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Bioethik als Rechtfertigungsmechanismus? Hans-Martin Sass antwortet Kritikern der Bioethik.
Frau Praetorius, ist die Bioethik, wie sie gegenwärtig betrieben wird, nichts anderes als ein bloßer Rechtfertigungsmechanismus der naturwissenschaftlichen Forschung? Ina Praetorius: Ein großer Teil der Bioethik scheint mir tatsächlich ein solcher "Rechtfertigungsmechanismus" zu sein. Ich habe die gängige Bioethik, wie sie von den Naturwissenschaften und ihrem Vermarktungsapparat akzeptiert und sogar gefördert wird, deshalb auch schon als "Hofethik" bezeich-net. Bioethik in diesem Sinne zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Denkvoraussetzungen der Forscher diskussionslos akzeptiert (z.B. die noch immer als Realität behauptete Trennung zwischen Grundlagenforschung und Anwendung), daß sie die Diskussion bestimmter Fragen vermeidet (z.B. die militärischen Anwendungen der Gentechnologie oder deren Auswirkungen auf die Dritte Welt) und daß sie sich weitgehend auf Kasuistik im Kontext westlicher Gesellschaften beschränkt. Der Begriff "Bioethik" ist aber glücklicherweise nicht geschützt. Deshalb ist es möglich, daß AußenseiterInnen sich einmischen und die Auseinandersetzung mit den vergessenen oder verdrängten Problemen einfordern: Läßt sich die verharmlosende Rede von "Chancen und Risiken" noch rechtfertigen, wenn militärische "Nutz"anwendungen nicht aus dem Blickfeld gedrängt werden? Wie sachgemäß ist angesichts der ökonomischen Verflechtungen von Forschung und Industrie heute noch die Trennung von Grundlagenforschung und Anwendung? Was bedeutet Kasuistik im Kontext hochtechnisierter westlicher Medizin, wenn 90 Prozent der Weltbevölkerung sich diese Medizin nicht leisten können und eine weltweite Anhebung des medizinischen Standards auf westliche Verhältnisse jenseits des Machbaren liegt? Wenn Bioethik solche Fragen nicht mehr verdrängt, wird sie ihrer Aufgabe gerecht, Frage nach dem guten Leben für alle zu sein. Herr Sass, muß der Bioethiker, um von den Naturwissenschaftlern und den Medizinern akzeptiert zu werden, so etwas wie ein "Hofethiker" sein und die von Frau Praetorius genannten Fragen "verdrängen"? Hans-Martin Sass: Jeder, der auch nur ein wenig bioethische Diskussionen der letzten zwanzig Jahre kennt, wird die Frage, ob "Bioethik" eine "Hofphilosophie" von Medizin und Biowissenschaften sei, sehr befremdlich finden. Ist denn der Technische Überwachungsverein die Hofschranze der Ingenieure, der Richter ein williger Diener derer, die gegen Recht und Anstand verstossen, der Finanzbeamte ein bestechlicher Büttel des steuerzahlenden Bürgers? Die Vergleiche hinken, und Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich kenne den Vorwurf, die Bioethik sei der Steigbügelhalter eines kapitalistischen und menschenverachtenden biomedizinischen Establishments. Aber ich habe diesen absurden Vorwurf nur im deutschsprachigen Kulturraum gehört. Wieso nur hier, - ein neuer deutscher Sendungsauftrag an die Welt? Warren Reich hat in der ersten Auflage (1978) der von ihm herausgegebenen Encyclopedia of Bioethics, seit 1975 in neuer Auflage mit acht Bänden, Bioethik definiert als "das systematische Studium des menschlichen Verhaltens auf dem Gebiet der Wissenschaften vom Leben und in der Gesundheitspflege, insoweit dieses Verhalten im Licht moralischer Werte und Prinzipien be-wertet wird". Rückschauend, auch im Blick auf eine sechsstellige Zahl von Publikationen auf diesem faszinierenden neuen transdisziplinären Gebiet, ist dieser Definition nichts hinzufügen. Von der differenzierenden ethischen Sensibilität, welche in der Bioethik neue technische Möglichkeiten und Herausforderungen und tradierte Tugenden und Prinzipien differentialethisch abzuwägen gelernt hat, können