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Ethik: Ist es aus konsequentialistischer Sicht wünschenswert, daß die Gesellschaft aus Konsequentialisten besteht? |
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Ein Gespräch zwischen Dieter Birnbacher und Julian Nida-Rümelin
Herr Nida-Rümelin kritisiert die konsequentialistische Variante des Utilitarismus, sie führe u.a. zu letztlich nicht wünschenswerten Strukturen individuellen und gesellschaftlichen Verhaltens. Wird hier, wie sich Herr Kersting ausdrückt, der Konsequentialismus "mit seinen eigenen Waffen geschlagen"? Birnbacher: Zunächst ist zu fragen, wonach die "Unerwünschtheit" der Folgen einer Befolgung utilitaristischer Prinzipien bemessen wird, - nach einem dem Utilitarismus immanenten oder nach einem transzendenten Maßstab. Selbstverständlich kann nur dann davon die Rede sein, daß der Handlungsutilitarismus sich selbst widerlegt, wenn die Befolgung des Prinzips der gesellschaftlichen Nutzenmaximierung zu Konsequenzen führt, die auf der Grundlage der utilitaristischen Axiologie selbst unakzeptabel sind. Ich betone das deshalb, weil ich den Eindruck habe, daß keineswegs alle von Herrn Nida-Rümelin dem Utilitaristen unterstellten Konsequenzen auch aus utilitaristischer Sicht unerwünscht sind (z.B. nicht die Haltung, unter Bedingungen, die keine andere Wahl lassen, das kleinere von zwei Übeln zu wählen.) Ich greife drei der dem Utilitaristen zugeschriebenen Konsequenzen heraus, die auch für Utilitaristen eindeutig untragbar sind: die Unterminierung der moralischen Institutionen des Versprechenhaltens und der Wahrhaftigkeit und die Nichtrespektierung persönlicher Freiheitsspielräume. Wenn es diese moralischen Institutionen nicht bereits gäbe (das Versprechenhalten soll nur auf den Tonga-Inseln in Polynesien unbekannt sein), müßte sie der Utilitarist neu erfinden. Eben deshalb wird er diese Werte zu schüt-zen versuchen und den Sekundärprinzipien des Versprechenhaltens, der Wahrhaftigkeit und der Respektierung individueller Freiheitsspielräume nur dann zuwiderhandeln, wenn die Chancen einer Schadensvermeidung oder Nutzenverwirklichung durch die Zuwiderhandlung die Risiken einer Schwächung dieser Prinzipien mehr als aufwiegen. Er wird sich deshalb, was diese Prinzipien betrifft, in praxi in der Regel in einer Weise verhalten, die als (deontologischer) Regelutilitarismus mißverstanden werden mag, im Grunde aber nur eine besonders konsequente Form von Konsequentialismus ist - so wie sich ja auch ein Egoist, wenn er gut beraten ist, in der Regel nicht egoistisch verhält. Der konsequente Konsequentialist ist kein moralischer Opportunist. Er durchquert die Straße bei roter Ampel nur im wirklich dringenden Fall - dann aber auch, wenn Kinder dabei sind, damit sie lernen, daß Ausnahmen manchmal berechtigt sind. Ver-trauenssicherung, Verläßlichkeit und persönliche Freiheitsspielräume sind so wichtige Güter, daß Ausnahmen an strenge Bedingungen geknüpft werden müssen - auch deswegen, weil sie zu moralischer Läßlichkeit verführen können und insgesamt nützliche Verhaltenshabitualisierungen schwä-chen. Kurz: Solange die Kritik am Konsequentalismus ihrerseits konsequentialistisch ist, wird sie vom konsequenten Konsequentalisten in seinen Handlungsstrategien anti-zipiert und integriert.
