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BERICHT

Niels Gottschalk-Mazouz:
Medizinische Ethik: Probleme mit dem Begriff „Krankheit“


Behandlung versus Verbesserung

„Lifestyle-Medizin“ will es Menschen ermöglichen, ihren persönlichen Lebensstil so gut wie möglich bis ins hohe Alter verfolgen zu können. Diese Medizin orientiert sich nicht mehr an der Behandlung von Krankheiten („therapy“), sie zielt vielmehr auf Verbesserung („enhancement“): auf eine Verbesserung des Gesundheitszustands, auf eine Steigerung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, auf die chirurgische Optimierung des Aussehens usw. (PCB 2003). Doch lässt sich, zumal angesichts einer Pluralisierung von Lebensstilen und einer Ausweitung des medizinisch Machbaren, die Unterscheidung zwischen der Behandlung von Krankheiten einerseits und der Verbesserung von Zuständen unabhängig von Krankheiten andererseits überhaupt aufrechterhalten?

Auf den ersten Blick erscheint die Fassung des Kernbereichs ärztlichen Handelns als Behandlung von Krankheiten zu eng gefasst. Die Behandlung ist nicht unbedingt eine Behandlung nur von Krankheiten, denn z. B. Verletzungen (wie etwa ein Beinbruch) oder Missbildungen zählen gewöhnlich nicht als Krankheit. In der medizintheoretischen Diskussion wird mit einem weiten Krankheitsbegriff gearbeitet, der solche Fälle einschließen soll; dafür ist die Bezeichnung „malady“ vorgeschlagen worden, aber auch der Begriff „disease“ wird verwendet. Ferner ist nicht nur die Behandlung, sondern auch die Vor- und Nachsorge ein essenzieller Teil des ärztlichen Handelns. Doch bleiben diese auf Krankheiten bezogen, so dass man auch hier einen weiten Begriff von Behandlung ansetzen kann, der das umfasst.

Die Unterscheidung zwischen Behandlung und Verbesserung treffen zu wollen, ist nicht nur Wortklauberei. In vielen Ländern werden medizinisch notwendige Behandlungen von Krankheiten solidarisch getragen, nicht aber Verbesserungen. In Deutschland etwa ist dies durch das Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkassen institutionell abgesichert. So besteht ein Anspruch auf „Krankenbehandlung“ im Rahmen der gesetzlichen Krankenkassen genau dann, „wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern“ (§ 27 SGB V). Was Krankheit genauer ist, wird bewusst offengelassen: Als ein „unbestimmter Rechtsbegriff“ wird dies erst in richterlichen Entscheidungen anhand von Gutachten konkret ausgefüllt. Die Gerichte verstehen dabei unter Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung einen regelwidrigen, körperlichen oder geistigen Zustand, der Behandlungsbedürftigkeit und/ oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Für die Feststellung der Regelwidrigkeit“ sei vom „Leitbild des gesunden Menschen“ auszugehen, der zur Ausübung „normaler“ körperlicher und psychischer Funktionen in der Lage ist. Regelwidrigkeit bestehe in einer Normabweichung, die so erheblich ist, dass eine wesentliche funktionelle Beeinträchtigung die Folge ist.

Diese Erläuterungen sind selbst erläuterungsbedürftig und teilweise zirkulär. Um eine einheitliche Rechtsprechung zu befördern, lässt sich daher fragen, ob nicht die gegenwärtige medizintheoretische Diskussion allgemeine Kriterien dafür liefern kann, wann etwas als Krankheit zählt.

Was ist Krankheit?

In der medizintheoretischen Diskussion gibt es zwei konträre Traditionslinien, eine normative und eine nicht-normative („naturali stische“), den Krankheitsbegriff zu bestimmen. Die normative Tradition hält eine negative Bewertung, die naturalistische Tradition eine Abweichung von biologischer Normalität für das essenzielle Merkmal von Krankheit.


Die normative Linie

Gemäß der normativen Traditionslinie enthält der Begriff „Krankheit“ implizit eine Negativbewertung. Diese Negativbewertung lässt sich nun schematisch weiter einteilen nach der Art und Weise, wie die Bewertung konzipiert wird (vgl. Mazouz 2004): Individuell-subjektiv (so bei Lennart Nordenfelt), kulturell-intersubjektiv (Kateryna Fedoryka) oder universell-objektiv (Alan Gewirth; Bernard Gert). Die Bewertung wird jeweils auf eine (relativistische oder universalistische, normative oder deskriptive) Ethik gestützt, die die relevanten Hinsichten dessen vorgibt, worüber ein Mensch verfügen können soll oder verfügen will – bzw., welche Funktionen er erfüllen können soll.

