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STELLUNGNAHMEN

Christine Bratu, Susanne Lettow, Martin Saar und Barbara Zehnpfennig:
Identitätspolitik und Philosophie

aus: Heft 3/2021, S. 24-33
 
 
Was beinhaltet der Begriff „Identitätspolitik“?
 
Christine Bratu: Ursprünglich wurde mit diesem Begriff ein Politikverständnis bezeichnet, demzufolge Personen aufgrund (inhärenter oder bloß zugeschriebener) Merkmale zu partikularen Gruppen gehören und politische Akteur:innen (wie etwa Verbände oder Parteien) die Interessen dieser partikularen Gruppen artikulieren und durchsetzen. Als Beispiele dienten oft die Frauenbewegung, das Civil Rights Movement in den USA oder der Kampf um Gleichberechtigung von LGBTQIA+ Personen; als Gegenpol galt eine (vermeintlich) universalistische Politik, d.h. eine Politik, die sich nicht die Anliegen einer bestimmten Gruppe, sondern das (wie auch immer verstandene) bonum commune auf die Fahne schreibt. Identitätspolitik in diesem (engen) Sinne wurde sowohl von rechts als auch von links kritisiert, wobei die Stoßrichtung aus beiden Richtungen letztlich dieselbe war, nämlich dass Identitätspolitik Sonderinteressen mehr Platz einräumt als diesen legitimerweise zusteht.
 
Neuerdings scheint der Begriff eine Bedeutungserweiterung zu erfahren, da er zunehmend auch bezogen auf die Wissenschaft oder den Kulturbetrieb gebraucht wird. Hier wird Personen unterstellt (oder eher: vorgeworfen) Identitätspolitik zu betreiben, wenn sie behaupten, a) dass mit dem Innehaben einer bestimmten sozialen Position oft epistemische Privilegien in Bezug auf diese Position einhergehen (dass also bspw. Frauen die Situation von Frauen oft besser beurteilen können) und b) dass es deswegen epistemisch besser wäre, wenn wir zu Fragen diese soziale Position betreffend primär Personen hören, die diese auch tatsächlich innehaben. Nach diesem weiteren Verständnis könnte man es als Fälle von Identitätspolitik verstehen, dass die Zeitschrift Hypatia 2017 nach der Veröffentlichung eines Artikels über transracialism in die Kritik geraten ist, in dem nicht ausreichend auf die relevanten Beiträge von people of color verwiesen wurde, oder dass sich ein deutscher Verlag dagegen entschieden hat, Amanda Gormans „The Hill We Climb“ unkommentiert von einer weißen Person übersetzen zu lassen.
 
Susanne Lettow: Im Gebrauch eines Begriffs verändert sich seine Bedeutung – das gilt auch für den Begriff der Identitätspolitik. Entstanden ist der Begriff im Kontext der Auseinandersetzung Schwarzer Feministinnen in den USA mit dem falschen Universalismus, also dem Anspruch auf Allgemeinheit, der durch implizite Ausschlüsse geprägt ist. Den Bezugspunkt stellte hier das von der US-amerikanischen Frauenbewegung der 1970er Jahre postulierte feministische „Wir“ dar. Das Combahee River Collective betonte dagegen in seinem berühmt gewordenen Statement, dass Macht und Herrschaft intersektional sind, so dass Sexismus, Rassismus und Klassenverhältnisse als eng miteinander verzahnte Unterdrückungsformen verstanden werden müssen. Radikale, auf Befreiung zielende Politik, so argumentierten die Autorinnen, könne in einem derart komplexen und Gefüge von Unterdrückungsverhältnissen grundsätzlich nicht stellvertretend für Andere, sondern nur ausgehend von der eigenen Erfahrung bzw. Identität gemacht werden.
 
Im Gegensatz zu der gegenwärtigen Debatte um „Identitätspolitik“ ging es hier weder um eine Abkehr von der Analyse und Kritik sozioökonomischer Ungleichheit (im Gegenteil!), noch ging es darum, eine vermeintlich homogene, widerspruchsfreie Identität zu fixieren und gegen andere zu behaupten. Fluchtpunkt der Analyse, mit dem sich in der Folge weite Teile der Gender Studies, kritischen Gesellschaftstheorie und Sozialphilosophie bis heute auseinandersetzen war vielmehr die Perspektive einer Allianzbildung und demokratischen Bündnispolitik, die Differenzen ernst nimmt, ohne sie zu reifizieren. Wenn nun gegenwärtig „Identitätspolitik“ – in einer paradoxen Wendung – mit einer Abkehr von der „sozialen Frage“ und neoliberalen Selbstverwirklichungs- und Diversityphantasmen gleichgesetzt wird, dann muss festgehalten werden, dass die ursprüngliche Bedeutung in dieser Verwendung des Begriffs geradezu ad absurdum geführt wird. Zudem gilt es wiederum, dass das hier implizierte Verständnis von Ungleichheit und Benachteiligung erneut kritisch danach befragt wird, wessen und welche Bedürfnisinterpretationen als „ökonomisch“ und sozialpolitisch relevant gelten, welche aber als „bloß kulturell“ abgetan werden. In der Debatte um die Ursachen der Konjunktur des Rechtspopulismus hat sich diese Unterscheidung zwischen „kulturellen“ und „ökonomischen“ Anliegen als fatal erwiesen. Nur eine explizit machtkritische Auseinandersetzung mit Differenzen und Hierarchien, die die konstitutiven Zusammenhänge von kulturellen und ökonomischen Aspekten sozialer Ungerechtigkeit in verändernder Absicht hervorhebt, kann schließlich verhindern, dass diese – aus der Perspektive sozialer Gerechtigkeit formulierte – Kritik der Identitätspolitik mit jener rechtspopulistischen Ablehnung von Identitätspolitik konvergiert, die auf identitäre Schließungen, Nationalismus und Autoritarismus setzt.
 
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