Herr Nida-Rümelin, "Unterminierung der moralischen Institutionen des Versprechenhaltens, der Wahrhaftigkeit und der Respektierung individueller Freiheitsspielräume" sind das, in anderen Worten, von Ihnen kritisierte Konsequenzen, die aus dem strikten Konsequentalismus folgen? Nida-Rümelin: Eine Gesellschaft von rationalen Konsequentialisten würde diese Institutionen nicht bewahren können, und zwar auch dann nicht, wenn sich Konsequentialisten deren Fortbestand (aufgrund ihrer eigenen axiologischen Voraussetzungen) wünschten. Man darf zwei Fragestellungen nicht vermengen, wenn man dem Konsequentialismus gerecht werden will: In Welche Institutionen (und damit, welche Regelsysteme) sind bei der jeweiligen axiologischen Konzeption einer konsequentialistischen Theorie wünschenswert? Verhält sich ein rationaler Konsequentialist im Einzelfall (hinreichend) konform mit diesen Institutionen? Für einen rationalen Konsequentialisten ist die Tatsache, daß moralische Institutionen wie die des Versprechenhaltens, der Wahrhaftigkeit und der Respektierung individueller Freiheiten segensreich sind, für sich genommen kein Grund, sich diesen Institutionen gegenüber konform zu halten. Nur wenn die Folgen der konkreten konformen Einzelhandlung in der betreffenden Situation im Vergleich zu allen anderen offenstehenden Handlungen optimal sind, wird sich der rationale Konsequentialist konform verhalten. Damit diese Institutionen jedoch ihre segensreiche Wirkung entfalten können, ist ein sehr hohes Maß an Konformität erforderlich, das bei dieser Motivlage nicht zu erreichen wäre. Herr Birnbacher sprach eingangs die Frage der Wertbasis an. Tatsächlich habe ich in meiner Studie versucht, die konsequentialistische Position so stark wie möglich zu machen und sie daher nicht auf eine spezifische, etwa utilitaristische Wertkonzeption festgelegt. Der Utilitarismus ist philosophiehistorisch in erster Linie durch die axiologische Theorie geprägt, ausschließlich Lust oder Zufriedenheit habe einen intrinsischen Wert - daher verstand sich etwa George Edward Moore nicht als Utilitarist. Viele zeitgenössische "Utilitaristen" vertreten allerdings keine axiologische Theorie mehr, sondern ziehen sich auf Präferenzenerfüllung als Bewertungsmaß zurück. Auch in-nerhalb des zeitgenössischen Utilitarismus ist die Frage des Konsequentialismus umstritten. John C. Harsanyi vertritt z.B. eine explizit nicht-konsequentialistische Version des Präferenzutilitarismus. Wenn es aus konsequentialistischer Sicht nicht wünschenswert ist, daß die Gesellschaft aus Konsequentialisten besteht, dann kann die konsequentialistische ethische Theorie keine normative (handlungsleitende) Rolle beanspruchen. Die von Herrn Birnbacher anvisierte Integration dieser Art der Kritik des Konsequentialismus ändert den Status der ethischen Theorie daher in einer grundlegenden und für viele - wohl auch für die meisten Konsequentialisten - inakzeptablen Weise. Herrn Kerstings Formulierung bezog sich jedoch vermutlich in erster Linie auf die entscheidungstheoretischen Mittel, die an zentraler Stelle der Kritik zum Einsatz kommen, insbesondere bei der Diskussion des Liberalen Paradoxons, das ich zum Nachweis der Unvereinbarkeit von Konsequentialismus und individuellen Freiheitsrechten heranziehe und des Gibbard-Satterthwaite-Theorems, anhand dessen man eine grundlegende Instabilität konsequentialistischer Gesellschaften belegen kann. Herr Birnbacher, sind Sie mit Herrn Nida-Rümelins Sicht einverstanden, daß Ihr "kon- sequenter Konsequentalismus" für die meisten Konsequentalisten inakzeptabel ist?
