Zum Bild Adornos

Selbstdeutungen, Gesten, Anekdoten

 „Aus drei Anekdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben.“ (Friedrich Nietzsche)

 Adornos Werk ist von der Subjektivität des Autors nicht abzulösen. Seine philosophischen, soziologischen, literarischen und musikalischen Vorlieben und Abneigungen sind unverkennbar durch seine Bildungsgeschichte mitbestimmt. Für den Berg- und Schönberg-Schüler Adorno ist Schönberg beinahe schon der Messias; dem Kafka-Enthusiasten und Mitarbeiter Thomas Manns bedeutet die deutsche Prosa-Literatur nach 1945 nicht viel; der Soziologe und Philosoph bleibt an die Frage- und Frontstellungen der 20er und 30er Jahre gebunden. Seine aphoristische Darstellungsweise, sein kompositorisches Zusammenfügen von Theorieelementen, seine moralistische Kulturreflexion verleugnen nicht ihre Prägung durch Nietzsches Aphorismenbücher.

 Anekdoten sind keine Ganzheit, Geschlossenheit, Einheitlichkeit vorgaukelnden Biographien. Sie halten Gesten eines Lebens fest, sind Geschichten, in denen es in seiner Identität und Widersprüchlichkeit erscheint. Natürlich wird in Anekdoten die Gestalt    eines Philosophen immer nur partiell, manchmal sogar ungünstig beleuchtet. Dasjenige wird sichtbar, was Zeitgenossen als prägnant, charakteristisch, überliefernswert ansehen, was sie mit besonderer Zu- oder Abneigung wahrnehmen, woran sie sich erinnern wollen. Dabei können Anekdoten,    ebenso wie Selbstdeutungen, sowohl in den Kern eines Denkens hinein- als auch in die Irre führen.

 Der Schwierige

 „Einer, der Aphorismen schreiben kann, sollte sich nicht in Aufsätzen zersplittern.“ (Karl Kraus)

„Heute habe ich etwas niedergeschrieben, das ich vorläufig selbst noch kaum verstehe“ – mit diesem Bekenntnis überraschte Adorno einmal einen seiner ersten Studenten. Ein derartiger Satz drückt fast so etwas wie  Ehrfurcht vor der eigenen Formulierungsfähigkeit aus. Herbert Marcuse, trotz aller Konflikte ein wichtiger Mitstreiter, weist darauf hin, dass Adorno mit Absicht so komplex schreibt: „Ich gebe zu, dass mich die Sätze Adornos manchmal in Raserei gebracht, manchmal wütend gemacht haben, aber ich glaube, das sollten sie. Und ich glaube, ich brauche mich dessen nicht zu schämen.“ Kurt Biedenkopf, den niemand, am wenigsten er selbst, zu den dümmsten Köpfen seiner Partei rechnet, „gab zu verstehen, dass kein Bundes- oder Landtagsabgeordneter Texte von Adorno oder Horkheimer verstünde“. Es ist nur ein schwacher Trost für den Leser, wenn Adorno betont: „Mühe und Anstrengung des Begriffs sind unmetaphorisch.“ Besonders der häufige Gebrauch von Fremdwörtern mag manchen Leser entmutigt haben. Adorno hat ihn verteidigt: Ein Fremdwort sei so etwas wie die „silberne Rippe“ in einem Text. Ein nicht ganz überzeugter Kritiker spottete, manche Texte Adornos hätten dann einen „rein silbernen Brustkorb“.

 Adornos Alltag in den 60er Jahren war von Musik, Verwaltung, Lehrtätigkeit und Schreiben geprägt, mit einer Tendenz zu zunehmender Überlastung und Überarbeitung: „Am frühen Morgen Klavierspielen. Vormittags und nachmittags im I[nstitut] f[ür] S[ozialforschung] […]. Jahraus, jahrein hielt Adorno an den Dienstagen und Donnerstagen seine philosophischen und soziologischen Vorlesungen und Seminare ab – darunter so originelle soziologische Veranstaltungen wie ein Lach-Seminar und ein Streit-Seminar […]. Die Abende zu Hause – eine fünf Minuten vom Institut gelegene Mietwohnung, deren einziges auffälliges Merkmal ein Flügel war – waren dem Lesen und dergleichen gewidmet. Für seine Arbeiten machte Adorno sich laufend Notizen in ein kleines Buch, das er stets bei sich hatte. Darauf gestützt diktierte er. […] Diese Seiten überarbeitete Adorno, bis manchmal vom Getippten nichts mehr übrig und alles durch Handgeschriebenes ersetzt war. Dieser Prozess wiederholte sich zuweilen bis  zu vier Malen.“ (R. Wiggershaus) Die Sätze wurden dabei dichter und komplexer.

