PhilosophiePhilosophie

DISKUSSION

Matthias Schulze:
Identität, Wahrheit und Demokratie. Anmerkungen zur Debatte über die Identitätspolitik

 
aus: Heft 2/2022, S. 40-42
 
„Ein alter weißer Mann kann grundsätzlich nicht über afrikanische Dinge denken und urteilen.“ Mit dieser Begründung wandte sich eine antirassistische Initiative dagegen, dass Helmut Bley, Professor für Afrikanische Geschichte, bei den von der Stadt Hannover veranstalteten Tagen gegen den Rassismus einen Vortrag hielt. Obwohl Bley sich um die Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen verdient gemacht hat, verweigerte die Initiative die Beteiligung an einer Diskussion mit ihm, daraufhin sagte die Stadt Hannover die Veranstaltung ab.
 
Dies ist nur ein Beispiel für die immer heftigere Debatte um die Identitätspolitik. Es geht dabei um Fragen wie: Was darf man zu bestimmten Themen sagen, und wer darf etwas dazu sagen? Dabei stehen sich SprecherInnen von Minderheiten in ihrem Kampf um Anerkennung einerseits und die Verteidigung der Meinungsfreiheit andererseits gegenüber. Zugleich geht es aber auch grundsätzlich um die Möglichkeit eines rationalen Diskurses und damit auch der Demokratie in einer diversen Gesellschaft.
 
Die Ablehnung des Vortrags von Professor Bley zeigt ein Vorgehen, das inzwischen weit verbreitet ist: Es geht nicht mehr darum, was jemand sagt, sondern, wer es sagt, und recht hat stets, wer sich zu den Unterdrückten zählt oder als deren Vertretung auftritt. Wenn die Identitätspolitik kritisiert wird, z. B. von Noam Chomsky oder Salman Rushdie, ist die Antwort stets: Als Privilegierte könnt ihr nicht mitreden. Man setzt sich mit einer Position nicht argumentativ auseinander, sondern kritisiert die jeweiligen Kritiker und Kritikerinnen wegen ihrer gesellschaftlichen Position („mächtig“, „weiß“ etc.). An die Stelle einer Debatte um die Wahrheit einer These tritt die Denunziation der Person, die sie vertritt. Dies ist nicht nur ein rhetorisches Mittel zur Stärkung der eigenen Position, sondern Ausdruck einer sehr fragwürdigen grundsätzlichen Einstellung.
 
Diese Einstellung hat ihren Ursprung in der Erkenntnis, dass Theorien und Argumente immer auch von bestimmten kulturellen und sozialen Bedingungen beeinflusst sind. Die Vernunftwahrheiten, die die Philosophie der Aufklärung für unmittelbar jedermann einsichtig („self-evident“) hielt, sind auch immer Produkt einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Kultur; teilweise wurden sie sogar von Männern formuliert, die den Satz, dass „alle Menschen gleich geschaffen sind“, weder für Frauen noch für Sklaven gelten ließen. Spätere Philosophen haben den Vernunftglauben der Aufklärungsphilosophie kritisiert: Marx zeigte die Abhängigkeit der Ideen von den sozio-ökonomischen Verhältnissen auf, feministische Philosophinnen und Theorien des Postkolonialismus die patriarchale bzw. die kolonialistische Struktur herrschender Diskurse.
 
All diese Untersuchungen haben wichtige Einsichten über die Hintergründe bestimmter Anschauungen und Theorien erbracht. Sie sagen aber noch nichts darüber aus, ob die jeweiligen Anschauungen wahr sind. Der Satz, dass alle Menschen gleich geschaffen sind, wird nicht dadurch falsch, dass er bei der Gründung der USA von Sklavenhaltern aufgeschrieben wurde. Die Untersuchung der sozialpsychologischen und anderen Ursachen für ein Denk- oder Wertesystem ist eine Sache, die vernünftige Diskussion über dessen Gültigkeit eine andere. Nun kann man noch weitergehen und behaupten, die (westliche) Vernunft selbst sei – so Friedrich Nietzsche – nur eine Form des „Willens zur Macht“, die Unterscheidung von „wahr und falsch“ – so Michel Foucault – nur eine Form, bestimmte Menschen vom Diskurs auszuschließen.
 