Aus allen drei Bewertungsverständnissen heraus lässt sich ein Anspruch gegenüber anderen auf Beistand bei Krankheit plausibel machen, wenn auch je unterschiedlich argumentiert werden muss (die entsprechenden Argumentationsweisen sind aus der allgemeinen Ethik gut bekannt). Wo ziehen diese Ansätze aber die Grenze zwischen Behandlung und Verbesserung? Nach individuell-subjektiven Ansätzen bleibt dies dem Einzelnen überlassen. Nach kulturell-intersubjektiven Ansätzen ist dies durch verbreitete, anerkannte Praxen und Regeln festzulegen, hierzu zählt auch die Arzt-Patienten-Kommunikation. Nach universell-objektiven Ansätzen geschieht dies durch ethisch oder religiös als allgemeinverbindlich begründete Normen. Deshalb laufen die normativen Ansätze inhaltlich nicht auf dieselbe Grenzziehung hinaus.

Zudem entfernte man die Medizin von den Naturwissenschaften, wenn man es als Frage der Ethik darstellte, wann jemand krank ist. Dem gegenwärtigen Trend in Philosophie und Medizin entspricht das nicht. Wie weit also trägt die zweite der genannten Linien?

Die naturalistische Linie

Naturalismus meint in diesem Kontext den Rekurs auf Naturwissenschaften, genauer gesagt auf die Biologie. Krankheit wird in naturalistischen Ansätzen als Abweichung von einem natürlichen Funktionieren angesehen, als Funktionsstörung. Das Herz hat die natürliche Funktion, Blut zu pumpen, würde man beispielsweise sagen wollen, doch warum nicht, Geräusche zu machen? In der Biologie unterscheidet man drei Theorien oder Vorgehensweisen, eine Funktion zu bestimmen (vgl. allgemein dazu Wouters 1999):

- Nach dem etiologischen Ansatz sind biologische Funktionen genau diejenigen Effekte, deretwegen ein bestimmtes Merkmal in der Vergangenheit selegiert worden ist. Das Herz hat die (natürliche) Funktion, Blut zu pumpen, genau dann, wenn das Blutpumpen es verursacht hat, dass das Herz in der natürlichen Auslese favorisiert worden ist. Nach der Etiologie ist es also die kausale Rolle, die ein Merkmal in der Vergangenheit hatte, die Funktionen festlegt.
Dieser Ansatz hat Mängel: Die Zuschreibungen sind, weil auf die Vergangenheit bezogen, fragil. Ohne früheren Selektionsdruck ist aktuell keine Funktion erkennbar, wie nützlich etwas auch immer aktuell sein mag. Und: Durch die begriffliche Bindung an evolutionäre Selektion müssten sich alle Krankheiten als im Prinzip genetisch bedingt verstehen lassen, was sehr weit gehen würde.

- Der Überlebenswert-Ansatz identifiziert Funktionen mit Wirkungen, die gegenwärtig einen kausalen Beitrag zu Überleben und Reproduktion eines individuellen Organismus leisten. Das Herz hat die (natürliche) Funktion, Blut zu pumpen, weil es dadurch zu Überleben und Reproduktion der Organismen, die Herzen haben, kausal beiträgt.
Die Vertreter dieses Ansatzes unterscheiden sich darin, welchen explanatorischen Status sie den biologischen Funktionszuweisungen im Verhältnis zu den kausalen Relationen zuschreiben. Dabei lassen sich vier Positionen unterscheiden. Der Dissens geht dabei darum, inwiefern die Zuweisung von Funk tionen hinsichtlich der Existenz des das Merkmal tragenden Organs selbst etwas erklärt (wenn sie dies überhaupt tut): Erklärt dies die Existenz des Organs direkt deduktiv, oder statistisch, oder erklärt dies nur die Möglichkeit der Existenz des Organs – oder erklärt es sie überhaupt nicht, weil biologische Funktionen zwar als Überlebenswert-Funktionen zu verstehen sind, diese Funktionen jedoch nur aktuelle Nützlichkeiten anzeigen, ohne Organexistenzen zu erklären.