Birnbacher: Ich habe nicht gesagt, daß es wünschenswert ist, wenn die Gesellschaft aus Nicht-Konsequentialisten besteht. Ich habe nur gesagt, daß es wünschenswert ist, wenn sich die meisten Konsequentialisten nicht so verhalten, wie es ihnen von Herrn Nida-Rümelin unterstellt wird. Das werden sie - bei einiger Intelligenz - aber auch nicht tun. Zu dieser Intelligenz gehört, daß man zwischen "idealen Normen" auf der Ebene der abstrakten Theorie und den verschiedenen Arten von "Praxisnormen" (von den klassischen Utilitaristen "Sekundärprinzipien" genannt) unterscheiden muß, die die idealen Normen für bestimmte gegebene - und bedingt änderbare - historische und gesellschaftliche Kontexte konkretisieren. Wie nicht jede moralische Norm als solche schon eine Rechtsnorm ist, so kann auch nicht jede ideale Norm bereits als Orientierung für die alltägliche moralische Praxis dienen. Das heißt aber nicht, daß sie nicht dennoch eine wichtige Orientierungsfunktion behält - nämlich für die Auswahl geeigneter "Praxisnormen" in Situationen moralischer - individueller und kollektiver - Selbstprüfung. Ich vermag nicht zu sehen, daß diese Aufteilung des Systems der Moral in mehrere Ebenen für den Konsequentialisten inakzeptabel sein kann. Normen und andere Verhaltensorientierungen sind für ihn durch ihre Konsequenzen gerechtfertigt. Zur Beurteilung dieser Konsequenzen bedarf er jedoch einer Norm höherer Ebene, die nicht ihrerseits zu den beurteilten Normen gehört. Die Ergebnisse der formalen Sozialwahl-theorie sollte man nicht überbewerten. Das auf Amartya Sen zurückgehende "Liberale Paradoxon" berücksichtigt lediglich unsere Präferenzen für bestimmte Zustände, nicht aber unsere Präferenzen dafür, diese Zustände jederzeit ändern zu können. Solcherart "Freiheitspräferenzen" dürfen im konsequentialistischen Folgenkalkül aber nicht vernachlässigt werden. Wie es nicht vernünftig ist, immer nur vernünftig zu sein, ist auch eine Gesellschaft nicht vollkommen, die nicht die Freiheit zugesteht, gelegentlich das Unvollkommene zu wählen.
Herr Nida-Rümelin, trifft Ihre Kritik am Konsequentialismus auf eine Position, wie sie Herr Birnbacher hier vertritt, noch zu? Kann er mit seinem "konsequenten Konsequentialismus" die eingangs genannten moralischen Institutionen des Versprechenhaltens, der Wahrhaftigkeit und der Respektierung freiheitlicher Spielräume aufrechterhalten?
Nida-Rümelin: Es hängt vom Status der "Praxisnormen" ab, ob meine Kritik des Konsequentialismus auf die von Herrn Birnbacher vertretene Position anwendbar ist. Wenn sich die konsequentialistische Beurteilung lediglich als ein Meta-Kriterium darstellt, das Systeme von Praxisnormen dahin prüft, welche Auswirkungen ihre allgemeine Befolgung für die Präferenzenerfüllung oder das subjektive Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder haben würde, dann sind die zentralen Einwände der "Kritik des Konsequentialismus", die sich ja auf den individuellen konsequentialistischen Akteur beziehen, nicht mehr einschlägig. (Gegen ein konsequentialistisches Meta-Kriterium sprechen andere Argumente, wie das der problematischen Separierung desjenigen, was für die jeweilige Person handlungsleitend ist von der umfassenden Bewertungsgrundlage des Systems von Praxisnormen.) Das Zentrum der Kritik des Konsequentialismus bildet der konsequentialistische Akteur, und zwar im gesamten Spektrum vom "homo oeconomicus" bis zum (Handlungs-)Utilitaristen. Die analysierten Probleme der Kooperation und Koordination (hier spielen die Ergebnisse der Logik kollektiver Entscheidungen eine wichtige Rolle) betreffen dieses gesamte Spektrum mit Ausnahme des Grenzfalls des utilitaristischen Konsequentialisten: Wenn man interpersonell variante handlungsleitende Bewertungen zuläßt, sind konsequentialistische Akteure unfähig zur Kooperation, wenn man diese ausschließt, bleibt nur, allen Individuen die gleiche handlungsleitende Bewertungsfunktion zu unterstellen, was mit einer plausiblen Anthropologie und der vorfindlichen Realität kultureller und interessenbezogener Differenzen in allen uns bekannten Gesellschaften unvereinbar ist. Die ethische Theorie sollte nur solche Forderungen stellen, die im Grenzfall gün-stiger Bedingungen, aber ohne Verletzung von Naturgesetzen und anthropologischen Invarianzen erfüllbar sind.
