Ludwig Siep:

Ethik und Menschenbild

Die Trennung von Ethik und Menschenbild

Ethik und Menschenbild sind nach dem Alltagsverständnis voneinander abhängig: was man tun soll oder nicht darf, hängt davon ab, was der Mensch eigentlich ist und wie er sich zu der Welt verhält, in der er lebt. Umgekehrt ist das Wissen vom Menschen und die zusammenfassende Vorstellung davon, die wir gewöhnlich "Menschenbild" nennen, sicher nicht unabhängig davon, was wir als gute oder schlechte Eigenschaften, Haltungen und Taten des Menschen bewerten.

Diese Verbindung von Ethik und Menschenbild war auch für die traditionelle Ethik, die religiöse oder philosophische, selbstverständlich. In den Wissenschaften und der Philosophie wird sie aber seit langem bestritten - in der Philosophie etwa seit dem 17. Jahrhundert, in den Wissenschaften spätestens seit dem "Werturteilsstreit" zu Beginn unseres Jahrhunderts. Wissenschaftliches Wissen vom Menschen und von der Welt ist wertfrei. Werturteile, wie sie die Ethik benutzt, konstatieren keine Tatsachen. Die radikale Konsequenz daraus lautet: Werte sind Privatsache oder allenfalls Gruppenkompromisse - ein wissenschaftliches Menschenbild aber hat nichts mit der Frage zu tun, wie man handeln soll.

Diese Auffassung ist unter modernen Philosophen und Wissenschaftlern sehr verbreitet, aber sie steht immer noch im Kontrast zum alltäglichen Denken und Verhalten der meisten unserer Mitbürger. Moralische Vorwürfe, so meint man, hängen nicht davon ab, ob ich mich mit dem Betroffenen vorher über Werte geeinigt habe. Und die Verbrechen dieses Jahrhunderts waren nicht nur deswegen verwerflich, weil sie gegen Vereinbarungen oder positive Gesetze verstoßen haben. Im Gegenteil: die meisten waren nach der Rechtsordnung der Staaten, in denen sie verübt wurden, sogar legal.

In jüngster Zeit ist auch die andere Seite der Unterscheidung von Wissenschaft und Werturteil zweifelhaft geworden. In dem Maße, in dem wissenschaftliche Forschung, technische Umsetzung und staatlich geförderte Produktion das alltägliche Leben bestimmen, wird fraglich, ob diese Forschung sich gänzlich einer bewertenden Diskussion entziehen dürfe. Ist es gut, das gesamte menschliche Genom zu "kartieren" oder die Intelligenzquotienten zwischen den Rassen zu vergleichen? Ist es gut, über die Herstellung von Chimären oder kopflosen Lebewesen Bescheid zu wissen? Und um ein ganz alltägliches technisches Beispiel zu nehmen: Ist es sinnvoll, daß die meisten häuslichen Apparate fast nur noch nach vorherigem Programmierkurs betätigt werden können?

Wer bei solchen Fragen Sorgen um die Freiheit der Forschung bekommt, wird vermutlich dieses Recht nicht auf private Wertschätzung oder politische Mehrheiten zurückführen wollen. Er pocht auf ein Grundrecht mit unveränderlichem "Wesensgehalt". Auch er bezweifelt also die Trennung zwischen objektiven Tatsachen und bloß privaten Werten.

Nun kann man nicht bestreiten, daß Naturgesetze und die Feststellung von natürlichen oder auch historischen Tatsachen keine Wertungen und keine Normen enthalten. Naturgesetze sind Regeln über Ereignisfolgen, die nichts von Vorschriften enthalten und nicht übertreten werden können. In Tatsachenurteilen kann man von Wertungen abstrahieren. Das gilt sogar von den Humanwissenschaften, wenn man eine sehr abstrakte Sprache benutzt und wertende Beschreibungen menschlicher Taten mit Vokabeln wie großzügig oder grausam, klug, standhaft oder schön vermeidet.

Aus dieser möglichen Trennung folgt aber noch nicht, daß Wissenschaft und Ethik getrennt bleiben müßten und daß ein Menschenbild weder für die Ethik noch mit der Ethik möglich wäre.

Die Auflösung der Einheit von Naturerkenntnis und Ethik

Bei allen Unterschieden der alltäglichen, religiösen und philosophischen Moral galt im vorneuzeitlichen Europa doch weitgehend unbestritten, daß sich die Güter und Regeln richtigen menschlichen Verhaltens aus dem Wesen des Menschen und seiner Stellung im Kosmos ergeben. Das biblische Menschenbild enthält eine Spannung zwischen der Geschöpflichkeit des Menschen als einer Art Lebewesen unter anderen und seiner Gottebenbildlichkeit.

Eine weitere Spannung besteht in den beiden Aspekten der Natur als der paradiesisch guten oder der durch den Sündenfall insgesamt verdorbenen. Das schlägt wieder auf das Menschenbild zurück: Ist der Mensch durch und durch verdorben und erlösungsbedürftig, oder hat sich die ursprüngliche Güte erhalten und kann in dieser Welt aktiviert werden?

Dispute dieser Art über das Menschenbild gab es auch in der Antike: Gehört der Mensch mit seiner nicht-materiellen Vernunft dem Reich der Ideen oder den Sphären der reinen Geister, d.h. der Planetengötter an? Soll er, wie Plato empfiehlt, nach reiner Begriffserkenntnis streben und aus ihr die Maßstäbe des Gerechten und Guten ableiten? Oder ist gutes menschliches Leben in der sozialen Gemeinschaft vor allem auf die Kultivierung der Emotionen angewiesen, wie es die Ethik des Aristoteles behauptet?