Solche Auffassungen widersprechen aber unseren Vorstellungen davon, was das Ziel einer rationalen Diskussion ist bzw. sein sollte: Wenn wir mit anderen Argumente austauschen, um zu klären, ob bestimmte Behauptungen zutreffen und bestimmte Normen gültig sind, dann geht es um die Überzeugungskraft der Argumente, nicht darum, wer sie vorgebracht hat. Natürlich hat jeder Mensch eine bestimmte kulturelle, soziale, sexuelle und sonstige Identität, aber das bedeutet noch längst nicht, dass jeder Beitrag zur Debatte und der Wert dieses Beitrags von der Identität der Person abhängig ist, die ihn geäußert hat. Eine sinnvolle Diskussion ist nur möglich, wenn man die Argumente der Anderen als Argumente versteht und nicht nur als Ausdruck ihrer Identität. So sind z. B. die Argumente von Bernie Sanders nicht deshalb von vornherein weniger relevant als die von Kamala Harris, weil sie eine schwarze Frau ist und er ein alter weißer Mann. Wenn, wie von der Identitätspolitik behauptet, die jeweilige „Sprecherposition“ für alles, was jemand sagt, maßgeblich ist, ist ein rationaler Diskurs und ist damit auch Philosophie nicht mehr möglich.
 
Auch die Tatsache, dass ein Mensch Unterdrückungserfahrungen gemacht hat, bedeutet nicht, dass er deshalb von vornherein im Recht ist. Seine Erfahrungen muss man selbstverständlich ernst nehmen, aber seine Ansichten, seine deskriptiven und normativen Aussagen, stehen genauso zur Diskussion wie die aller Anderen. Im Alltag, in der Wissenschaft und vor Gericht müssen wir, wenn wir über die Wahrheit von Aussagen und die Gerechtigkeit von Normen diskutieren, von unserer spezifischen Identität absehen; wir kritisieren es mit Recht, wenn z. B. Richterinnen oder Richter aus ihrer persönlichen Perspektive urteilen.
 
Bei der Forderung, den Auffassungen unterdrückter Gruppen den Vorrang zu geben, wird zu Unrecht unterstellt, die Mitglieder dieser Gruppen müssten im Wesentlichen alle der gleichen Ansicht sein. Da dies meist nicht der Fall ist, erklärt man sich zur Vertretung der wahren Interessen der jeweiligen Gruppe, um sich argumentativ unangreifbar zu machen. So erklärte z. B. eine US-Politikerin, Bedenken gegenüber der Forderung von Black Lives Matter nach Abschaffung der Polizei seien Ausdruck einer privilegierten Position; gleichzeitig lehnt aber die Mehrheit der schwarzen Wählerinnen und Wähler in den USA diese Forderung ab. Das sagt nichts über die Berechtigung der Forderung; aber darüber muss mit Argumenten gestritten werden und nicht mit Hinweisen auf die Identität. Das Gleiche gilt für alle anderen Forderungen und Anschauungen, die im Namen der Schwulen, der Frauen oder anderer Gruppen formuliert werden.
 
Die Vorstellung von einem einheitlichen Kollektiv wird noch fragwürdiger, wenn die Auffassung vertreten wird, die Mitglieder aller unterdrückten Gruppen besäßen wegen ihrer Diskriminierungserfahrungen eine gemeinsame Identität. Das stimmt offensichtlich nicht: Latinos sind z. B. nicht unbedingt weniger rassistisch als „Weiße“, auf ihre türkische Identität fixierte Nachkommen von Migranten verstehen sich vielleicht als „Osmanen“, aber wohl eher nicht als „people of color“. Gleichzeitig führt die Fixierung auf das eine identitätsstiftende Merkmal der „Rasse“, des Geschlechts usw. dazu, andere Faktoren wie die soziale Lage bzw. die Klassenzugehörigkeit zu vernachlässigen. Ein armer Schwarzer hat mit einem armen Weißen Interessen gemeinsam, die ein reicher Schwarzer nicht hat, und ein weißer Mann aus der Unterschicht wird vermutlich schwerer eine Wohnung finden als eine wohlhabende, nichtweiße Frau.
 