einige dogmatistische theologische und philosophische Positionen lernen, die fixiert auf ihre Theoreme viel zu oft den Mitmenschen vergessen, vor allem den ab-hängigen, den leidenden und hoffenden. Wie wollen wir denn als Menschen überleben, und wie wollen wir unsere akademische Verantwortung in Forschung und Leh-re ernst nehmen, wenn wir nicht mitarbeiten, methodische Instrumente der Abschätzung von Technikfolgen und Theoriefolgen zu entwickeln und anzuwenden. Gäbe es die Bioethik nicht, müßte sie auch im Interesse eines globalen transkulturellen und transdisziplinären Dialoges über Chancen und Risiken von Techniken und Theorien erfunden werden. Herr Wunder, Sie sind Verfasser einer "Grafenecker Erklärung zur Bioethik". Worum geht es in dieser Erklärung, und wie stehen Sie zu dem Vorwurf, die Bioethik sei lediglich eine "Hofethik" der Naturwissenschaften? Michael Wunder: Den Begriff der Hofethik halte ich für angemessen, man könnte sogar von einer Dienstleistungsethik sprechen, da der mainstream der Bioethik, dem jeweiligen technischen Entwicklungsstand nachfolgend, die Anwendung aller Methoden der Biowissenschaften legitimiert, statt diese auf einer sozialethischen Basis einer strikten menschenrechtlichen Bewertung zu unterziehen. Die "moral‑cost‑benefit analysis" und das Menschenbild der Bioethik erweisen sich dabei als äußerst dienstbar für den biomedizinischen Zugriff auf den Menschen. Menschliches Leben ist für die Bioethik prinzipiell ohne Wert und Sinn und muß sich solchen erst durch Handlungen erwerben. Hierfür sind Eigenschaften wie Selbstbewußtsein, Selbstkontrolle, Gedächtnis und Kommunikationsfähigkeit Voraussetzung. Erst durch diese Eigenschaften wird der Mensch für die Bioethik zur "Person", die Recht besitzt, Würde und Wert. Die Bioethik unterzieht menschliches Leben damit einer Qualitätskontrolle, unterhalb der es "unpersonal", ohne Würde und Rechtsgarantie ist. Dieser entscheidende Grundsatz der Bioethik steht in einem unauflösbaren Widerspruch zum christlichen Menschenbild und zur Universalität des humanistischen Menschenrechtsgedankens. "Menschen mit Behinderungen oder Alterserkrankungen werden durch die Bioethik abgewertet, zu Forschungsobjekten und zu Materiallagern für Transplantate degradiert", heißt es deshalb in der Grafenecker Erklärung, "Sterbende zum Kostenfaktor und Embryonen zu Sachen erklärt". Grafeneck ist nicht nur der Entstehungsort der Erklärung. Der Name steht auch für die Dringlichkeit des Inhalts. Im Rahmen des "Euthanasie"‑Programms der Nationalsozialisten wurden 1940 in Grafeneck/Schwäbische Alb rund 10.000 Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Krankheiten durch Giftgas getötet. Herausgeber der Erklärung ist der "Arbeitskreis zur Erforschung der 'Euthanasie'‑Geschichte", ein loser Zusammenschluß von Ärzten, Psychologen, Theologen, Juristen, Krankenpflegekräften und Historikern, die seit Anfang der 80er Jahre die NS‑Vergangenheit der deutschen Psychiatrie aufarbeiten. Im Herbst 1995 kam dieser Arbeitskreis in Grafeneck zusammen, um mit einer Erklärung auch zur aktuellen Debatte Stellung nehmen. Besonders bedrohlich ist der in der Bioethik‑Konvention des Europarates geplante Forschungszugriff auf einwilligungsunfähige Menschen, an denen fremdnützige medizinische Forschung ohne persönliche Zustimmung zugelassen werden soll, wenn dies dem Wohl anderer Patienten und nachfolgender Generationen Nutzen bringt. Die individualethische Bindung der Medizin droht hier erneut durch eine kollektivethische ersetzt zu werden. Die Grafenecker Erklärung fordert dagegen die Anerkennung des Nürnberger Ärztekodex von 1947 als Grundlage auch für die heutigen Fragen der Medizinethik. Der Kodex wurde angesichts der nationalsozialistischen Medizinverbrechen als allgemeine und international