Wie immer diese Antworten ausfielen und welche Differenzen des Weltbildes in ihnen auch zum Ausdruck kamen - unbestritten war, daß die Erkenntnis der Welt im Ganzen und der Stellung des Menschen in ihr entscheidend für die Frage nach der richtigen Lebensführung ist. Selbstverständlich war auch, daß diese Erkenntnis der Welt selbst von Werten geleitet wurde: Der Kosmos ist als Einheit, als gesetzesbestimmte Ordnung und als zweckmäßige Wechselwirkung seiner Teile "gut". Wer die Natur studiert, erfährt daher immer auch für Menschen Wegweisendes - und das war nicht das geringste Motiv ihrer Erforschung. Im Christentum kam dann die Möglichkeit hinzu, den göttlichen Willen neben dem heiligen Buch der Offenbarung auch im Buch der Natur zu erforschen, die ja aus Gottes Willen stammte und also seine Absichten enthüllte.

Die geistes-, sozial- und wissenschaftsgeschichtlichen Prozesse, die zur Auflösung dieser Einheit von werthaftem Menschen- und Weltbild einerseits und wissenschaftlicher Naturerkenntnis andererseits geführt haben, sind kompliziert, und ihre Wechselwirkung ist bis heute umstritten. Entscheidend sind die Trennung der Naturwissenschaft und der Philosophie von der Theologie seit dem 16. Jahrhundert, die der Körper- und der Seelenwissenschaft seit dem 17. Jahrhundert, die der Natur- und Sozialwissenschaft seit dem 18. Jahrhundert und die Entstehung der historischen Wissenschaften, die im 19. Jahrhundert zum Abschluß kommt. Diese Wissenschaften entwickeln zunehmend eigene Sprachen und ein eigenes Weltbild. Während für die Naturwissenschaft die Gesetze der Welt konstant sind und die Ereignisse sich auf stets gleiche Weise wiederholen - mit Ausnahme der irreversiblen Prozesse der Naturgeschichte -, ändert sich in der Kulturgeschichte der Menschheit offenbar alles. Der Ethnologe oder der Religionswissenschaftler entdecken eine unendliche Fülle an Gebräuchen, Riten, sozialen Techniken und Umgangsformen, Normen und Weltbildern, die alle sozusagen "menschenmöglich" sind. Nach dem Scheitern von Kolonialismus und Rassismus und mit der Zunahme des Austauschs der Kulturen auf der Erde wird es plausibel, diese Formen auch für gleichwertig zu halten. Das macht ethische Orientierung natürlich immer schwieriger.

Parallel dazu verläuft die Debatte um die Erklärung mittels Wirk- oder Zweckursachen. Solange die Dinge der Welt - und der Mensch unter ihnen - von einem Zweck her erklärbar sind, den sie für das Ganze und für ihr eigenes Wohlergehen erfüllen, kann die Einheit von Naturerkenntnis und Ethik aufrecht erhalten werden. Man muß nur das Ziel, die voll ausgereifte Gestalt, die sich im ungestörten Entwicklungsprozeß ergibt, erkennen, um auch sagen zu können, was die richtige Haltung und das richtige Handeln ist. Gutes Leben ist, wie Aristoteles sagt, das artgemäße Leben, die Entwicklung und Betätigung der einem Wesen eigentümlichen Fähigkeiten - beim Menschen vor al-lem das Erkennen und die richtige Proportion seines Intellekts und seiner Emotionen im Handeln.

Die Destruktion der Zweckerklärung erfolgte in der Neuzeit zunächst in der Physik der klassischen Mechanik, später in der Biologie, wo sich allerdings bis heute Reste an Zweckerklärungen gehalten haben. Um die Vorstellung einer zeitlich rückwärts wirkenden Ursache zu vermeiden spricht man dort heute von Teleonomie. In einer evolutionstheoretischen Perspektive kann aber das Resultat einer artgemäßen Entwicklung immer nur etwas Vorläufiges, temporär Stabiles sein. Der Zweifel an der Zweckerklärung ergreift zuletzt auch die Wissenschaften vom menschlichen Handeln, die Soziologie und die Geschichtswissenschaften. Im 19. Jahrhundert bleibt zwar die Reduktion des Handelns auf Wirkursachen noch materialistische Weltanschauungen beschränkt. Sie führen die sozialen Entwicklungen auf Naturgesetze und auf die Produktionsverhältnisse als "materielle Basis" eines ideologischen Überbaus zurück. Im 20. Jahrhundert fordern dann auch die empirischen Sozialwissenschaften den Verzicht auf das zweckmäßige Handeln als grundlegende Erklärungskategorie. Individuen und Gesellschaften sollen als Systeme verstanden werden, die grundlegende Eigenschaften mit Maschinen und organischen Systemen teilen. Handlung als grundlegende Kategorie des Sozialen wird aufgegeben und Operationen von Systemen werden vor allem mit kybernetischen und informationstheoretischen Begriffen erfaßt. Die Welt ist für solche Systeme ein "unermeßliches Potential für Überraschungen" (Niklas Luhmann). Zur Destruktion des Teleologischen kommt schließlich auch die des Essentialismus. Auch sie greift von der Physik über die Biologie in die Humanwissenschaften über. Nach der Methode der Zweckerklärungen fällt im 19. Jahrhundert auch die Annahme des gleichbleibenden Wesens der Dinge. Während noch bei Kant sogar Völker, solange sie sich nicht mischen, einen unveränderlichen Charakter haben, sind seit Darwin nicht einmal die natürlichen Arten der Pflanzen und Tiere unveränderlich. Daß auch der Mensch als geistiges und moralisches Wesen keine unveränderliche Essenz habe, sondern sich selbst entwerfe, wähle, oder wie es heute gerne heißt, ständig neu definiere, ist in der Philosophie des 20. Jahrhunderts die letzte - freilich hart umkämpfte - Folge der Destruktion des Essentialismus.