 Nicht ganz unschuldig an der Schwerverständlichkeit mancher Texte Adornos dürfte eine Selbstzensur sein, die der Vermeidung des möglicherweise politisch Anstoßerregenden geschuldet ist. Max Horkheimer war in dieser Hinsicht noch vorsichtiger als      Adorno; erst als Raubdrucke der Dialektik der Aufklärung und seiner frühen Aufsätze aus der ‚Zeitschrift für Sozialforschung‘ auftauchten, ließ er sich widerwillig dazu überreden, Neuauflagen bzw. Dokumentationen (jeweils mit distanzierendem Vorwort) zuzustimmen. Horkheimer kritisierte überdies in einem Brief vom 27. 9. 1958 an Adorno in scharfer Form Passagen aus Aufsätzen von Jürgen Habermas als politisch zu weit links stehend und der öffentlichen Stellung des ‚Instituts für Sozialforschung‘ abträglich: „Solche Bekenntnisse im Forschungsbericht eines Instituts, das aus öffentlichen Mitteln dieser fesselnden Gesellschaft lebt, sind unmöglich.“ Adorno verteidigte seinen Assistenten, konnte aber nicht verhindern, dass Horkheimer die Habilitation von Habermas in Frankfurt zunächst blockierte, so dass dieser nach Marburg ging, um sich bei Wolfgang Abendroth zu habilitieren.

 Der Solist

 „Adornos Wirkung war die eines Künstlers.“ (Elisabeth Lenk)

 Peter von Haselberg gibt fast fünfzig Jahre später seinen Eindruck von der Antrittsvorlesung des noch nicht einmal 30jährigen Adorno an der Frankfurter Universität wieder: „Es war eine echte Antrittsvorlesung, polemisch gegen die herrschenden Philosopheme allesamt [...]. Aber es fand zugleich  mit der Vorlesung auch die Aufführung eines Sprachkunstwerks durch einen adäquaten Rezitator statt; nicht die Spur von einem scheuen jungen Gelehrten, im Gegenteil: ein Begeisterter, der aus seinem Text etwas zu machen verstand, verließ das Podium wie ein gefeierter Solist.“ Auf Reaktionen auf seine Vorträge konnte Adorno offenbar gespannt sein wie ein Schauspieler: „War ich nicht ungewöhnlich gut? konnte er nach einem Kolleg fragen, als sei es eine Konzertarie gewesen [...]“. Der Komponist Dieter Schnebel sagt über Adornos Vortragsstil: „Als Adorno in Zürich seinen Essay über Rudolf Borchardt uraufführte, kam ich mit halbstündiger Verspätung ins Theater am Hechtplatz. Der Saal war von innen verschlossen, so dass man nur außerhalb, im Gang, zuhören konnte. Die leise Stimme vermochte nicht aus dem hermetischen Raum hinaus zu dringen. Nur wenn man das Ohr an die Tür hielt, ließ sich der gelesene Text verstehen. Stand man bloß davor, ohne körperlichen Kontakt zu halten, vernahm man einzig die Struktur des Sprechverlaufs. Also ward man freilich gewahr, wie musikalisch der Vortrag vor sich ging. Da gab es markante Hauptsätze, melodische Seitensätze von großer Zartheit, Passagen, wo wie in Durchführungen sich rasch die Charaktere änderten. Reprisen schufen Erinnerung an frühere Darlegung, und schließlich verhallte das Stück in einer ausgedehnten Coda, welche allerdings mit deutlichem Punkt endete. [...] Also kam der Inhalt direkt zu Wort, was dem Adornoschen Vortrag die Gewalt des Ausdrucks verschaffte: gleichsam sprach das Gedachte selbst: espressivo der Sache. Soll das heißen: Adorno sang seine Vorträge vom Blatt?