anerkannte ethische Grundlage der Medizin formuliert. Auf dieser Basis unterliegt jede Behandlung, jeder Heilversuch und jedes medizinische Experiment der informierten und freiwilligen Zustimmung des Betroffenen. Eine Ab-wägung mit den Interessen der Gemeinschaft oder anderer Kranker am medizinischen Fortschritt bleibt ausgeschlossen. Die alte Illusion einer "Magna Therapia", der Heilung des "Volkskörpers", die Bioethik sagt heute: der "Spezies Mensch", auf Kosten des Einzelnen, zieht wieder herauf. Und damit droht eine Wiederholung der Ge-schichte. Ich weiß, daß den Deutschen von den Bioethikern immer wieder vorgeworfen wird, sie behinderten die internationale Debatte mit ihrer unaufgearbeiteten Geschichte. Ich aber finde, daß gerade unsere Geschichte, die wir ja mehr und mehr aufarbeiten, uns verpflichtet, besonders sensibel und wachsam zu sein. Herr Sass, kommen wir auf ein von Frau Praetorius angesprochenes konkretes Beispiel zurück: Die Länder der Dritten Welt können sich auch bescheidenere medizinische Einrichtungen kaum leisten, während in der westlichen Welt im Extremfall für einen einzelnen Patienten eine Summe ausgegeben wird, für die man in den Entwicklungsländern Hunderten von Menschen hel-fen könnte. Ist das ein Problem, das, wie Frau Praetorius zu unterstellen scheint, von der Bioethik übersehen wird, oder gehört das bereits zu den "dogmatistischen Positionen"? Hans Martin Sass: Die ethischen Herausforderungen der Ungewichtigkeiten von Gerechtigkeit, Ressourcenverteilung, Naturausbeutung und Gleichheitschancen zwischen den "reichen" Ländern des Nordens und den 'armen' Ländern des Südens (genauer: zwi-schen Mitmenschen, nicht "Ländern"), sprengen den engeren Rahmen der Bioethik, bleiben aber auch hier, wie die Literatur dokumentiert, nicht undiskutiert. Nicht selten werden aber bei uns die Dimensionen der ethischen Risiken anders gesehen als dort, beispielsweise wo man große Hoffnungen auf eine genetische Manipulation von Kulturpflanzen im Kampf gegen Hunger und Umweltausbeutung setzt. Hohe Sterblichkeitsraten und fehlende ärztliche Versorgung in vielen Ländern verlangen nach Mitverantwortung und mitmenschlicher Solidarität derer, die das unverdiente Glück haben, in reicheren und sozialeren Gesellschaften zu leben. Praktizierte Solidarität mit Kranken, Schwachen und Ausgebeuteten ist ein Gradmesser für die individuelle, die professionelle und die kollektive ethische Kultur. Das kann aber nicht heißen, daß ein Arzt Patienten, die sich ihm anvertrauen, medizinische und menschliche Zuwendung und finanzielle Ressourcen deswegen vorenthält, weil Mitmenschen in anderen Ländern verhungern, unfrei sind, unhygienisch leben und keine medizinische Basisversorgung haben: salus aegroti suprema lex ist das klassische arztethische Prinzip, das die Verantwortung für das schwache und hilfsbedürftige Individuum über das Heil der 'Menschheit' stellt. Die Bioethik kann diese Spannung zwischen der Verantwortung dem kranken Mitmenschen gegenüber und der weltbürgerlichen Solidarität wohl thematisieren, aber nicht generell lösen. Ina Praetorius: Ihre Antwort, Herr Sass, ist insofern angemessen, als sie den ungeheuren Graben, der sich zwischen einer globalen Gerechtigkeits‑ und Verantwortungsethik und dem kasuistischen Raisonnement biomedizinischer Ethik auftut, nicht abstreitet. Ich meine aber, daß die Lösung, die Sie anbieten, der Problematik nicht gerecht wird. Sie schlagen einfach vor, beide Fragehinsichten voneinander zu trennen und be-helfen sich, um die Unangemessenheit dieser Lösung nicht allzu deutlich hervortreten zu lassen, mit einer vagen "mitmenschlichen Solidarität". In welchem Verhältnis steht aber diese mitmenschliche Solidarität zu dem klassischen arztethischen Prinzip, das Sie zitieren? Es liegt mir fern, die hohe