Zu diesen wissenschaftsgeschichtlichen Gründen für die Trennung von Ethik und Menschenbild treten soziale Prozesse, von denen hier nur einer erwähnt werden soll: die Aufsplitterung und "Durchmischung" der Religionen und Weltanschauungen. Sie hat nicht nur zur Pluralität von Weltanschauungen in einer Kultur geführt, sondern auch zur Auffassung von ihrer Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit. Daraus folgen einerseits Toleranzforderungen, andererseits die Tendenz zum Wertrelativismus.

Neu im Vergleich zu ähnlichen Phänomenen ist, daß das Phänomen der Pluralität zu ethischen und rechtsphilosophischen Theorien des "Pluralismus" geführt hat. In diesen wird die Pluralität nicht schlicht konstatiert, sondern normativ die Anerkennung der Gleichberechtigung der Weltanschauungen gefordert. Der Grund dafür ist zum einen das Prinzip der individuellen Freiheit des Gewissens und der Meinungsbildung, andererseits die Skepsis gegenüber alternativlosen Wahrheiten im Bereich von Sinn- und Orientierungswissen.

Ursprung dieses Pluralismus ist die Erfahrung der Glaubensspaltung und der Unmöglichkeit, sie ohne Zwang durch ein gemeinsames Bekenntnis überwinden zu können. Erst im 18. Jahrhundert wurde auch der Atheismus als eine theoretisch nicht zwingend zu widerlegende und praktisch daher zu respektierende Überzeugung akzeptiert. Bis heute ist aber in der Öffentlichkeit auch vieler europäischer Staaten noch umstritten, ob Moral und Recht ohne Gottesglauben auskommen. Solange das umstritten bleibt, ist auch die Basis für die rechtliche Gleichberechtigung des Atheisten noch brüchig. Denn wem man keine ernstzunehmende Moral zugesteht, der bleibt für die Gesellschaft potentiell gefährlich.

Die Toleranz für nicht-europäische Kulturen wird vor allem seit der Aufklärung gefordert, die nicht nur den "edlen Wilden" entdeckt hat, sondern auch die kritische Sicht auf das christliche Europa aus den Augen des reisenden Persers oder Brahmanen. Während aber die Aufklärung die wechselseitige Toleranz der Religionen noch auf einen Konsens hinsichtlich der Grundlagen einer umfassenden menschlichen Moral zurückführte, wird unter dem Einfluß der nach-kolonialen Ethnologie auch die Pluralität und Gleichberechtigung der Moralen gefordert.

Wenn das Individuum aber die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Kultur wechseln kann und darf, dann verhält es sich im Grunde neutral gegen diese Moralen: Die Übernahme einer Moral, ja die Entwicklung einer solchen, wird zum Gegenstand der Wahl oder des Entwurfs. Moral ist auch inhaltlich "Privatsache" geworden. Dem entspricht der Rückzug der Öffentlichkeit aus dem Bereich des moralischen Billigens und Mißbilligens - nicht nur auf dem Gebiet der Sexualmoral. Eine solche Entwicklung hat für die einzelnen Individuen sowohl Vorteile wie Nachteile: was an Freiheit gewonnen wird, kann an Sicherheit verloren gehen. Wenn jeder die moralischen Überzeugungen des Nachbarn respektiert, ohne gewissermaßen ihre Offenlegung zu verlangen, kann er sich nicht sicher fühlen. Wer sein Handeln allein nach seinem Gewissen bestimmt, bleibt für den anderen unberechenbar und gefährlich.

Die beiden Antwortstrategien der Philosophie

Die neuzeitliche Philosophie hat zwei Hauptstrategien zur Lösung der Probleme einer völligen Privatisierung der Moral entwickelt. Die eine besteht in einem Rückzug der Ethik auf grundsätzliche Prinzipien der wechselseitigen Achtung und der Vermeidung von Konflikten zwischen Individuen. Diese bleiben hinsichtlich ihrer Wünsche, Interessen und Überzeugungen völlig autonom. Man kann dies eine Strategie der Minimalmoral nennen. Die andere Strategie besteht in der Ersetzung von Moral und Ethik - also der Begründung moralischer Normen - durch funktionalistische Theorien der sozialpsychologischen oder biologischen "Konditionierung" moralischen Verhaltens.

Für die erste Strategie genügt ein minimales Menschenbild: Menschen wollen in aller Regel ihre Wünsche erfüllen. Dabei von anderen gestört zu werden, ist unangenehm und unerwünscht. Zu diesen unerwünschten Störungen zählen vor allem gewaltsame Handlungen anderer, die körperliche Schmerzen und Schäden zur Folge haben. Über das größte Übel für den Menschen kann man sich nach Hobbes einigen, auch wenn alle etwas anderes für das Gute halten: Es ist der gewaltsame Tod durch die Hand des anderen.

Aus dieser Minimalanthropologie folgt auch eine Minimalethik, die Regeln der Friedlichkeit und des Vermeidens von Streitgründen enthält. Viel wichtiger als deren Inhalt ist die Verläßlichkeit ihrer Sanktion. Damit muß eine Gewalt beauftragt werden, die von keiner privaten Gruppenbildung bezwingbar ist: der Staat, der das Monopol legitimer physischer Gewalt ausübt, wie Max Weber es formulierte.