Mir scheint, die Differenzen liegen darin begründet, wie stark das „kausal beitragen“ zu verstehen ist: Ist der Beitrag strikt notwendig zum Überleben, d.h. das Organ funktional alternativlos, ergibt sich die erste Position. Besteht der Beitrag darin, das Überleben (nur) wahrscheinlicher zu machen, d. h. das Organ ist möglichen Alternativen funktional überlegen, ergibt sich die zweite Position. Und besteht der Beitrag darin, das Überleben (nur) möglich zu machen, d.h. zum Organ kann es andere womöglich bessere Alternativen geben, ergibt sich die dritte Position.
Allerdings sind auch diese Zuschreibungen fragil, da auf hypothetische alternative Realisierungen bezogen. Und: Je allgemeiner ein gültiger Kausalzusammenhang formuliert ist, desto weniger empirisch gehaltvoll ist er auch. Es ergeben sich daher typischerweise unausgeführte und eher ad hoc wirkende Erklärungsskizzen.

- Nach dem Kausalrollen-Ansatz schließlich beschreiben Funktionszuweisungen die Rolle eines bestimmten Teils eines Systems. Diese Rolle besteht darin, die Funktion dieses Teils aufrechtzuerhalten und damit bestimmte Fähigkeiten des Gesamtsystems. Wieder am Beispiel: Dass das Herz die Funktion hat, Blut zu pumpen, bedeutet, dass Blutpumpen gerade der spezifische Beitrag des Herzens zu der Fähigkeit des Organismus ist, sein Blut zirkulieren zu lassen.
Dieser Ansatz setzt einen übergeordneten Systemzusammenhang voraus, der wiederum funktional bestimmt werden muss, denn Sy steme sichern allgemein gesagt gerade Funktionserfüllungen. Dadurch bleibt er unterbestimmt, während die anderen Ansätze per evolutionärer Selektion oder individuellem Überleben zumindest einen Ankerpunkt für die Identifizierung von biologischen Funktionen liefern. Sie schließen sich daher auch nicht notwendig aus, wie häufig angenommen, sondern können sich auch ergänzen. Das soll anhand des zumindest in Deutschland wohl bekanntesten Kausalrollen-Modells, der Homöostase nämlich, näher ausgeführt werden.

Homöostatische Vorstellungen von Krankheit sehen den gesunden Mensch als im Gleichgewicht sich haltend, Krankheit als Störung des Gleichgewichts. Prominent vertreten wurden sie vom Psychosomatiker Thure von Uexküll. Seine „somatisch-psychisch-soziale Theorie“ ermöglicht auch die Einbeziehung von psychischen und sozialen Faktoren. Erst dann, wenn sich ein homöostatisches System nicht mehr an die sich ständig verändernden Randbedingungen anpassen kann, kommt es zu einer Krankheit, so die grundlegende Idee. Am Beispiel der Infek tionskrankheiten: Wir nehmen permanent jede Menge Krankheitserreger auf, haben die aber normalerweise ganz gut im Griff, und erst wenn das nicht mehr der Fall ist, bricht eine Krankheit aus. Ein anderes Beispiel ist Krebs: Hier ist das homöostatische Gleichgewicht zwischen Zellwachstum und Zelltod gestört.
Die Gleichgewichte werden aber stets im Hinblick auf übergeordnete Systemfunktionen (der Pulsschlag etwa per körperlicher Anstrengung oder Aufregung) reguliert, so dass letztlich die Frage nach höchsten Sy stemfunktionen in dieser Optik unumgänglich ist. Bei Uexküll ist das dann das individuelle Überleben, so dass der Überlebenswert- den Kausalrollen-Ansatz sozusagen abschließt.

Mir scheint, man kann die verschiedenen Funktionsbegriffe auch gut als eine Abfolge von Stufen zunehmender Theoretisierung verstehen. Am Beispiel des Herzens: Das Schlagen des Herzens ist eine Aktivität (=allgemeiner, vortheoretischer Funktionsbegriff im Sinne von ergon), die eine kausale Rolle bei der Blutzirkulation spielt (nun kommt eine systemische Vorstellung von Organismen hinzu), und die einen individuellen Überlebenswert hat (nun kommen Zwecke in der Natur hinzu, auf die die Systeme bezogen sind) und die vermutlich wegen ihrer höheren Effizienz als beispielweise durchgängig schlagende Blutgefäße in der Vergangenheit selegiert wurde (nun kommt Vorstellungen der Genese von Zweckmäßigkeit in der Natur hinzu).