Relevanz dieses Prinzips abzustreiten oder zu verharmlosen. Wir machen uns unsere Arbeit als Ethikerinnen und Ethiker aber zu einfach, wenn wir die Verantwortung des hochspezialisierten Arztes in einem reichen Land nicht im Kontext einer horrend ungerechten Welt jedenfalls zu denken versuchen. Bei der Frage nach der globalen Gerechtigkeit geht es ja nicht, wie Sie behaupten, um ein vages "Heil der Menschheit", dem eine "Verantwortung für das schwache und hilfsbedürftige lndividuum" gegenüberzustellen wäre. Denn auch in Ländern mit unzureichender medizinischer Versorgung steht nicht das Heil einer undifferenzierten Masse, sondern ebenso das Leben einzelner Individuen auf dem Spiel wie in der Praxis des westlichen Spezialisten. Ihre Gegenüberstellung scheint mir eine ungerechtfertigte Wertabstufung zwischen einer kollektiven "Menschheit" in armen Ländern und individuell zu behandelnden Patienten in reichen Ländern zu implizieren. Einer solchen impliziten Rangfolge gegenüber scheinen mir historisch informierte Einwände, wie sie Herr Wunder vorbringt, äußerst berechtigt und nicht als "absurde Vorwürfe" abzutun, die angeblich nur im deutschsprachigen Raum vorgetragen werden. Können Sie mir erklären, wie Sie die Einteilung der Ethik in unverbundene Sparten, die Sie zu vertreten scheinen, vor dem Anspruch der Ethik, integrale Frage nach dem guten Leben aller zu sein, und vor dem Prinzip der unverlierbaren Menschenwürde aller rechtfertigen wollen? Hans-Martin Sass: Ich verstehe Ihre merkwürdig generalisierend moralisierende Argumentation nicht, Frau Pfarrer Praetorius. Gibt es denn ethische Argumente, mit denen Sie beispielsweise den über 200.000 dialysepflichtigen Mitbürgern Westeuropas die weit über 16 Milliarden Schweizer Franken pro Jahr kostende Dialysebehandlung (nur Haemodialyse) im Namen einer 'globalen Gerechtigkeit' wegnehmen könnten oder gar wollten? Sehr, sehr wenige europäische Mitbürgerinnen und Mitbürger würden sich Dialysen, Transplantationen, Herzklappen‑ und Bypass‑Operationen überhaupt privat erlauben können oder teure Behandlungen von Krebs und AIDS. Wollen Sie dann diese und vergleichbare 'Luxusmedizin' im Interesse einer egalisierenden Gerechtigkeit verbieten? Bei dieser teuren Medizin geht es ja nicht einmal um das "gute", noch weniger um das "luxuriöse" Leben, sondern um das schlichte Leben und Überleben. Sind denn diese wirksamen, leider aber auch teuren medizinischen Hochtechnologien der reicheren Länder wirklich, wie Sie in Ihrem Buch über feministische Ethik (S. 146) schreiben, einer männlichen Rationalität entsprungen, "die Natur, Frauen, subjektive Verschiedenheiten, Alter, Tod, Behinderte, nichtweiße Frauen und Männer in den Objektbereich abdrängt und nur die gefühlsfreie sogenannte objektive Erkenntnis des solipsistischen Subjekts als wahr gelten läßt"? Und wofür sollten die in der Spitzenforschung für Krebs und AIDS eingesparten Mittel in den Entwicklungsländern ausgegeben werden, für Schwangerenberatung, Kin-derheilkunde, Impfprogramme, Hygiene, Schulen, Erwachsenenmedizin, gesundes Trinkwasser, Nahrungsmittel oder Nahrungsmittelanbau? Herr Sass, bevor wir die Frage an Frau Praetorius zur Beantwortung weiterleiten: bleiben wir einen Moment bei der ersten von ihr gestellten Frage. Ist es denn kein Argument, wenn jemand sagt, es sei ungerecht, soviel Geld für dialysepflichtige Europäer auszugeben, solange mit dem Geld für die Behandlung einer Person in Europa in Entwicklungsländern zehn oder mehr Menschen vor dem sicheren Tod und vor grauenvollen Schmerzen bewahrt werden können? Gerechtigkeit ist ja eine spezifisch ethische Kategorie. Hans-Martin Sass: Natürlich, Herr Moser, ist die Frage von Frau Praetorius nach einer gerechteren Verteilung der Chancen und Ressourcen von Mitmenschen der südlichen