Ein Staat mit der Vollmacht, alle Mittel zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit zu ergreifen, kann aber selber gefährlich werden kann. Daher greifen Hobbes' Nachfolger und Kritiker auf eine Basis zurück, die seit Platon der möglichen Willkürherrschaft der Herrscher entgegengestellt wird: die strikt allgemeinen Rechtsgesetze. Strikt allgemein und für alle gleich können sie aber nur sein, wenn alle ihnen aus rein vernünftigen Überlegungen zugestimmt haben oder zustimmen könnten. Konfliktvermeidung durch allgemeine Gesetze für autonome Bürger wird der neue Inhalt der Minimalethik. Ein Menschenbild, so ist Kants explizite These, braucht man für eine solche Ethik überhaupt nicht mehr. Es genügt, von Vernunftwesen auszugehen, die ihre möglichen Konflikte durch allgemeine, in der Vernunft eines jeden verankerte Regeln lösen wollen.

Diese vollständige Lösung der Ethik vom Menschenbild hat freilich auch die vernunftgläubigsten Philosophen nicht einhellig überzeugt. Zwei Probleme gelten bis heute als nicht befriedigend gelöst: Das eine betrifft die Anwendbarkeit des Universalisierungsgebotes in konkreten Fällen und seine Brauchbarkeit für die Unterscheidung zwischen legalem und wirklich gutem Handeln. Das zweite ist das Problem der Motive für ein Handeln, das wir zwar der allgemeinen Vernunft schulden, für das wir aber keine persönlichen Interessen und Emotionen angeben können. Wenn man nicht von einem metaphysischen Begriff absoluter "Vernunft" ausgeht, sind diese Fragen schwer zu lösen.

Philosophen und Wissenschaftler, die mit dem mainstream der neuzeitlichen Psychologie daran glauben, daß Menschen nur von Eigeninteresse angetrieben werden, müssen auch die Vernunftmoral mit Sicherheitsinteressen oder Furcht vor sozialer Ächtung verknüpfen. Das führt zur zweiten, funktionalistischen Strategie, die Moral als ein System von Vorschriften und Sanktionen zur Aufrechterhaltung nützlichen Sozialverhaltens versteht. Diese Strategie ist keine rationalistische, sondern eine empirische: moralische Regeln wirken offenbar so, und sie müssen daher wohl für diesen Zweck entstanden sein.

Von einem empirischen Standpunkt aus wird es dann aber schwierig, die strikte Allgemeinheit der Regeln und die Gleichheit aller in bezug auf sie zu fordern. Offenbar nützen ja Konfliktvermeidungsregeln denjenigen mehr, die über größere Mittel der Wunschbefriedigung verfügen. Rousseau nannte daher den Staatsvertrag eine Überlistung der Armen durch die Reichen.

Diesem Schluß kann man entgehen, wenn man statt des negativen Prinzips der Konfliktvermeidung auf das positive Gebot der Kooperation blickt: davon profitieren offenbar umgekehrt die Armen mehr als die Reichen, die Schwachen mehr als die Starken. Moralen der Nächstenliebe trifft daher der umgekehrte Vorwurf Nietzsches, sie intendierten die Herrschaft der Schwachen über die Starken.

Empirisch argumentieren und dabei von konkreten Vorteilen des moralischen Verhaltens absehen kann man am ehesten, wenn man eine biologische statt sozialpsychologische Motivationstheorie entwickelt. Altruistisches Verhalten, das zumindest für den Augenblick dem Handelnden keinen Vorteil bringt, könnte für die Art, die Gruppe oder die Gene vorteilhaft sein, deren Verbreitung dadurch gesichert werden.

Nach Auffassung der modernen Biologie gibt es eine angeborene Neigung zu Verhaltensweisen, die der Verbreitung eigener und verwandter Gene förderlich sind. Dazu zäh-len die der eigenen Fortpflanzung förderlichen kooperativen Verhaltensweisen, aber auch die Unterstützung genetisch Verwandter - manchmal auf Kosten der eigenen Erhaltung und Fortpflanzung. Von den moralischen Idealen, Werten und Tugenden, die in der Menschheitsgeschichte vorgekommen sind, ist jedoch nur ein Bruchteil mit diesen Dispositionen erklärbar. So gilt Nepotismus zwar in vielen Kulturen als verbreitet, aber nur in wenigen, wenn überhaupt, als moralisch hochstehend.

Die ethischen Maximen, die aus solchen naturalistischen Motivationstheorien folgen, können eigentlich nur lauten: Wehre Dich nicht gegen die ohnehin unbezwingbaren natürlichen Neigungen, sondern lebe in Übereinstimmung mit Deinen ererbten Dispositionen. Solche Maximen können zwar zu Recht kritisch gegen moralische Überforderungen gewandt werden. Die Vergeblichkeit jeder Distanz zu unseren natürlichen Dispositionen läßt sich aber nicht beweisen, und zur moralischen Handlungsorientierung reichen solche Maximen ohne Zweifel nicht aus. Vor allem verleiten sie dazu, Menschen nicht mehr überzeugen, sondern dirigieren zu wollen.

