treten können, dann wäre ein vollkommen und insgesamt gutes Leben nicht einmal denkbar und damit die Orientierung des Handelns an einem höchsten Gut hinfällig. Aus diesem Grund bestimmen alle klassischen Moraltheorien das höchste Gute durch genau eine Wertdimension, setzen also voraus, dass die Normen auf der mittleren Ebene bzw. die Tugenden keine prinzipiell unvereinbaren Werte darstellen.
 
Nun mag dieses Harmonieideal zu stark sein und zu wenig auf die faktischen Spannungen reflektieren, mit denen die Gesellschaft und das Individuum unter nicht-idealen empirischen Bedingungen konfrontiert sind. Dennoch ist es plausibel anzunehmen, dass scheinbare Normenkonflikte mit empirischen Bedingungen und der Begrenztheit unserer Fähigkeiten und Möglichkeiten zu tun haben. Das Verbot der Leidenszufügung und die Pflicht zu helfen sind nicht also solche unvereinbar, sondern beide sind Seiten einer allgemeinen Moralkonzeption, welche die Sicherung des Wohls für alle leidensfähigen Wesen als inhaltlichen Kern hat. Dieser Bezugspunkt wird in dem gängigen Modell der Abwägung der zwei Seiten eines Dilemmas vollkommen vernachlässigt.
 
Was wir stattdessen tun können, und was im übrigen Moralphilosophinnen und Moralphilosophen, die angewandte Ethik auf anspruchsvolle Weise durchführen, faktisch immer schon tun (wenn auch oft ohne entsprechendes Methodenbewusstsein), besteht darin, zunächst alle relevanten Fakten zu sammeln und zu sortieren, sodann die strittige Frage in einem größeren Kontext zu betrachten, umfassendere und grundlegendere Fragen zu stellen. In diesem Fall wären das unter anderem die Fragen, welche Merkmale die Basis unserer Kriterien sind, ein Wesen zu den Gegenstände moralischer Rücksicht zu rechnen; ob Menschen und Tiere den gleichen moralischen Status haben oder ob er sich prinzipiell oder graduell unterscheidet; wie genau der Unterschied zwischen negativen und positiven Pflichten zu verstehen ist; welche Rolle die Norm, kein Leiden zu verursachen, in unserem grundlegenden moralischen Standpunkt spielt; welche Formen des Leidens es gibt und wie diese sich jeweils auf die Erreichbarkeit des Glücks bzw. Wohls eines Wesens auswirken.
 
Eine gründliche Durcharbeitung dieser Fragen würde nach meiner Sicht ergeben: Unser allgemeiner Standpunkt ist universal und umfasst daher auch Tiere, sofern sie ein subjektives Erleben haben. Sind sie eingeschlossen, dann in vollem Sinn, so dass unsere negativen Pflichten auch ihnen gegenüber gelten; denn nur so sind Wesen in ihrem Streben nach ihrem Wohl (Tiere) oder guten Leben (Menschen) geschützt. Dass wir ihnen darüber hinaus helfen müssen, z. B. wenn sie krank sind, wirft erstens die Frage auf, wer das muss, alle Individuen, die Medizin, der Staat. Zweitens die Frage, ob allen oder nur manchen und wie weit. Die erste Frage erfordert eine Darlegung des Zusammenhangs von Moral und Politik, die zweite eine Beschreibung der unterschiedlichen Beziehungen, die zwischen Wesen bestehen, und der berechtigten Ansprüche innerhalb dieser Beziehungen. Wenn im Sinn unseres allgemeinen moralischen Standpunkts alle leidensfähigen Wesen grundsätzlich Schutz genießen, wird der Anspruch aller auf Gesundheitsfürsorge diesen Schutz im Normalfall nicht für einige durchbrechen können. Doch unsere Beziehungen zu Tieren sind andere als die Beziehungen innerhalb der eigenen Spezies, und die Fähigkeiten und Antriebe der Tiere unterscheiden sich von den menschlichen. Man müsste also genauer untersuchen, ob sich hieraus Unterschiede in den moralischen Ansprüchen von Menschen und Tieren ableiten lassen, ob mit Bezug auf Tiere dieselben Normen der mittleren Ebene gelten, oder z. B. das Verbot der Zufügung schweren Leidens anwendbar ist, aber vielleicht das Tötungsverbot nicht. Dies nur ein paar Andeutungen, was hier im Detail zu tun wäre.
 
Wir können jetzt den Beitrag der Methode des Elenchos zusammenfassen. Sie verhindert, dass wir die ethische Überlegung zu früh abbrechen, nämlich bei der schlichten und nicht weiter erläuterten Abwägung zwischen Einzelfallüberzeugung und Prinzip bzw. Moralkonzeption oder zwischen zwei moralischen Normen. Wir sind mithilfe von Platons Methode einen Schritt weiter. Die Moraltheorie ist, anders als Rawls annimmt, nicht unabhängig, weil die Perspektive der Person, welche moralische Entscheidungen trifft, diejenige der ethischen Überlegung im weiten Sinn einer Überlegung des guten Lebens ist. Wir haben ein System von moralischen Normen der mittleren Ebene internalisiert, wir verwenden außerdem ein Netz ethischer Grundbegriffe wie „gut“, „nützlich“, „moralisch richtig“, „Glück“, die miteinander verflochten sind. Bei Entscheidungen kommt es auf die Artikulation des umliegenden Phänomen-, Meinungs- und Begriffsfelds an. Die Artikulation ist immer schon von einer antizipierten vagen Konzeption des Guten geleitet, die ihrerseits in diesem Prozess erst Konturen gewinnt. Zwar führt auch dieser breitere Reflexionsvorgang im Sinn Platons nicht immer zu klaren Ergebnissen. Aber über diesen Schritt hinaus ist eine methodisch abgesicherte Entscheidung nicht mehr möglich, es gehen dann andere Aspekte wie Lebenshaltung, Temperament oder Erfahrungen in die Wahl mit ein.
 
UNSERE AUTORIN
 
Ursula Wolf ist Seniorprofessorin für Philosophie an der Universität Mannheim.