und der nördlichen Erdhälfte berechtigt, - mehr noch: sie ist notwendig, ethisch unerläßlich und politisch unverzichtbar. Die Frage der praktischen Ethik ist aber: wie? Vielleicht fragt Frau Pastor Praetorius mal einen AIDS-Kranken oder Dialysepflichtigen in ihrer Gemeinde, welche Gelder für Krankenpflege man "hier" reduzieren soll, um sie dann "dort" (wofür genau?) auszugeben. Gerechtigkeit ist unteilbar; welchen Preis aber wollen die reichen Gesellschaften zahlen bei nationaler oder kontinentaler Gesundheitssolidarität, um globale Solidarität zu realisieren? Das ist eine immer wieder in der Bioethik gestellte Frage, deren Antwort aber aus der Ordnungsethik und der Solidaritätskultur kommen muß.
Kommen wir nun wieder zur Ausgangsfrage zurück. Frau Praetorius, können Sie uns genauer erläutern, warum die Bioethik, wenn sie weitgehend Kasuistik im Kontext westlicher Gesellschaften betreibt oder die Auswirkungen der Gentechnologie auf die Dritte Welt ausblendet, ein bloßer Rechtfertigungsmechanismus naturwissenschaftlicher Forschung bzw. eine Hofethik ist? Wo genau besteht der Zusammenhang? Herr Sass gibt ja zu, daß die Verteilung der Ressourcen ein ethisches Problem ist, aber daß er als Bioethiker auch davon betroffen sein soll, damit ist er offensichtlich gar nicht einverstanden. Ina Praetorius: Ich glaube, es ist wichtig, sich darüber klar zu sein, daß wir noch keine globale Ethik haben ‑ weder denkerisch noch institutionell ‑, daß es aber kaum etwas gibt, das wir dringender nötig hätten. Als europäische EthikerInnen sprechen wir zwar selbstverständlich von der Unteilbarkeit der Menschenwürde, aber wir haben keine Methode entwickelt, um mit dieser Unteilbarkeit ernst zu machen. In der Praxis behelfen wir uns mit einer Einteilung der Ethik in Sparten: Ressourcenverteilung geht die Wirtschaftsethik an, die Bioethik hat andere Probleme etc. Tatsache ist aber, daß wir mit dieser Praxis die Rede von der Un-teilbarkeit unserer Grundwerte Lügen strafen und die Augen verschließen vor der Provinzialität unserer Fragestellungen. Faktisch ist die westliche Bioethik so angelegt, daß sie nur einen Weg zur Heilung von Menschen ‑ die westlich‑technische Medizin ‑ und nur eine Gruppe von Menschen ‑ pri-vilegierte Eliten ‑ im Blick hat. Diese Perspektive ist in mehrfacher Beziehung provinziell und verabsolutiert die ressourcenintensive und gewinnbringende westliche Na-turwissenschaft als eine Art Königsweg zur Gesundheit. Ich kann nicht beweisen, daß hinter dieser mehrfachen Verengung des Blickwinkels - neben ethischen Motiven - auch Interessen an einer Art "Gewinnbeteiligung" stecken. Aber ich werde den Ver-dacht nicht los. Die erste Aufgabe der Ethik in unserer global vernetzten Welt wäre die Entwicklung einer Methodologie, die Globalität, ungerechte Ressourcenverteilung und Pluralität der Werte und Kulturen nicht ausblendet, sondern zu ihrer Grundlage macht. Auch wenn ich im einzelnen nicht mit Hans Küngs Entwurf eines "Weltethos" einverstanden bin, meine ich doch, daß die Ethik in diese Richtung denken muß, bevor sie irreversible wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen mit einem schlecht begründeten, weil auf provinziellen Denkvoraussetzungen beruhenden Gütesiegel "ethisch getestet" versieht. Mir ist klar, daß diese Forderung nach einer global verantworteten Ethik konkrete Fragen ‑ wo sollen wir sparen? wie sollen wir gerechter verteilen? ‑ zunächst außen vor läßt. Kommen wir zurück zur Bioethik-Konvention des Europarates. Herr Wunder, Sie kritisieren den Forschungszugriff auf einwilligungsunfähige Menschen. Aber dieser Zu-griff wird ja eingeschränkt, indem es heißt, "an handlungsunfähigen Personen sind Ein-griffe zu Forschungszwecken nur zulässig, soweit sie deren Gesundheitszustand unmittelbar und erheblich verbessern