header


  

Jahrgang 2022 - Heft 3-4 / 2022 - letzte Ausgabe

Leseprobe    BEITRÄGE ZUM JUBILÄUM 50 JAHRE INFORMATION PHILOSOPHIE Druckversion  |  Schrift: vergrößern verkleinern 

Beiträge zum Jubiläum

Beiträge zum Jubiläum
 
Aus: Information Philosophie, Heft 3-4/2022, S. 8-61
 
 
Martin Bondeli: 50 Jahre Information Philosophie
 
Ein persönlicher Rückblick auf philosophische Tendenzen, Konjunkturen und Streitlagen, ein Wort der Anerkennung und eine Fußnote zur Philosophie der Epoche Kants und Hegels
 
50 Jahre Information Philosophie. Der Gedanke veranlasst mich spontan zu einem persönlichen Rückblick auf das philosophische Zeitgeschehen, nahm ich doch zwei Jahre nach der Gründung dieser verdienstvollen Zeitschrift das Studium der Philosophie an der Universität Bern auf, das mich für die Habilitation an die Universitäten Bochum und München führte.
 
In den 1970er-Jahren zählte ich zu jenen politisch engagierten Studierenden, die es, einem Diktum Lenins folgend, für geboten hielten, sich ausgiebig mit Hegels Wissenschaft der Logik zu befassen, um sich sodann den dialektischen Denkwegen in Marx’ Programm der Kritik der politischen Ökonomie widmen zu dürfen. Das war faszinierend, aber auch ungemein zeitraubend. Vor dem Hintergrund der heutigen Studienpläne und akademischen Bedürfnislagen ist dies kaum mehr vorstellbar. Wie bei vielen Studierenden meiner Generation stieß bei mir selbstverständlich auch die Lektüre von Schlüsseltexten der Frankfurter Schule, die kritisches gegen traditionelles Denken einforderten, auf Sympathie. Mit Adorno lernten wir, gegen ideologische Formen der verwalteten Welt mit einem Bewusstsein der Nichtidentität uns zu wappnen, mit Habermas, den historischen Materialismus unter Einbeziehung der Genese des Moral- und Rechtsbewusstseins und von Strukturen der Intersubjektivität zu rekonstruieren. Am stärksten prägte mich hierbei wohl das Bemühen, mit Marx’ Methodenbewusstsein und ausgehend vom »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, den es seit den 1960er-Jahren mit dem Kritischen Rationalismus Poppers auszufechten galt, eine denkeri-sche Perspektive zu gewinnen. Dies führte mich zur Rezeption Poppers, der Vertreter des Wiener Kreises und wissenschaftstheoretischer Autoren der Richtung Thomas W. Kuhns. Doch gleichfalls nicht wenige Exponenten der erklärten Gegenrichtungen neupositivistischen Philosophierens und dabei nicht zuletzt der notorisch umstrittene Antipode Carnaps, Martin Heidegger, standen auf meiner Leseliste. Ich sah mich hiermit in Kontroversen involviert, die vielerorts mit akademischen und politischen Grabenkämpfen einhergingen. Auf der einen Seite gab es die von renommierten amerikanischen Universitäten geförderten Spielarten der analytischen Philosophie, auf der anderen die vorwiegend an deutschsprachigen Universitäten favorisierten und zunehmend in die Defensive gedrängten Strömungen einer hermeneutischen, dialektischen und phänomenologischen Philosophie. Gegenseitiges Ignorieren, Verachten, Diffamieren war nicht unüblich.
 