 Der Kritiker

 Und wie will Kunst als  Erkenntnis leben?“ (Th.Mann: Doktor Faustus)

 Der Teufel, mit dem in Thomas Manns ‚Doktor Faustus‘ der Komponist Leverkühn seinen Pakt abschließt, tritt auf als „bitte doch sehr, als was Besseres [...] – ein Intelligenzler, der über Kunst, über Musik, für die gemeinen Zeitungen schreibt, ein Theoretiker und Kritiker, der selbst komponiert, soweit eben das Denken es ihm erlaubt.“ Dieser Teufel erläutert dem „Tonsetzer“ im Faustus-Romans die Situation der neuen Musik mit Thesen, die Adornos ‚Philosophie der neuen Musik‘ entlehnt, zum Teil wörtlich daraus zitiert sind. Wie der Verfasser der ‚Philosophie der neuen Musik‘, so spricht auch der werkfeindliche Teufel des Romans vom „Scheincharakter des bürgerlichen Kunstwerks“ und der Bilderlosigkeit der Musik; er erklärt: „Ich bin gegen die Werke im großen ganzen“ und wird dafür von Leverkühn beschimpft, der in seinen „Deduktionen eitel Teufelsfürze zu Schimpf und Schaden des Werks“ sieht. Hans Mayer hat seinen Eindruck bei der Lektüre des zentralen Teufelspakt-Kapitels so formuliert: „Bei Gelegenheit der Parodie kommt es zu einem heftigen Streit zwischen Leverkühn und dem Teufel. Man hat plötzlich den Eindruck, einem Dialog zwischen Thomas Mann und Theodor W. Adorno beizuwohnen.“ Thomas Mann selbst hat ausführlich dargestellt, wie bedeutend beim Faustus-Roman die Rolle Adornos als Mitarbeiter und Anreger gewesen ist, und schließlich, halb entschuldigend, bemerkt: „was ich [...] mir zur Darstellung der kulturellen Gesamtkrise wie der Musik im besonderen von ihr [nämlich von Adornos Situationskritik] aneignete, war das Grundmotiv meines Buches: die Nähe zur Sterilität, die eingeborene und zum Teufelspakt prädisponierende Verzweiflung.“ Adornos Mitarbeit am Faustus-Roman beschränkte sich nicht darauf, dass er durch musikalische Einzelanalysen der (fiktiven) Musik Leverkühns das „technische Rückgrat“ verliehen hat. Der Roman hätte ohne die Einwirkung von Adornos philosophischer Kulturkritik und Ästhetik, besonders seiner Theorie der neuen Musik vielleicht nicht seine avantgardistische Gespanntheit gewonnen. Wie in die ‚Buddenbrooks‘ Elemente der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches hineinspielen, im ‚Zauberberg‘ die kulturkritischen Debatten der Zeit des Ersten Weltkriegs widerhallen, so hat Thomas Mann im ‚Doktor Faustus‘ Gedanken und selbst Formulierungen aus der Werkstatt der ‚Kritischen Theorie‘ Adornos aufgegriffen.

 Hermann Pongs, ein Germanist, der 1945 seine Professur wegen zu großer Nähe zum Nationalsozialismus aufgeben musste, resümiert die Rolle Adornos aus seiner Sicht: „Die Bedeutung, die Adorno als Zeitstimme symptomatisch zukommt, hat vielleicht am deutlichsten Hans Mayer herausgehoben, wenn er sagt, in Thomas Manns ‚Doktor Faustus‘ trage Satan Züge Adornos.“ In diesem Satz kommt zum Ausdruck, was die Wirkungsgeschichte Adornos in Deutschland bis in die 60er Jahre hinein überschattet. Hinter Pongs‘ Diffamierung einer zerstörerischen „Satansdialektik“ wird ein Ressentiment gegenüber Adornos intensiver Wirkung in der demokratischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik sichtbar.