sollen". Wollen Sie eine "erhebliche Verbesserung" des Zustandes handlungsunfähiger Personen von vornherein verhindern? Michael Wunder: Leider ist dem nicht so. In Artikel 17, Punkt 2, der Konvention heißt es, daß Forschung, die "nicht das Potential des Nutzens für den Probanden hat", an einwilligungsunfähigen Menschen erlaubt sein soll, wenn damit eine "beträchtliche Verbesserung des wissenschaftlichen Verständnisses über den Zustand, die Krankheit oder die Störung des Probanden" erreicht werden kann, die "der betroffenen Person oder anderen Personen in der gleichen Alterskategorie oder die von der gleichen Krankheit oder Störung betroffen oder in dem gleichen Zustand sind" Nutzen bringt. Es geht also um fremdnützige Forschung ohne persönliche Einwilligung, nicht um den Heilversuch, dessen Absicht immer der Nutzen des Probanden ist und der bei uns, wie in fast allen anderen Ländern, möglich ist bei Vorliegen einer Ersatzeinwilligung des gesetzlichen Betreuers oder des Sorgeberechtigten. Der Nürnberger Kodex von 1947 hat auf Grund der Erfahrungen der Medizin im Nationalsozialismus das medizinische Experiment, also die fremdnützige Forschung, an die persönliche Einwilligung gebunden, die nicht an Dritte übertragbar ist. Menschen, die nicht einwilligen können, sind damit vor Medizinexperimenten geschützt. Diese Norm, die historisch mit unendlich viel Leid belegt ist, soll jetzt mit der Konvention des Europarates endgültig gekippt werden. Versuche dazu hat es über Jahrzehnte im Vorfeld fast jeder Deklaration des Weltärztebundes gegeben. Bis heute gilt aber die Nürnberger Norm und ist zum Beispiel auch in unserem Grundgesetz verankert. Den Autoren der Konvention ist dieser Tabubruch offensichtlich klar. Deshalb mühen sie sich ab, Ersatzlegitimationen zu erfinden. Von "Gruppennützigkeit" statt Fremdnützigkeit ist da die Rede. Gemeint ist: der Nutzen für die gleiche Patientengruppe oder die gleiche Altersgruppe. Es ist dies ein Versuch der Verharmlosung. In den Erläuterungen zur Konvention stehen Beispiele für die gruppennützige Forschung wie z.B. "Forschung an KomaPatienten zur Ver-besserung der Intensivmedizin", also eine in klassischer Weise fremdnützige Forschung, was auch nicht durch die Denkfigur der "Gruppe der Intensivmedizinpatienten", die hiervon profitieren soll, abgeschwächt wird. Einige Befürworter der Konvention haben den Begriff der "Forschungswaisen" erfunden, zu denen einwilligungsunfähige Menschen mit Behinderungen würden, wenn mit ihnen nicht geforscht würde. Die Menschen mit geistigen Behinderungen, die ich kenne (ich arbeite seit 15 Jahren in einer Einrichtung für Menschen mit geistigen Behinderungen), haben diese Befürchtung nicht. Vielmehr wollen sie in erster Linie respektvoll behandelt werden. Dies wäre aber in entscheidender Weise gefährdet, wenn die Konvention Wirklichkeit würde und in Fol-ge dessen ein Sonderforschungsrecht für die Gruppe der Einwilligungsunfähigen geschaffen würde. Zu hoffen ist deshalb, daß die Konvention des Europarates von Deutschland nicht unterzeichnet und ratifiziert wird. Im Gegensatz dazu sind Sie, Herr Sass, für eine Unterzeichnung der Konvention. Beunruhigt Sie dieser Artikel 17, Punkt 2 nicht? Hans Martin Sass: Mich beunruhigt nicht nur der Artikel 17 der Bioethik-Konvention des Europarates. Ich halte die gesamte Konvention nach Inhalt und Methode ethisch und politisch für Murks und habe mich seit Jahren, zuletzt in einem Aufsatz in "Aktuelle Gespräche", Evangelische Akademie Bad Boll, 44. Jg. (3/96) dagegen ausgesprochen. Es ist einfach nicht akzeptabel, daß hinter verschlossenen Türen eurokratisch 'ethische Werte' ausgekungelt werden wie Fischfangquoten oder die Zahl der Lastwagenachsen auf Europas Straßen. Wichtige Themen feh-len, für andere werden "Ausnahmeregelungen" akzeptiert; das ganze Verfahren wurde ohne öffentlichen Diskurs "durchgezogen". Herr Wunder, was meinen Sie damit, daß die Bioethik die Anwendung aller Methoden der Biowissenschaft legitimiert? Herr Sass hat uns gerade erklärt, er sei auch inhaltlich mit der Bioethik-Konvention des Europarates nicht einverstanden? Herr Sass lehnt hier die Bioethik‑Konvention des Europarates als bürokratische Normenverhandlung von Euro‑Bürokraten ab. So sehr auch ich das undemokratische Verfahren kritisiere, so wenig stellt sich dadurch eine Gemeinsamkeit her. Auf der zi-tierten Tagung in Bad Boll hat Herr Sass sein Nein zur Konvention unter anderem damit begründet, daß hier Chancen vertan worden seien, weil das Recht auf Nicht‑ Wissen genetischer Risikofaktoren formuliert worden sei (übrigens nur in den nicht von den Staaten verabschiedeten, völlig un-verbindlichen "Erläuterungen"), statt einer Pflicht zum Wissen über genetische Bela-stungen. Diese Forderung von Herrn Sass, die er mit dem "Respekt vor der Würde der Mitmenschen" begründet, erinnert mich in fataler Weise an die totalitäre "Pflicht zur Erbgesundheit". Weiter können die Begründungen, die Konvention abzulehnen, gar nicht auseinanderliegen. Zur Legitimationsbereitschaft der Bioethik stelle ich die Behauptung auf, daß die Bioethik über keine Instrumente verfügt, mit denen Methoden der Biowissenschaften kri-tisch zu überprüfen wären und ihre Anwendung zum Beispiel geächtet werden könnte. Die Bioethik betreibt weitenteils fallbezogene Abwägungsdiskurse ‑ "ethische KostenNutzen‑Analysen", wie Herr Sass selbst sagt ‑ bei denen handlungsbezogene Prinzipien wie die der Selbstbestimmung, der sozialen Zuträglichkeit und der Fürsorge gegeneinander abgewogen werden. Hinter der Fassade der reinen Rationalität und der Prozeßorientierung versteckt die Bioethik ihren meiner Meinung nach hochgradig ideologischen Hintergrund. Die Aneinanderreihung dieser Prinzipien als gleichberechtigt suggeriert, daß diese tatsächlich frei und jenseits von gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht aus-gehandelt werden könnten. Aber weder sind die Individuen, die hier in einen freien Ab-wägungsprozeß treten sollen, gleichberechtigt, noch sind es die Prinzipien untereinander. Menschenrechtliche Schutzgarantien des Einzelnen, wie die Menschenwürdegarantie, zerschellen in solchen Abwägungsdiskursen ebenso wie verantwortungsethische Positionen, die von unverhandelbaren Grundwerten ausgehen. Für die jeweils neu-esten biowissenschaftlichen Methoden ‑ vor wenigen Jahren zum Beispiel die in‑vitro Fertilisation, heute die Präimplantationsdiagnostik, morgen vielleicht der embryonale Keimbahneingriff ‑ gab und gibt es immer einzelne Menschen, die eine Anwendung für sich beanspruchen. Die bioethischen Fall‑Abwägungen sind ein ideales Instrument, diese biomedizinischen Methoden jeweils zum Zeitpunkt ihrer technischen Ausreifung auf der Folie der Interessen einzelner Nutznießer zu legitimieren und in eine breite Anwendung zu bringen. Gesellschaftliche Fernwirkungen von so zustande gekommen (massenweisen) Einzelentscheidungen werden in der Bioethik ebenso ausgeblendet wie historische Erfahrungen. Nach Auschwitz und nach Hadamar kann es in meinen Augen keine Medizinethik mehr ohne Geschichte geben und ohne gesellschaftliche Verantwortung. Dies negiert die Bioethik und verabsäumt es zu-dem, als Teilethik ihre Vereinbarkelt mit einer Grundlagenethik klären. Hans Martin Sass: Noch ein Wort zu dem unspezifischen Theoretisieren über eine "globale Ethik" von Frau Praetorius. Ethische Herausforderungen in den demokra-tisch wie wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern machen mir nicht weni-ger Sorgen als anderen Bioethikern. Frau Praetorius kennt diese Diskussion nicht oder unterschlägt ihre