An manchen amerikanischen und deutschen Universitäten bestand allerdings, wie ich in den späten 1980er-Jahren zur Kenntnis nehmen konnte, schon längere Zeit eine sich in den Fachdiskussionen als produktiv erweisende Durchlässigkeit der Fronten. Zudem waren die intellektuellen und politischen Konstellationen dort vielschichtiger und verwickelter. In den frühen 1990er-Jahren nahm die Bereitschaft zu, rigide Positionierungen aufzugeben und sich auf Formen einer kompetitiven Kooperation zu einigen. In dieser Phase ließ sich mitverfolgen, wie schlagartig anderweitige, auf Bedürfnisse der ökologischen und neuen sozialen Bewegungen sowie des technologischen Digitalisierungsschubs abgestimmte philosophische Interessen in den Vordergrund rückten. Zum Teil zog dies eine Restrukturierung des Intellektuellenprofils nicht nur in den «harten» Wissenschaften, sondern auch in der professionellen Philosophie nach sich. Neben Fachkompetenz stan-den nun auch Kommunikationswerte und Anforderungen der Flexibilität und Integrationsfähigkeit hoch im Kurs. Kaum verändert hat sich indessen die Brisanz der Frage, ob die Philosophie sich an Nachfragen und Standards anderer Einzelwissenschaften orientieren und zustimmend auf Aufgaben reagieren soll, die von staatlicher oder privatwirtschaftlicher Seite erwünscht sind. Desgleichen hat sich meine Einschätzung hierzu, abgesehen von der Feststellung, dass diese Frage wohl noch virulenter geworden ist, kaum gewandelt. Es scheint mir evident, dass die Wissenschaft der Weltweisheit zur Wahrnehmung und Lösung von Problemen in Wissenschaft allgemein, Gesellschaft und Politik beitragen kann und soll. Als seit 2010 nebenberuflicher Dozent für Wirtschaftsphilosophie und Wirtschaftethik weiß ich aber auch um die Schwierigkeiten und begrenzten Erfolgsaussichten dieses Ansinnens. Außerdem bin ich der Überzeugung, dass von Seiten der Philosophie eine Grenze zu ziehen ist. Die Philosophie ist kein Dienstleistungsbetrieb. Sie hat eine genuine Aufgabe des Sich-Orientierens und des übergreifenden Verstehens dessen, was ist. Und sie hat ihre eigenen Fragen, Aufgaben und Probleme, ihre eigene Geschichte.
 
Nach der Jahrtausendwende, als ich mich nach einer mehr als 10-jährigen universitären Lehrtätigkeit als Privatdozent, in welcher die klassische deutsche Philosophie und insbesondere die Epoche Kants und des deutschen Idealismus zu meinen Schwerpunkten gehörte, um die Edition der Gesammelten Schriften des nachkantischen Philosophen und Aufklärers Karl Leonhard Reinhold zu kümmern begann, sah ich mich von einer an meine Studienanfänge erinnernden akademischen Diskurslage eingeholt. Bei Gesprächen mit Studierenden und Lehrpersonen konnte ich nicht umhin, mich für eine Art des Philosophierens zu rechtfertigen, die gerne als klassisch oder traditionell etikettiert wird. Wozu noch, so wurde ich gefragt, ein Philosophieren universalsystemischer Art, wie dies in den Zeiten Kants und Hegels betrieben worden ist? Wozu eine derart akribische Erforschung einer rund 200 Jahre zurückliegenden philosophischen Epoche? Die Fragen sind nicht unberechtigt, jedoch verfehlt, falls gemeint ist, wir seien gut beraten, uns ausschließlich und ohne Umschweife auf Gegenwartsphilosophie zu konzentrieren. Meines Erachtens kann ein mit dem nötigen Enthusiasmus betriebenes Studium philosophischer Klassiker und ihrer epochalen Kontexte einem adäquaten Verständnis der aktuellen philosophischen Probleme nur förderlich sein. Was wir heute zu Methoden der Erkenntnisbegründung, zu Modellen der Subjektivität und zur Fundierung ethischer, rechtlicher und staatspolitischer Konzepte zur Diskussion stellen, beruht meiner Erfahrung nach auf philosophischen Paradigmen, für deren Aufstellung Platon, Aristoteles, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, die deutschen Idealisten und andere namhafte philosophische Köpfe verantwortlich sind. Es gilt deshalb mit Nachdruck fortzuführen, was mehr oder weniger gezielt gerade auch von jenen heutigen Philosophen und Philosophinnen von Profession getan wird, die einer Beschäftigung mit Geschichte der Philosophie skeptisch gegenüberstehen. Die in den vergangenen Epochen erarbeiteten Wissensbestände und entwickelten Argumentationswerkzeuge sind für die Gegenwart aufzubereiten.
...


Sie wollen den vollständigen Beitrag lesen?
Bestellen Sie das Einzelheft oder abonnieren Sie die Zeitschrift.




© Information Philosophie     Impressum     Datenschutz     Kontakt