 Der Hochschullehrer

„Erfolg als akademischer Lehrer verdankt man offenbar der Abwesenheit einer jeden Berechnung auf Einflussnahme, dem Verzicht aufs Überreden.“ (Theodor W. Adorno)

Zwischen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bestand nicht nur ein Kooperations-  und Freundschafts-, sondern auch ein Spannungsverhältnis. „Das Zusammenspiel der beiden, von klug-vornehmen Gattinnen umschwebten Philosophen verlief gelegentlich nicht ohne Komik. Unvergesslich, wie in    einem Kant-Seminar, das die Herren gemeinsam abhielten, Adorno und Horkheimer voller Eifer zusammen zu reden anfingen, wobei Adorno offenbar genau das Gegenteil der Horkheimerschen Meinung vorzutragen im Begriffe schien. Nur: Adorno konnte weit rascher formulieren als der behäbige Horkheimer. Staunend erlebten wir mit, dass      Adorno wieselflink zwischen Horkheimers wohlgesetzten Worten mit Hilfe schwungvoller argumentativer Kurven, am Ende, zu Horkheimers letztem Wort, seinerseits dann auch genau bei Horkheimers These ankam. Virtuose Dialektik vermag eben doch viel.“  (J. Kaiser) Die Dialektiker wiederholen den Wettlauf von Hase und Igel. Der Igel, als Schulhaupt, hat das beinahe unfehlbare Lehramt inne und kann also an jeder Stelle der Debatte sagen: „Ick bün all do“, aber der Hase ist so flink und präsent, dass er geistesgegenwärtig in diesen Ruf mit einzustimmen weiß.

 Das Publikum sollte annehmen, wie Adorno es ausdrückte: „dass das philosophische Denken des Autors und das Max Horkheimers eines sind.“ Das war nicht ganz zutreffend. Aber auch wenn Adorno radikaler geblieben war als der in mancher Hinsicht konservativ gewordene alte Horkheimer, so hielt doch auch er sich mit Sympathiebezeugungen für die studentische Protestbewegung der Jahre 1967-1969 eher zurück: „Als wir vor einem halben Jahr das Konzil belagerten, kam als einziger Professor Adorno zum Sit-in der Studenten. Er wurde mit Ovationen überschüttet, lief schnurstracks auf das Mikrofon zu und bog kurz vor dem Mikrofon ins Philosophische Seminar ab. Also kurz vor der Praxis in die Philosophie.“ (Hans-Jürgen Krahl)

Der Sensible

 „Adorno hat die Alternative von Kindbleiben oder Erwachsenwerden nie akzeptiert [...]. In ihm ist eine Schicht früher Erfahrungen und Einstellungen lebendig geblieben.“ (Jürgen Habermas)

Schon das Händeschütteln war für Adorno nicht so einfach wie für andere Menschen. „Im ehemaligen philosophischen Seminar im Hauptgebäude der Frankfurter Universität musste man, um in die Bibliothek zu gelangen, einen Vorraum durchqueren, der von einem schweren Vorhang geteilt wurde; dieser bildete mit der fensterlosen Wand eine Art dunklen Gang, durch den der Weg führte. Dort stieß ich eines Tages im Wintersemester 1968/69, damals Student im fünften Semester, unversehens mit einer mir entgegenkommenden Gestalt zusammen, die daraufhin, im momentanen Erschrecken nach Fassung suchend, meine, des ihr Unbekannten Hand ergriff und schüttelte, um sich dann ohne ein weiteres Wort zu entfernen. Es war Adorno. [...] Merkwürdig erscheint nicht das Erschrecken der beiden Betroffenen, sondern die spontane Form seiner Beschwichtigung bei Adorno, sein Griff nach meiner Hand, das Händeschütteln.“ (Gunzelin Schmid Noerr) Es gibt eine andere, von Adorno selbst berichtete Szene des Händeschüttelns: Charlie Chaplin habe ihn einmal „nachgemacht“: „Wir waren, mit vielen anderen zusammen, in einer Villa in Malibu, am Strande außerhalb von Los Angeles, eingeladen. Einer der Gäste verabschiedete sich früher, während Chaplin neben mir stand. Ich reichte jenem, anders als Chaplin, ein wenig geistesabwesend die Hand und zuckte fast zugleich heftig zurück. Der Abschiednehmende war einer der Hauptdarsteller aus dem kurz nach dem Krieg berühmt gewordenen Film ‚The Best Years of Our Life‘; er hatte im Krieg die Hand verloren und trug an deren Statt aus Eisen gefertigte, aber praktikable Klauen. Als ich die Rechte schüttelte, und sie auch noch den Druck erwiderte, erschrak ich aufs äußerste, spürte aber sofort, dass ich das dem Verletzten um keinen Preis zeigen dürfte, und verwandelte mein Schreckgesicht im Bruchteil einer Sekunde in eine verbindliche Grimasse, die weit schrecklicher gewesen sein muss. Kaum hatte der Schauspieler sich entfernt, als Chaplin bereits die Szene nachspielte.“ Jürgen Habermas, dem Adorno die Geschichte erzählt hatte, kommentiert die Reaktion     Adornos: „Chaplin muss in diesem Augenblick blitzschnell reagiert und Adornos leibgewordenes Entsetzen ebenso wie den hoffnungslosen Versuch, es zu überspielen, in Pantomime übersetzt haben. Natürlich ist diese Geschichte über Chaplin eine über    Adorno [...]. Inmitten der Geselligkeit, die doch für den Anblick des unbeseelten Körperteils eigens veranstaltet war, hatte die Kälte des Metalls Adorno unvorbereitet getroffen.“ Für Jürgen Habermas bleibt die „unvergleichlich glanzvolle Genialität“     Adornos untrennbar verbunden mit seiner Erschütterbarkeit, seiner ungeschützten Sensibilität, selbst den skurrilen Zügen seiner Subjektivität.