Können Sie uns Ihre Aufteilung in "ideale Normen" und "Praxisnormen" vielleicht anhand eines konkreten Beispiels näher erläutern? In welchem Verhältnis stehen diese "ideale Normen" zudem zu den von Ihnen eingangs genannten moralischen Institutionen, die auch für einen Konsequentialisten unverzichtbar sind? Und welchen Status haben die Praxisnormen?
Birnbacher: Ich gehe gern auf Ihre Frage ein, auch wenn sie zunächst von dem von Herrn Nida‑Rümelin aufgeworfenen Pro-blem der Kooperationsfähigkeit konsequentialistischer Akteure wegführt. In der Tat ist die Unterscheidung zwischen idealen Normen und Praxisnormen von entscheidender Bedeutung. Ideale Normen und Praxisnormen unterscheiden sich in ihren Anwendungsbereichen: Praxisnormen haben ihren Platz in der konkreten Lebenspraxis, d. h. in der Bewältigung konkreter Entscheidungsprobleme, ideale Normen in der reflexiven Überprüfung der Praxisnormen. Praxisnormen brauchen wir tagtäglich, ideale Normen nur in den Momenten, in denen uns unsere zur Routine gewordenen Praxisnormen fragwürdig werden und wir eine kritische Überprüfung und möglicherweise Revision für notwendig halten. Typische ideale Normen sind Kants Kategorischer Imperativ (in der ersten Formulierung) und die utilitaristische Primärnorm der Maximierung des gesellschaftlichen Nutzenzuwachses. Beide sind als konkrete Verhaltensorien-tierungen gleichermaßen schlecht geeignet, um so besser aber als Metakriterien zur Bestimmung der jeweils in wiederkehrenden Entscheidungssituationen zu befolgenden Maximen bzw. Sekundärregeln. Nehmen wir als Beispiel die Wahrhaftigkeitsnorm. Wollen wir herausfinden, für welche Arten von Situationen wir uns die Praxisnorm zu eigen machen sollten, von dem ansonsten geltenden (weil sozial nützlichen) Wahrhaftigkeitsgebot abzuweichen, sagt uns die ideale Norm, daß dies Situationen sind, in denen wir durch eine strikte Befolgung des Wahrheitsgebots großen Schaden anrichten würden. Für einige akut und schwer Herzkranke kann es zum Beispiel tödlich sein, von einem zu schematisch seiner Aufklärungspflicht nachkommenden Arzt von ihrer Diagnose zu erfahren. Dies gilt freilich nur dann, wenn wir uns der Schädlichkeit der Wahrheit hinreichend sicher sind. In Zweifelfällen müßte wiederum die Praxisnorm der Wahrhaftigkeit gelten. Das ist aber nur die eine Seite der Unterscheidung. Ideale Normen und Praxisnormen unterscheiden sich auch in dem, was man ihre Trennschärfe nennen könnte: Praxisnormen sind in der Regel weniger trennscharf als ideale Normen, so daß ihre Anwendung nicht in allen Fällen zu genau denjenigen Handlungen führt, die nach der idealen (aber in der Praxis nicht anwendbaren) Norm die ethisch richtige wäre. Das liegt schlicht daran, daß Praxisnormen, um unter den in der Lebenspraxis vorherrschenden Zeit‑, Informations‑, Rationalitäts‑ und Motivationsbeschränkungen anwendbar zu sein, die jeweilige komplexe Fallkonstellation nur mehr oder weniger schematisch berücksichtigen können. Wer die Praxisnorm der Wahrhaftigkeit in Zweifelsfällen befolgt, wird in einer gewissen Zahl von Fällen dennoch das nach der idealen Norm Falsche tun, und ebenso der, der die Praxisnorm der barmherzigen Lüge in den Ausnahmefällen, in denen großer Schaden absehbar ist, befolgt. Aufs ganze und aus der Sicht der idealen Norm gesehen ist es allerdings besser, wenn wir in bestimmten Fällen Fehler machen, als wenn wir über keinerlei verläßliche Verhaltensorientierungen verfügten oder unsere begrenzten Ressourcen an Rationalität auf komplizierte Folgenkalküle verschwendeten. Gerade in der Moral kann es ‑ im Sinne einer "bounded rationality" ‑ rational sein, den Rationalitätsaufwand zu begrenzen. Insofern ist auch die geläufige Redeweise von den Praxisnormen als "Faustregeln" nicht angemessen. "Faustregel" weist zwar darauf hin, daß bei der "Operationalisierung" der idealen Norm zu Praxisnormen unvermeidlich Vereinfachungen auftreten. Der Ausdruck vernachlässigt aber andererseits die emotionale Seite: Praxisnormen müssen nicht nur kognitiv, sondern (durch Prozesse der Erziehung und Selbsterzie-hung) auch gefühlsmäßig ‑ etwa in Gestalt einer Hemmschwelle ‑ verankert sein, wenn sie auch in Versuchungssituationen handlungsmotivierend wirken sollen. Es wäre nicht gut, wenn eine Lüge auch dann, wenn sie gerechtfertigt ist, auf keinerlei gefühlsmäßige Bedenken stieße.