Orientierung an der Geschichte

Die Lücke, die in der neuzeitlichen Ethik durch die Trennung von der Welt- und Menschenkenntnis entstanden ist, wird seit dem 19. Jahrhundert zunehmend durch eine andere Orientierung ersetzt, nämlich durch die Orientierung an der Geschichte. Daß der Verlauf der Geschichte die göttliche Vorsehung ersetzt, ist seit Kants Geschichtsphilosophie deutlich. Bis heute ist die Berufung auf die Geschichte als Legitimation für Handlungen und Normen ungebrochen. Geändert haben sich die Konzeptionen von Geschichte. Seit Darwin ist der Einfluß der Evolutionstheorie auf das Geschichtsverständnis unverkennbar und ständig zunehmend. So wurde Geschichte als Kampf der Rassen um Fitness und Weltherrschaft verstanden. Nach dem Ende von Kolonialismus und Rassismus sowie der Entstehung des Neodarwinismus wird das historisch adäquate Verhalten passivischer verstanden: Es geht um Anpassung an veränderte Verhältnisse, die durch "Mutationen", nicht durch kollektive oder institutionelle Entscheidungen stattfinden. Die Industrialisierung, die Modernisierung, die Technisierung sind solche Prozesse, an denen zwar menschliche Handlungen mitwirken, die sich aber im Ganzen der Bildung eines gemeinsamen Willens und der bewußten Wertentscheidungen entziehen.

Mittlerweile ist die Selbsthistorisierung der modernen Gesellschaften so weit gediehen, daß die jeweils verbreiteten sozialen Mutationen sogleich auch zu Verhaltensnormen erhoben werden: Wer den Aufgaben der Zeit gerecht werden will, muß den Imperativen der Informationsgesellschaft bzw. der Wissensgesellschaft folgen. Auf der Höhe der Zeit zu sein und die Herausforderungen technischer Innovationen zu bewältigen, sind die moralisch-politischen Forderungen der als Evolution verstandenen Geschichte. Im Lichte welcher Werte sie bewältigt werden sollen, wird kaum noch diskutiert.

Was die Moral der wechselseitigen Achtung und Interessenberücksichtigung angeht, so wird sie im Rahmen einer solchen Evolutionstheorie der Gesellschaft auch am ehesten funktionalistisch erklärt. Moral ist ein System von Sanktionen, für die es eine erhebliche Bandbreite gibt: von den Gefühlen wechselseitiger Mißbilligung über die Regeln der Konvention bis zum strafbewehrten Rechtszwang. Regeln dieser Art sichern die Handlungskoordination und die notwendigen Operationen sozialer Systeme gegen störende Abweichungen. Die Gesellschaft integriert sich nicht mehr über Normen, sondern über die Codes der jeweiligen sozialen Systeme und die diffuse allgemeine Kommunikation.

Die Probleme, die diese verschiedenen Strategien mit sich bringen, werden heute immer deutlicher. Insbesondere sind es drei, die ich, etwas plakativ abkürzend, (1) die Paradoxien des Individualismus, (2) den Verlust des Politischen und (3) die Krise des Naturverhältnisses nenne.

 

Die Paradoxien des Individualismus

Die erste Paradoxie besteht darin, die Privatisierung der Werte und Glücksvorstellungen selber als einen öffentlichen und "objektiven" Wert zu fordern. Wenn die Selbstbestimmung des Individuums nicht selber sozusagen "Geschmacksache" sein soll, dann muß sie als eine Fähigkeit und eine Bestimmung seiner geistigen Vermögen verstanden werden, deren Ausübung durch die sozialen Regeln ermöglicht werden soll. Die Regeln zum Schutz des Wertepluralismus beruhen also selber auf einem Menschenbild, in dessen Zentrum der "objektive" Wert der individuellen Selbstbestimmung steht. Wird dieser Wert aber selber als autonome Grundlage aller übrigen Werte verstanden, dann ergeben sich weitere Paradoxien. Es fragt sich nämlich, ob er selber als individuelle Handlungsorientierung und als Grundlage der sozialen Beziehung ausreicht. Und es fragt sich, ob die modernen Mechanismen der Förderung individueller "Wertfreiheit" ihr Ziel erreichen.

Kritiker wie Charles Taylor bezweifeln, daß das moderne, allen Werten gegenüber souveräne Individuum in diesem Wert selber seine Erfüllung finden kann. Als Erfüllung könnten für Taylor nur Werte gelten, die wir nicht wie Konsumartikel auswählen, sondern die uns von sich aus anziehen und gewissermaßen an sich binden. Taylor und andere Kommunitaristen bezweifeln auch, ob die Werte der individuellen Freiheit genügen, um die Kooperation eines Gemeinwesens zu sichern. Wenn Individuen die Solidarität mit den Mitbürgern und die Mitwirkung an gemeinsamen Aufgaben - auch ohne erkennbaren Zugewinn für die private Wunscherfüllung - nicht mehr als Lebenssinn begreifen, fällt es schwer, einen Rückgang an Wohlstand ohne rücksichtslose Verteilungskämpfe zu verkraften.

Eine Paradoxie liegt schließlich auch darin, daß der wertneutrale Staat die Wahl individueller Lebensziele durch die Mittel ihrer Förderung zugleich einschränkt. Das Versprechen, der Rückzug der öffentlichen Kontrollen auf den moralfreien Rechtszwang würde den Spielraum der individuellen Lebensentwürfe ständig vergrößern, ist anscheinend nicht einzuhalten. In dem Maße, in dem der Wohlstand von Technisierungsprozessen abhängt, die wissenschaftliche Entwicklungen und gesellschaftliche Infrastrukturen voraussetzen, greift der Staat in die Lebensplanung und die Wahlmöglichkeiten der Individuen immer folgenreicher ein. In den modernen Gesellschaften scheint die Uniformisierung des Lebens zuzunehmen, der Spielraum der Individualisierung dagegen schwindet. Wir sind vielleicht freier zu wählen, aber die Wahlmöglichkeiten nehmen ab. Das reibungslose Funktionieren von Techniken und Organisationen und die Produktion von Massengütern verlangt ein standardisiertes Verhalten. Technische Erfindungen, Marktstrategien und staatliche Wirtschaftsförderungen ändern die Lebenswelt tiefgreifend und in großem Tempo.