Gegenwärtig werden in der Medizintheorie vor allem zwei Positionen diskutiert, die sich auf biologische Funktionsbegriffe stützen. Jerome Wakefield arbeitet mit dem etiologischen und Christopher Boorse mit dem Überlebenswert-Ansatz. Da die letztgenannte Position sowohl detaillierter ausgeführt ist als auch ein größeres Echo gefunden hat, möchte ich diese ausführlicher diskutieren.

Christopher Boorses Krankheitsbegriff

Eine Krankheit („disease“) sei, so Boorse, eine gegenüber dem statistischen Normal der Spezies festzustellende Funktionsfähigkeitsstörung („impairment of normal functional ability“) des Organismus, die individuelles Überleben und Reproduktion beeinträchtigt. Statistische Normalität sei dabei nach Altersgruppe und Geschlecht getrennt zu beurteilen. Oder sie sei eine Funktionsfähigkeitseinschränkung („limitation on functional ability“) durch Umweltfaktoren, wobei die Funktionsfähigkeit auch hier auf individuelles Überleben und Reproduktion bezogen ist.
Allerdings ist dieser Krankheitsbegriff in der medizintheoretischen Diskussion nicht un- umstritten. Es wird häufig eingewandt, er decke sich – entgegen Boorses Anspruch – in seiner Extension nicht mit unserem alltäglichen Begriff von Krankheit und auch nicht mit dem der medizinischen Praxis. Einiges davon hat mit der Fassung von Störung als Abweichung vom statistischen Normal zu tun, anderes mit dem zugrunde gelegten Funktionsbegriff.

Wenn beispielsweise genügend viele der über achtzigjährigen Männer Alzheimer hätten, dann wäre das per definitionem keine Krankheit mehr weil statistisch normal – wenn nicht Umweltfaktoren dafür verantwortlich gemacht werden können. Und manches, was uns als Krankheit gilt, bedroht nicht Überleben oder Reproduktion, sondern ist „nur“ unangenehm (wie etwa Fußpilz), manches ist – möglicherweise zugleich – statistisch gesehen auch bei nicht hohem Alter normal (wie etwa Karies). Auch hier gilt: Entweder es sind Umweltfaktoren im Spiel, oder das ist als „normal“ hinzunehmen, so die Boorsesche Theorie.

Manche biologischen Funktionen bestehen gerade darin, Krankheiten zu bekämpfen oder bekämpfen zu können. Man denke an das Immunsystem. Infektionen etwa (wie eine Grippe), bei denen solche biologisch vorgesehenen Funktionen ausgelöst werden, erscheinen daher nicht als Krankheiten, so wurde gegen Boorse vorgebracht. Von Krankheiten, so wäre darauf zu antworten, sollten wir vielleicht tatsächlich erst dann sprechen, wenn das Funktionssystem der Bekämpfung der Krankheit gestört oder überfordert ist. Auch hier wären es Komplikationen, die den Krankheitswert ausmachen. Ansonsten jedoch ist es durchaus beabsichtigt, dass nicht jeder Infekt als eine Krankheit zählt, Schnupfen etwa, sondern nur dann, wenn Überleben und Reproduktion durch ihn bedroht ist. Einigen der typischerweise vorgebrachten Einwände lässt sich also begegnen. Schwerer zu entkräften scheinen mir die folgenden:
Auf welcher Hierarchieebene soll die Funktion angesetzt werden, auf welcher Ebene die Störung? Sind die Merkmale, um die es geht, Merkmale von Zellverbänden (z. B. Membrane), Organen oder Individuen? Oder gar Merkmale der Gattung? Die Funktionstheorien, so haben wir gesehen, gäben all das her. Eine Entscheidung zu treffen, wäre also willkürlich. Doch sich nicht zu entscheiden und Krankheiten auf verschiedenen Ebenen zuzulassen, würde unlösbare Konflikte bringen. Beispielsweise kann etwas, das individuell eine Krankheit ist, zugleich der Gattungsgesundheit nutzen. Solche Binnenkonflikte würden den Krankheitsbegriff von innen aushöhlen.