Ziel des Kampfes gegen Diskriminierung von Minderheiten war einmal, die Festlegung von Menschen auf ihre jeweilige gruppenspezifische Identität zu überwinden. Menschen sollten – wie Martin Luther King es ausdrückte – „nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden“. Wenn die Identitätspolitik dagegen Aussagen nach der Identität der Sprecherin bzw. des Sprechers beurteilt, reproduziert sie die Fixierung von essentiellen Identitäten, die sie eigentlich bekämpfen wollte. Früher wurden Aussagen und Argumente von Frauen     oder Nichtweißen weniger geachtet als die von weißen Männern. Jetzt wird diese jahrhundertelange willkürliche Missachtung nicht wirklich überwunden, mit dem universalistischen Ziel einer gleichen Achtung für alle, sie wird nur umgedreht; nun werden die Aussagen von Weißen, Männern etc. von vornherein abgewertet. Wenn jedoch die Anderen nicht grundsätzlich als Subjekte akzeptiert, sondern nur als Objekte ihrer identitätsspezifischen Prägungen gesehen werden, fehlt die Grundvoraussetzung für jeden Dialog und damit auch für ein konstruktives gemeinsames Zusammenleben in einer diversen Gesellschaft.
 
Jede Aufteilung der Gesellschaft in Gruppen mit fester Identität gefährdet auf längere Sicht die Demokratie. Wenn über die klar benennbaren, konkreten Diskriminierungen hinaus schon die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kollektiv – den Männern, den Weißen etc. – eine „strukturelle“ Schuld beinhaltet, tritt an die Stelle einer gemeinsamen politischen Arbeit möglichst vieler Menschen für das Ziel einer diskriminierungsfreien Gesellschaft ein bloßer Machtkampf unter verfeindeten „Stämmen“; gerade den heute am meisten Unterdrückten wird ein solcher Kampf langfristig wohl am wenigsten helfen.
 
Es ist eine unverzichtbare Voraussetzung der Demokratie, dass alle Bürgerinnen und Bürger an einem politischen Prozess teilnehmen, der sich – trotz aller ökonomischen, kulturellen und politischen Interessen und Ungleichheiten – am Ideal eines „herrschaftsfreien Diskurses“ und einer gleichberechtigten Entscheidung orientiert und dass dabei jeder Mensch, egal welcher Hautfarbe oder welchen Geschlechts, als Individuum gleichermaßen zählt. In der modernen Demokratie ist kein Platz für die Repräsentation von Gruppenidentitäten, das wäre ein Rückfall in einen Ständestaat, in dem People of Color und Weiße, Frauen und Männer, Heterosexuelle und LGTBQ-Menschen, Muslime und Christen und alle möglichen anderen Gruppen jeweils eine eigene Repräsentation hätten. Auf diese Weise würde jeder Mensch essentialistisch auf eine bestimmte Gruppenidentität festgelegt und in seiner politischen Freiheit massiv eingeschränkt.
 
Selbstverständlich gibt es hier und anderswo weiterhin Diskriminierung und Rassismus und selbstverständlich ist das Ideal der Demokratie nirgendwo zufriedenstellend verwirklicht. Darum kämpfen Bewegungen gegen Sexismus, Rassismus oder Homophobie um die gleichberechtigte Anerkennung aller Menschen, wie sie in der Unabhängigkeitserklärung der USA, dem Grundgesetz und den Menschenrechtserklärungen formuliert, aber immer noch nicht umgesetzt ist. Diesen Kampf sollte jeder Demokrat und jede Demokratin unterstützen, nicht aber die Aufteilung der Gesellschaft in identitäre Gruppen und eine neue Form von Ungleichbehandlung, die die alte einfach nur umkehrt.
 
UNSER AUTOR
 
Matthias Schulze hat an der Gesamtschule Bonn-Beuel Mathematik und Philosophie unterrichtet und war Fachleiter für Philosophie am Studienseminar Bonn.