Vielleicht sind die Kontroversen um Kernenergie und Gentechnologie auch ein Symptom dafür, daß die Bereitschaft zur bloßen Anpassung an technische Entwicklungen und Expertenentscheidungen abnimmt. Das Versprechen der Wohlstandssteigerung reicht allein nicht mehr aus, um technologiepolitische Entscheidungen zu rechtfertigen. Auch Technikfolgen können nicht nur hinsichtlich der Risiken und möglichen Schäden beurteilt werden. Hinzukommen muß eine Bewertung der technischen Optionen nach dem Maßstab, was für Lebensformen sie erleichtern oder erschweren und was sie für das Verhältnis des Menschen zur Natur und zum eigenen Körper bedeuten. Wenn die Ethik an dieser Diskussion teilnehmen will, wird sie mit einem minimalen Menschenbild nicht auskommen.

Der Verlust des Politischen

Zum Menschenbild der europäischen Ethik gehört seit Aristoteles die politische Natur des Menschen, d. h. seine Fähigkeit, in vernünftiger öffentlicher Rede zu gemeinsamen Entscheidungen über Nützliches und Schädliches, Gerechtes und Ungerechtes zu kommen. Die neuzeitliche Ethik hat dieses Politikverständnis selber noch einmal durch das Prinzip der individuellen Autonomie zu begründen versucht. Autonom kann man nach Rousseau und Kant nur sein, wenn man an den Regeln, denen man gehorchen muß, auch selber mitgewirkt hat.

Wenn aber die Wertenscheidungen dem Individuum vorbehalten bleiben, muß sich die Ethik auf die Grundlegung des Rechts und die Politik auf dessen Durchsetzung beschränken. Moderne Ethiker besonders der angelsächsischen Tradition betrachten die Rechtsregeln des Verbots der wechselseitigen Schädigung zugleich als Kern der Ethik. Öffentliche Gesetzgebung hat die Sicherung des ungestörten Rechtsverkehrs zwischen den Individuen zum Gegenstand. Die Mitwirkung an den Gesetzen ist also verbunden mit einer Beschränkung des Politischen. Und die ethische Grundlage dafür ist die Sicherung der individuellen Autonomie und der Mittel privater Wunscherfüllung. Verbindet sich eine solche Ethik mit der Vorstellung sozialer Evolution als eines Prozesses, der durch zufällige Innovationen und technisch-administrative Folgezwänge gesteuert wird, dann bleibt nur noch wenig Raum für gemeinsame Wertentscheidungen, und die Betätigung der politischen Natur des Menschen reduziert sich auf die Auswahl von Experten und Vertrauen erweckendem Führungspersonal.

Die Krise des Naturverhältnisses

Die Entwicklung einer von religiösen und philosophischen Konzepten losgelösten Wissenschaft der Natur hat zu enormen technischen Möglichkeiten geführt. Seit dem 18. Jahrhundert wird der technische und industrielle Fortschritt aber begleitet von Verlustrechnungen und Konservierungsforderungen. Es geht um die Erhaltung natürlicher Lebensweisen und den schonenden Umgang mit Lebewesen und Landschaften. In der Gegenwart hat die Aufmerksamkeit auf Technisierungsverluste eine neue Dimension erhalten, weil die technischen Eingriffe in die Prozesse der Fortpflanzung, Vererbung und Biosynthese zu einer bisher unvorstellbaren Abhängigkeit des Lebendigen vom menschlichen Willen führt. Wenn diese Möglichkeiten mit den Zielen der neuzeitlichen Naturbeherrschung verbunden bleiben, dann könnte Natürlichkeit überhaupt zur Disposition stehen: Das Ziel der Advokaten progressiver Naturbeherrschung ist seit dem 17. Jahrhundert die völlige Unterwerfung der Natur unter den menschlichen Willen. Die Gesamtnatur soll, so fordern es manche Aufklärer, dem menschlichen Willen so unmittelbar und widerstandslos gehorchen wie ein durchtrainierter Körper dem Willen des Individuums.

Gerade im Umgang mit dem menschlichen Körper wird uns heute aber am ehesten bewußt, daß dieses Ziel fragwürdig ist. Wenn jedes Individuum in seinen Wünschen und Werten völlig autonom ist, dann wäre in der Tat gegen beliebige Veränderungen des menschlichen Körpers zum Zwecke privater Wunscherfüllung nichts einzuwenden. Die Wahl von Körpergröße und Geschlecht, aber auch Eigenschaften, die für besondere Tätigkeiten qualifizieren, ist für die Minimalethik so lange unproblematisch, als damit niemand anderes geschädigt wird. Trotzdem sprechen unsere weit verbreiteten Intuitionen noch gegen eine grenzenlose Veränderung des menschlichen Körpers - auch auf Wunsch seines "Eigentümers".

Ähnliche Fragen nach den Grenzen der biotechnischen Zurichtung der Natur auf menschliche Wünsche ergeben sich auch im Umgang mit pflanzlichem und tierischem Leben. Für die Ethik sind sie grundlegender und schwieriger als die nach den Risiken dieser oder jener gentechnischen Veränderung. Wenn die Erfüllung beliebiger menschlicher Wünsche jede Veränderung der Erbeigenschaften lebendiger Wesen rechtfertigt, dann ist Natürlichkeit im Sinne von Willensunabhängigkeit kein erhaltenswertes Gut.