Verbleibt für das Problem der Abgrenzung von Verbesserung und Behandlung mit diesem Ansatz nicht ein prinzipiell willkürliches Moment? Ab einer bestimmten Abweichung vom statistischen Normal, von normaler Funktionserfüllung, auf einer kontinuierlichen Skala soll von Krankheit gesprochen werden. Doch jede Zahl (Boorse nennt keine) bliebe hier willkürlich gesetzt. Zwischen der Behandlung von Krankheit und der Verbesserung eines (hinzunehmenden) Normalzustands gibt es damit keine qualitative Grenze. Homöostase-Konzepte hingegen vermögen auf qualitative Unterschiede zu rekurrieren (Systemstabilität), ermöglichen in dieser Hinsicht also etwas besser, am alltäglichen Sprachgebrauch zu bleiben.

Die Diskussion psychischer Krankheiten findet, meines Erachtens überraschenderweise, im Boorseschen Paradigma nicht anhand der biologischen Funktionsbegriffe statt. Stattdessen werden Beiträge zu Überleben und Reproduktion als physiologische Funktionen bezeichnet und abgetrennt davon andere, psychische Funktionen wie Gedächtnis, Ko gnition, Emotion usw. zu bezeichnen versucht. Ein Krankheitswert sollte ihrer Störung im Rahmen der Boorseschen Theorie konsequenterweise aber nur zugebilligt werden, wenn sie in statistisch angebbarer Weise notwendig wären, um Überleben oder Reproduktion zu sichern. Offenbar scheut sich der Naturalist, hier die letzte Konsequenz seines Ansatzes zu ziehen.

Der naturalistische Krankheitsbegriff erfüllt die in ihn gesetzten Erwartungen somit nicht: Man stößt vielmehr auf eine Reihe von Funktions-Auffassungen, von denen unklar bleibt, welcher nun für Krankheit und Gesundheit einschlägig ist. Und selbst innerhalb einer dieser Auffassungen verbleiben Mehrdeutigkeiten und Inkonsequenzen, die die Hoffnung auf Eindeutigkeit enttäuscht. Zudem, und Boorse und Wakefield gestehen das ausdrücklich zu, ist mit einem biologisch fundierten „theoretischen“ Krankheitsbegriff der alltägliche, „praktische“ Krankheitsbe griff noch längst nicht erreicht.

Die Normativität des praktischen Krankheitsbegriffs

In der Debatte zwischen Normativisten und Naturalisten wird von einigen der Ersteren eingewandt, dass ein naturalistischer, d.h. ein rein beschreibender, naturwissenschaftlich-biologischer, wertfreier und theoretischer Krankheitsbegriff „unmöglich“ sei. Krankheitsvorstellungen seien kulturell und historisch relativ: Mal zähle etwas als Krankheit, mal nicht, und es liege an veränderten Bewertungen, was wie gezählt werde. Als Beispiele werden Masturbation oder Homosexualität genannt, die uns früher als Krankheiten gegolten hätten, aber auch exotischere Fälle wie die „drapetomania“ (das „runaway disease of slaves“). Teils scheinen diese Veränderungen vielleicht auch mit einem Wandel der biologischen Wissenschaft verbunden zu sein – dann wäre der Krankheitsbegriff nicht in einem stärkeren Maße normativ als jeder andere Begriff der Biologie bzw. des evolutionsbiologischen Paradigmas auch.
Viele Normativisten vertreten aber eine stärkere These. Krankheit sei insofern ein normativer Begriff, als er intern mit einer Negativbeurteilung verbunden sei. Diesem Argument halten Naturalisten entgegen, eine solche Negativbewertung wohne nur dem praktischen Krankheitsbegriff inne. Man könne (und solle!) diesen aber durchaus ausgehend von einem biologischen Krankheitsbegriff verstehen, nämlich als dessen Einengung aufgrund u. a. bestimmter Bewertungen:
Wakefield kombiniert die etiologische Funktionsanalyse mit einem normativen Kriterium der Unerwünschtheit und fasst das unter dem Begriff der „disorder“ zusammen: Nur was beides erfüllt, was also eine Störung der etiologischen Funktion ist und unerwünscht, solle als Krankheit gelten. Diese Konjunktion von Bedingungen entschärft einige Probleme der etiologischen Funktionstheorie, so müssen Störungen von Funktionen nicht mehr automatisch als Krankheit gelten, sondern sie gelten nur dann als Krankheit, wenn sie unerwünscht sind.