Welche Funktion hat nun der Konsequentialismus (also die Auffassung, wonach eine vernünftige Person in jedem Fall eine Handlung wählen wird, die angesichts ihrer Folgen wünschenswerter ist als jede andere in der konkreten Situation möglichen Handlung) in diesem Konzept? Inwiefern sind insbesondere die Praxisnormen konsequentialistisch?
Birnbacher: Das Konzept der Praxisnormen unterscheidet sich gerade dadurch vom Regelutilitarismus, daß es uneingeschränkt konsequentialistisch ist. Wenn es für den Einzelfall empfiehlt, die absehbaren Folgen einer Handlung nicht umfassend und im einzelnen zu berücksichtigen, sondern der Praxisnorm gewissermaßen "blind" zu folgen, dann ist diese Strategie ‑ aber auch jede einzelne Befolgung dieser Strategie ‑ ihrerseits durch Folgenüberlegungen gerechtfertigt: Es ist vernünftig, statt der idealen Norm der konkreteren, aber gleichzeitig schematischeren Norm zu folgen, weil die Folgen der Handlungsunfähigkeit schlimmer sind als die Folgen eines gelegentlichen Verfehlens des Optimums. Natürlich ist "blind folgen" nicht ganz richtig: Wir müssen uns zumindest vergewissern, daß eine im Normalfall richtige Handlung nicht im Einzelfall verheerende Folgewirkungen zeitigt. Dazu bedarf es im allgemeinen keines ausführlichen Folgenkalküls. Und natürlich erschöpft sich die Nützlichkeit von Praxisnormen nicht in der Nützlichkeit ihrer Befolgung. Entscheidend ist der Akzeptanznutzen, der den Befolgungsnutzen umfaßt, aber darüber hinausgeht. Nicht erst die Tatsache, daß eine akzeptierte Praxisnorm (möglicherweise) befolgt wird, macht ihre Nützlichkeit aus, sondern ebenso die Tatsache, daß sie, einmal akzeptiert, Verhaltens‑ und Erwartungssicherheit ermöglicht, Orientierungsfunktionen für Denken, Fühlen und Persönlichkeitsentwicklung übernimmt und zur individuellen und kollektiven Sinnstiftung beiträgt, z. B. im Bereich lebenszeit‑ und generationenübergreifender Krisenvermeidungs‑ und Entwicklungsziele.