Zufälligkeit der Fortpflanzungsprozesse, individuelle Abweichungen und andere Unberechenbarkeiten der Evolution sollten dann einer plan- und kontrollierbaren Form des Lebens weichen. Das muß keine Horrorvorstellung sein, aber wir können heute diese Entwicklung wollen oder nicht, wir können sie vorantreiben, beschleunigen, verzögern oder beschränken. Vernünftige Selbstbestimmung verlangt also ein begründetes Urteil darüber, ob es für den Menschen gut ist, in der Natur ein teilweise selbständiges Gegenüber von eigenem Wert zu haben oder das Material und Produkt seiner Wunscherfüllung.

Die Paradoxien des Individualismus, die Gefährdung des Politischen und die Frage nach den Maßstäben der Biotechnik bedürfen einer ethischen Erörterung, die menschliche Eigenschaften und gemeinsame Werte nicht ausklammert. Zunächst einmal müssen die Werte analysiert werden, die unserer angeblich wertfreien wissenschaftlichen Zivilisation immanent sind. Schon empirisch ist es höchst zweifelhaft, daß eine völlige Privatisierung der Werte gelingen kann. Faktisch sind wir in unseren Wertungen nicht solitär, sondern partizipieren mehr oder weniger bewußt an gemeinsamen Wertmustern.

Darüber hinaus setzt auch das Weltbild der Trennung objektiver Tatsachen von subjektiven Werten noch eine Reihe von "starken Wertungen" voraus, um einen Begriff von Charles Taylor zu benutzen. Sie können durchaus mit privaten Wertpräferenzen kollidieren. Autonomie etwa kann eine Last sein, aber auch die wissenschaftliche Wahrheitssuche. Man denke nur an die Wahrheiten über unsere Geschichte, die viele nicht wahrhaben wollen. Auch unsere Verwandtschaft mit den Tieren wurde lange als eine Kränkung des menschlichen Selbstwertgefühls abgewehrt.

Die moderne Art der Forschungsförderung setzt ohnehin gemeinsame Werturteile über Forschungsrichtungen voraus. Die sind aber nicht mehr durch die immanenten Werte der modernen wissenschaftlichen Zivilisation allein zu rechtfertigen. Auch deswegen muß die Ethik wieder Vorschläge entwickeln, für das, was dem Menschen voraussichtlich gut tut.

Wie kann man wieder zu einem Menschenbild gelangen, das Tatsachen und Wertungen verbindet?

Die Versuche der Reduktion des Moralischen auf Biologie oder Entscheidungstheorie sind zwar immer wieder effektvoll, aber sie tragen weder zu einer differenzierten Anthropologie noch zur Lösung ethischer Fragen Entscheidendes bei. Die historische Entwicklung der Kultur ist nicht biologisch determiniert, erst recht sind es nicht die einzelnen moralischen Urteile. Was also sagt es für unser Menschenbild, daß der Mensch ein genuin moralisches Wesen ist? Moral entsteht nicht nur durch Einigung auf Regeln friedlicher und nützlicher Kooperation. Mindestens ebenso wichtig ist, daß Menschen ihr Leben und seine grundsätzlichen Optionen gemeinsam bewerten. Moral entsteht auch aus den Erzählungen über große Taten und wahrhaft menschliche Haltungen. Hier berührt sich das Moralische mit dem Ästhetischen: was ist eine wertvolle Haltung und Lebensweise? Daran knüpfen sich Erwartungen, Anforderungen und Ideale, denen sich der einzelne und die Gruppe unterstellen - man spricht heute vom "normativen Selbstbild".

Viele Ethiken haben das Glück des Menschen in der Zufriedenheit mit den eigenen Tugenden gesehen. Dahinter steckt, daß Menschen die Übereinstimmung mit ihren Idealen und grundsätzlichen Werturteilen besonders hoch schätzen und als Erfüllung ihres Strebens erfahren. Wenn diese Werturteile vernünftig und begründet sind, werden sie die Prinzipien wechselseitiger Rücksichtnahme enthalten - nicht nur, weil vernünftige Urteile allgemein und von anderen nachvollziehbar sein müssen, sondern auch, weil dies der sozialen Natur des Menschen entspricht. Die Ausdehnung dieser Verhaltensforderung über die enge Gruppe hinaus auf alle Mitglieder der Spezies ist offenbar das stets labile Resultat einer kulturellen Moralentwicklung. Die moderne biologische Anthropologie ist dafür hilfreich, weil sie Argumenten der Wesensverschiedenheit zwischen Menschen verschiedener Rassen oder von vornehmer bzw. niederer Abkunft den Boden entzieht. Über Rücksichts- und Kooperationsgebote hinaus enthalten die traditionellen Moralen auch Vorstellungen darüber, wofür es sich zu leben lohnt und welcher Zustand der Welt als "gut" zu bezeichnen wäre. Zu einem Menschenbild, das den ästhetischen und moralischen Eigenschaften des Menschen Rechnung trägt, gehört auch eine wertende Naturvorstellung. Implizit findet sich eine solche Vorstellung in unseren Alltagsorientierungen und auch in unseren rechtlichen Konventionen über Artenvielfalt, Landschaftsschutz, artgemäße Tierhaltung usw. Angesichts der modernen Fragen nach den Grenzen biotechnischer Eingriffe in die Natur müßte eine solche wertende Naturvorstellung explizit gemacht werden.

Dabei wird man sich vermutlich nur auf allgemeine Rahmenvorstellungen einigen können: etwa auf die Grundzüge der Mannigfaltigkeit, des Gedeihens, der Verträglichkeit, und der Natürlichkeit (im vorhin erläuterten Sinne). All diese Eigenschaften sind heute nicht mehr durch eine kosmische oder göttliche Ordnung garantiert, sondern abhängig von menschlichen Wertungen und gemeinsamen Anstrengungen.