Kenntnis davon. Sie bleibt unkommunikativ und beansprucht diese Sor-ge exklusiv für sich selbst, vielleicht weil sie nicht bereit ist, das ihr liebgewordene Vorurteil über "Bioethik" zu revidieren. Sie ist ja auch nicht bereit, die Konsequenzen zu diskutieren, die sich aus ihrer Theorie für Patienten in Europa und anderen reicheren Ländern ergeben würden und bleibt die Antwort schuldig, ihre Vorwürfe gegenüber einer "männlichen Rationalität" zu begründen. Ina Praetorius: Die Antwort hinsichtlich meiner Kritik an "männlicher Rationalität" bleibe ich nur in diesem Gespräch schuldig, dessen begrenzten Rahmen sie sprengen würde. Ich habe mich zu keiner Frage so häufig und so ausführlich öffentlich geäus-sert wie zu dieser. Zum Schluß unseres Gespräches möchte ich festhalten, daß wir drei uns einig sind darüber, daß die Bioethik, so wie sie heute betrieben wird, erhebliche Mängel aufweist. Uneinig sind wir uns über die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Ich selbst bin nicht bereit, die Bioethik trotz ihrer offenkundigen Defizite als isolierte "Spartenethik" weiterzubetreiben. Vielmehr möchte ich die Frage nach der Unteilbarkeit der Menschenwürde in dieser ungerechten Welt als professionelle Ethikerin weiterhin stellen. Selbst wenn diese Frage, wie ich zugebe, in der Welt hochspezialisierter (Ethik‑)Experten "unspezifisch" anmutet, ist und bleibt sie laut unserer westlichen Tradition die zentrale ethische Frage. Im übrigen bin ich als MS‑Betroffene sehr direkt mit der Frage konfrontiert, wie sich PatientInnen im reichen Europa zu den Angeboten und Prophezeiungen hochspezialisierter Schulmedizin und den entsprechenden Gerechtigkeitsfragen stellen sollen. Mir persönlich bringen die hochfahrenden und doch genau besehen so vagen Versprechungen der Medizin ‑ gerade im Falle meiner Krankheit ‑ zur Zeit viel weniger als ein freundliches, gesprächsbereites, gerechtes soziales Umfeld, das nach menschlichem Maß gestaltet ist. Ob sich daran in Zukunft etwas ändern wird ? Hans-Martin Sass: Für Freunde und Gläubige der Diskurstheorie bietet sich der in diesem "Gespräch" mißlungene Dialog als Forschungsprojekt von Scheitern von Dialogen an. Eine erste Vermutung: Mir scheint sowohl bei Herrn Wunder wie vor allem bei Frau Praetorius eine granitene Vorwegüber- zeugung unausrottbar zu sein, die nämlich, daß in den Worten von Frau Praetorius, Bioethik "nur eine Gruppe von Menschen - privilegierten Eliten - im Blick hat", sie meint westliche, die von der der "westlich- technischen Medizin" profitieren und setzt dagegen eine vage Weltethik-Romantik und eine Attitude gegen westliche Medizin über- haupt. Wer nur ein wenig die internationale bioethische Diskussion und Literatur kennt, wird die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, daß am Ende unseres Jahrhunderts hier in Mitteleuropa solch ein unaufgeklärter Aberglaube nicht nur überlebt hat, sondern gar nicht einmal unprominent ist und auch nicht ohne Nachbeter. Schade für die Patienten, die von einem unideologischen europäischen und globalen Diskurs - differentialethisch, d.h. normativ, aber an Fakten orientiert - auch über die Schwachpunkte der heutigen, in der Tat anglo-amerikanisch dominierten Bioethik profitieren würden.
Die Gesprächsteilnehmer:
Hans-Martin Sass ist Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität, Bochum, und Senior Research Scholar am Kennedy Intitute of Ethics der Georgetown Universität, Washington DC. Ina Praetorius ist promovierte evangelische Theologin und Ethikerin in Krinau (Schweiz), und Michael Wunder ist promovierter Psychologe und Psychotherapeut und arbeitet in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg, einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung.
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