Nachdem Herr Birnbacher freundlicherweise seine Position ausführlich dargelegt hat, möchte ich nochmals auf die vorhergehende Frage zurückkommen: Ist dieses Konzept von Ihrer Kritik am Konsequentialismus mitbetroffen? Herr Birnbacher betont, daß er auch die Praxisnormen "uneingeschränkt konsequentialistisch" versteht. Nida-Rümelin: Die von Herrn Birnbacher in seinem Buch Verantwortung für zukünftige Generationen (Kap. 6) vorgeschlagenen Praxisnormen bieten insgesamt eine gute Richtschnur für moralisch (und politisch) angemessenes Verhalten. Meine Konsequentialismuskritik betrifft diese inhaltlich nicht, auch wenn ich in einer Detaildiskussion dieser Normen (die hier nicht geleistet werden kann) Modifikationen vorschlagen würde und im Übrigen nicht davon überzeugt bin, daß sie sich aus der in den vorausgehenden Kapiteln entwickelten Theorie des hedonistischen Handlungsutilitarismus ableiten lassen. Der Dissens bezieht sich in erster Linie auf die Konzeption des moralischen Akteurs. Meine These ist (einmal angenommen, diese oder verwandte Systeme von Normen wären als Richtschnur unseres alltäglichen Verhaltens angemessen), daß eine Gesellschaft konsequentialistischer Akteure das für Stabilität und Erwartungssicherheit notwendige Maß an Konformitat mit diesen Normen nicht realisieren würde (Kritik des Konsequentualismus §§ 26, 27, 37‑39, 43, 47). Die schon von Thomas Hobbes anschaulich geschilderte und durch jüngste spieltheoretische Untersuchungen genauer analysierte Eigendynamik würde in einer Gesellschaft konsequentialistischer Akteure unweigerlich zur moralischen Anarchie führen. Von konsequentialistischer Seite wird dagegen geltend gemacht, daß diese Folgerung für moralisch ideale konsequentialistische Akteure nicht zuträfe. Dies sind z. B. (wie bei Birnbacher) solche, die in ihrem Handeln alle gleichermaßen versuchen, je individuell (auf die handelnde Person bezogen) und punktuell (auf die jeweilige Handlung bezogen) den gesellschaftlichen Gesamtnutzen (Nutzensumme) zu maximieren. Dieses konsequentialistische Argument ist stärker, als viele Kantianer und Regelutilitaristen meinen, wie ich in den Paragraphen 30‑34 der Kritik des Konsequentialismus ausgeführt habe. Aber selbst wenn das Argument über jede Kritik erhaben wäre ‑ was John C. Harsanyi mit einfachen spieltheoretischen Mitteln widerlegt hat ‑, wäre damit der Kern meiner Konsequentialismuskritik noch gar nicht berührt. Eine ihrer zentralen Thesen lautet, daß es unangemessen ist, von moralischen Akteuren zu erwarten, daß sie die interpersonell gleiche Bewertungsfunktion optimieren. Diese Erwartung ist nämlich so extrem fern von aller Lebenspraxis, sie widerspricht derart kraß unseren Erfahrungen menschlichen Urteilens und Handelns (der conditio humana), daß sie nach meiner Überzeugung nicht einmal einen guten Ausgangspunkt für die ethische Theorie im philosophischen Seminarraum abgibt, wo ja vielen bekanntlich manches möglich erscheint, darunter die Bezweiflung der "Existenz der Außenwelt" oder des "Fremdpsychischen", das andernorts als Symptom geistiger Verwirrung gilt. Konsequentialisten mit divergierenden handlungsleitenden Bewertungen sind ex definitione nicht einmal fähig zu kooperieren, sie schaffen eine soziale Welt der Instabilität und der permanenten Konflikteskalation. Die ethische Theorie sollte ihren Ausgangspunkt nahe bei den realen Menschen nehmen, mit ihren persönlichen Bindungen und Projekten, ihren individuellen Lebenszielen und Werthaltungen, und dann dieje- nigen Rechte und Pflichten, Werte und Tugenden bestimmen, die es erlauben, diese Differenzen auszuhalten, d.h. die diese Differenzen hinreichend kompatibel machen, um der einzelnen Person ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Diese Rechte und Pflichten, Werte und Tugenden beschränken (unter der Bedingung interpersoneller Differenz) die je individuelle konsequentialistische Optimierung. Eine adäquate Ethik ist daher mit konsequentialistischer Rationalität in dem Sinne, wie ich sie in Kritik des Konsequentialismus präzisiert habe, nicht vereinbar.
Die Diskutanten:
Dieter Birnbacher ist Professor für Philosophie an der Universität Düsseldorf, Julian Nida-Rümelin ist Professor für Philosophie an der Universität Göttingen. |
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