Zu dem, was für den Menschen wertvoll ist, gehören auch diejenigen Formen der Selbstverwaltung menschlicher Gemeinschaften, in denen sich die Sprache und die Vernunft des Menschen am besten entwickeln können. In der europäischen Geschichte hat sich die Idee der gewaltenteiligen Republik entwickelt - eine schwierige, hohe Anforderungen stellende Form der Selbstverwaltung menschlicher Gemeinschaften. Sie kann nicht deshalb als Illusion entlarvt werden, weil sie schwer zu realisieren ist. Ebensowenig kann sie einfach durch soziologische Erklärungen aufgegeben und durch das Paradigma der Evolution ersetzt werden. Gesellschaften, die sich nur noch evolutionären Zufällen anpassen, sind bloß Populationen im biologischen Sinne und unterstehen nicht mehr der Wertvorstellung kollektiv-selbstbestimmter Republiken. Moralische Wesen müssen sich entscheiden, ob sie an diesem normativen Selbstbild festhalten wollen oder nicht.

So wenig wie die moralische Natur des Menschen aus unserem Menschen- und Weltbild wegzudenken ist, so wenig darf das Wissen von anthropologischen und historischen Fakten außerhalb der Ethik bleiben. Auch in dieser Hinsicht ist das neuzeitliche Ideal der reinen, erfahrungsunabhängigen Prinzipienethik zu korrigieren. Gut für den Menschen ist das, was seinen Fähigkeiten entspricht, nicht nur denen des rationalen Egoisten, sondern auch des sozialen und politischen Lebewesens. Diese Fähigkeiten liegen aber nicht ein für allemal fest, sondern entwickeln sich in der Kulturgeschichte.

Die beiden Quellen für ein Menschenbild

Für ein ethik-relevantes Menschenbild gibt es vor allem zwei Quellen, auf die die Ethik zurückgreifen muß:

Erstens die Erkenntnis von anthropologischen Konstanten. Dazu gehören die verhaltensbiologischen und genetischen Erkenntnisse über kooperative oder aggressive Dispositionen ebenso wie die Einsichten der Psychologie über stabile und ausgeglichene psychische Verfassungen. Dazu gehört zweifellos auch die Medizin. Trotz aller kulturellen Bestandteile der Begriffe von Gesundheit und Krankheit wissen wir doch heute ziemlich genau, welcher Stand der Hygiene, der Ernährung, der Prävention und der Therapie notwendig dafür ist, daß Menschen sich körperlich und - soweit davon abhängig - auch seelisch ungestört entwikkeln und gedeihen können. Notwendig ist eine Verbindung medizinischen Wissens mit ethischer Reflexion über Kriterien der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Selbständigkeit.

Zweitens historisches Wissen. Die These, daß sich ein unveränderter Steinzeitmensch durch die Möglichkeiten der modernen Technologie hoffnungslos überfordere, übersieht die Eigenständigkeit der kulturellen Entwicklung. In modernen Gesellschaften haben sich die Bedürfnisse und Wünsche, die Denk- und Sehweisen, die Risiko- und Leidensbereitschaft tiefgreifend verändert. Diese Entwicklung enthält aber auch Erfahrungen mit Werten, Normen und Institutionen. Auch wenn wir in konkreten Situationen nur bedingt aus der Geschichte lernen können, unterscheiden wir doch ziemlich einhellig zwischen Perioden des Blühens und Darbens von Kunst und Handel, Wissenschaft und Religion. Wenn sich Konsense darüber, unter welchen Rechts- und Sozialordnungen Menschen leiden oder gedeihen, in durchsetzbaren internationalen Konventionen niederschlagen, kann man durchaus von einem moralischen und rechtshistorischen Lernprozeß sprechen.

Eine solche konkrete, mit anthropologischem Wissen und historischen Erfahrungen gesättigte Ethik stellt keine Bedrohung des weltanschaulichen Pluralismus dar. Sowohl auf dem Gebiet der Wertungen wie der Deutung historischer Erfahrungen kann es strenge Objektivität und Beweisbarkeit nicht geben. Man kann auch zu grundsätzlichen ethischen Thesen noch sinnvolle Gegenbehauptungen aufstellen, wie schließlich in den meisten übrigen Wissenschaften auch. Ohne öffentliche Diskussion und demokratische Gesetzgebung kann keine ethische Theorie zur Grundlage von Rechtszwang werden.

Auf der anderen Seite sind grundlegende Wertekonsense keine beliebigen Meinungen. Das gilt z.B. für die Menschenrechte oder die Gewaltenteilung, aber auch für die meisten menschlichen Tugenden. Auch über menschliche Not, psychisches und soziales Elend, über Naturkatastrophen und über Mangelerscheinungen in der Pflanzen- und Tierwelt sind sich Menschen ganz überwiegend einig, obgleich dabei Wertungen implizierts sind. Wenn die Ethik solche Wertungen reflektiert und mit möglichst universal nachvollziehbaren Argumenten dazu Stellung nimmt, ist sie mehr als eine private Meinung.

Die neuzeitliche Berührungsangst zwischen Ethik und Menschenbild sollte also aufgegeben werden. Ohne Einschluß anthropologischen Wissens und historischer Erfahrungen kann Ethik wenig zur Lösung zeitgenössischer Probleme beitragen. Aber ebenso ist ein wissenschaftliches Menschenbild ohne Anerkennung der moralischen Eigenschaften und der vielfaltigen moralischen Kulturen unvollständig.