Auch Boorse bestreitet für den alltäglichen oder medizinischen praktischen Begriff von Krankheit Normativität nicht. Er hat neben den naturalistischen Begriff „disease“ von Anfang an andere Begriffe gestellt: Zunächst die „illness“ als ausdrücklich wertgeladener Begriff, später dann ein graduelles Konzept von Krankheits- und je komplementären Gesundheitsbegriffen.

Krankheit als „illness“ liegt nach Boorse dann vor, wenn eine Krankheit als disease so schwer ist, dass sie einen unfähig macht (incapacitating) und damit: (i) unerwünscht ist seitens dessen, der sie hat; (ii) mit einem Behandlungsanspruch verbunden ist; und (iii) ein Entschuldigungsgrund ist für ansonsten kritikwürdiges Verhalten. Dieser Begriff soll derjenige sein, der die gesellschaftliche Diskussion und das ärztliche Handeln leitet, so Boorse zunächst; er baut aber ausdrücklich auf dem anderen, naturalistischen Begriff auf.
Auch bei dem von Boorse schließlich vorgeschlagenen graduellen Konzept von Krankheit und Gesundheit erscheint die illness als eine von nun mehreren Abstufungen innerhalb des disease: Nicht jedes disease lässt sich diagnostizieren, nicht jedes diagnostizierbare therapieren, nicht jedes therapierbare wird als illness empfunden – und um etwas empfinden zu können, muss man am Leben sein. Hinzu kommt ein positiver Begriff von Gesundheit, nun nicht mehr nur als die Abwesenheit von Krankheit definiert. Darunter würde wohl auch die berühmte WHO-Definition von Gesundheit fallen: „Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Der Besitz des bestmöglichen Gesundheitszustandes bildet eines der Grundrechte jedes menschlichen Wesens … .“

Die inzwischen in der Ottawa-Charta weiter ausgearbeitete WHO-Definition hat zwar weder unter Medizinern noch unter Biologen Zustimmung gefunden und wird in der Literatur so gut wie immer als typisches Beispiel für eine weitgehend verfehlte, wenig hilfreiche Definition erwähnt. Im Rahmen eines gradualistischen Konzepts scheint es aber durchaus sinnvoll, einen Ort auch für einen solchen Extrembegriff vorzusehen, z.B. als utopischen Fluchtpunkt kontroverser sozialpolitischer Bemühungen („Public Health“).

Krankheit und Gerechtigkeit

Im Versuch der Beantwortung ethisch-politischer Fragen rund um Krankheit und Gesundheit wird die Komplexität des Krankheitsbegriffs leider häufig übersehen oder unterschlagen. Der einflussreiche Ansatz von Norman Daniels etwa will die Frage, wie eine Gesellschaft auf Krankheiten reagieren sollte, unter Zuhilfenahme von Boorses Krankheitsbegriff und der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit beantworten. Rawls’ Theorie beinhaltet drei Gerechtigkeitsprinzipien: (1) Gleiche Freiheit für jeden, (2) Chancengleichheit des Zugangs zu Ämtern und (gesellschaftlichen) Positionen, (3) eine Verteilung von Einkommen und Vermögen so, dass die Positionen der Schlechtestge stellten, in Termini von Einkommen und Vermögen, maximiert werden (Differenzprinzip). Die mit Krankheit einhergehenden Funktionsstörungen, so nun Daniels, würden typischerweise zu einer Verringerung von Chancen und Möglichkeiten führen. Allerdings nicht nur der Chancen auf Ämter und Positionen (wie bei Rawls in seinem zweiten Prinzip formuliert), sondern nun allgemeiner gesprochen der Chancen und Möglichkeiten, seine Lebenspläne zu verwirklichen. Während die Verkürzung von Beeinträchtigungen durch Krankheiten darauf, bestimmte Ämter und Positionen nicht erreichen zu können, ihm zu reduktionistisch scheint, glaubt er, dass mit den Chancen und Möglichkeiten, seine Lebenspläne zu verwirklichen, der wesentliche gerechtigkeitsrelevante Punkt von Krankheiten ausgesprochen ist. Daniels ordnet Krankheiten also einem erweiterten Chancenprinzip zu.

Damit ist das Problem für ihn gelöst: Biologen und Mediziner sagen uns, was Krankheiten sind, und Rawls (und Daniels) sagen uns, was ein gerechter Umgang mit Krankheiten wäre (nämlich, soweit sie Chancen betreffen, für deren Behandlungen solidarisch einzustehen). Doch schon die Verknüpfung von Krankheit allein mit dem Chancenprinzip ist inhaltlich fragwürdig. Krankheiten dürften regelmäßig auch Freiheiten oder Einkommen negativ betreffen. Gravierender noch ist, dass der biologische Krankheitsbegriff von Daniels umstandslos als praktischer Krankheitsbegriff genommen wird und die Überlegungen, die Boorse selbst und die anderen Autoren davon abgehalten haben, diesen Schritt zu tun, ignoriert werden.

Der Vorschlag von Daniels ist einer der wichtigsten normativen Ansätze zur Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen. Aber seine Schwächen sind doch offensichtlich, beruht er doch auf Setzungen, die in zweifacher Hinsicht zu einfach sind: Einerseits sollen politisch kontroverse Fragen der Diskussion entzogen bleiben, andererseits werden die weitergehenden Überlegungen von Boorse („illness“; Graduierungen) ignoriert.

Fazit

Kehren wir zurück zur Ausgangsfrage nach der Unterscheidung zwischen Behandlung und Verbesserung. Die normative Linie führte in den ethischen Pluralismus. Die naturalistische Linie, die genauer dargestellt worden ist, führte in eine komplexe Grundlagendiskussion um die Frage nach dem Wesen natürlicher Funktionen in der Biologie und damit in den epistemologischen Pluralismus. Entlang beider Linien lassen sich daher keine einheitlichen Antworten finden. Das heißt, dass auch die biologisch orientierte Medizin, auf die viele ihre Hoffnungen setzen, keine zureichende Antwort liefern kann auf die Frage, wann etwas eine Behandlung ist und wann eine Verbesserung. Dem praktischen Krankheitsbegriff scheinen naturale und normative Elemente in einer m. E. noch weiter klärungsbedürftigen Komplexität zugrunde zu liegen, die allzu einfache biologisch-naturwissenschaftliche oder ethisch-politi sche Betrachtungen hinfällig erscheinen lässt. Bis auf weiteres gibt es einen legitimen Spielraum hinsichtlich dessen, was Menschen als Krankheit im theoretischen und erst recht im praktischen Sinne auffassen, d.h. darüber, wie sie Krankheit und Gesundheit bei sich und bei anderen verstehen wollen.

Unsere ethische Beurteilung von und unser politischer Umgang mit Forderungen, Vorbehalten und Ähnlichem auf dem Feld von Behandlung und Verbesserung sollte dem Rechnung tragen.

UNSER AUTOR:

Niels Gottschalk-Mazouz ist Professor für Philosophie an der Universität Bayreuth. Von ihm ist zum Thema erschienen:

Gottschalk-Mazouz, N. / Zurhorst, G. (2007), 136 S., kt., € 24.90, Krankheit und Gesundheit. Philosophie und Psychologie im Dialog Bd. 4, Vandenhoeck, Göttingen.

Mazouz, N. (2004): „Krankheit, Gesundheit, gutes Leben und liberale Ethik“. In: Dialektik (1): 97-116.

Literatur zum Thema

Hucklenbroich, P. (2007): Krankheit – Be griffsklärung und Grundlagen einer Krankheitstheorie. Erwägen – Wissen – Ethik 18 (1). Erweiterte Onlinefassung unter
http://egtm.klinikum.uni-muenster.de/
mitarbeiter/hucklen/Krankheitsbegriff.pdf

Boorse, C. (1997): “A Rebuttal on Health”. In: Humber, J. M.; Almeder, R. F. (Hg.): What Is Disease? Totowa, S. 3–134.

Daniels, N. (1985): Just Health Care. Cambridge.

PCB President’s Council on Bioethics (2003): Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness. Washington, D.C.
(www.bioethics.gov/reports/beyondtherapy/)

Wakefield, J. C. (1992): “The Concept of Mental Disorder. On the Boundary between Biological Facts and Social Values”. In: American Psychologist 47, S. 373 –388

WHO (1986): Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung (www.euro.who.int/AboutW
HO/Policy/20010827_2?language=German).

Wouters, A. G. (1999): Explanation Without A Cause. Dissertation Universität Utrecht.
(www.morepork.demon.nl/diss/index.html)