 Der verkappte Prinz

„Mit sehnsüchtigen Augen blickt der Froschkönig, ein unverbesserlicher Snob, zur Prinzessin auf und kann von der Hoffnung nicht ablassen, dass sie ihn erlöse.“ (Theodor W. Adorno)

Peter von Haselberg hat auf Adornos Hingezogensein zum (möglichst hohen) Adel aufmerksam gemacht. Diese Eigentümlichkeit habe sich zum Beispiel darin gezeigt, „dass er meinen gar zu einfachen Adelstitel, wenn er mich jemandem vorstellen wollte, regelmäßig um zwei bis drei Grade steigerte und sich davon nur höchst ungern abbringen ließ. [...] Alle Gesellschaftskritik vermochte nichts gegen sein vehementes Bedürfnis zu Gemeinsamkeiten mit dieser society, und dies ließ ihm Kritik an den einzelnen Mitgliedern dieser Gesellschaft stets unzulässig erscheinen. Es führte zu einer ernsten Verstimmung, als ich ihn eines Abends zu einem Hause begleitete, das, zumindest auf seine industrielle Machtstellung, damals als das erste am Ort zu bezeichnen war, und von dem ich wusste, dass man dort – im Herbst 1932 - die endgültige Wendung zu Hitler schon vollzogen hatte. Dies teilte ich Wiesengrund mit. Verdrossen erwiderte er, dass er von mir am letzten erwartet hätte, ich wolle ihm einen schönen Abend verderben.“ Zeitlebens habe Adorno bei der upper class, „zielgerad beim Adel, dem möglichst hohen“, Zuflucht gesucht; er sei des festen Glaubens gewesen, „daß die Vorfahren seiner Mutter, die Adorno della Piana, Dogen von Genua gewesen und überdies mit dem Fürstenhause Colonna verwandt seien. [...] Um so größer war dann sein Erstaunen und kaum noch verhohlenes Glück, als er mir von dieser Abkunft erzählt hatte und ich darauf erwiderte, er müsse demnach in direkter Linie von Jupiter abstammen, denn von ihm leiteten sich die Colonna jedenfalls her. [...] [D]ie in den ‚Minima Moralia’ nur eben angedeutete Selbstcharakterisierung als der Frosch aus dem Grimmschen Märchen [...] war sicher nicht allein auf die äußere Erscheinung bezogen gedacht, sondern ausgleichend ebenso auf den verzauberten Prinzen.“ Adorno hat auf offene und versteckte Kränkungen und Zurückweisungen in Universität und Öffentlichkeit einerseits mit übersteigerter Distanz – die von manchen als Eitelkeit empfunden wurde – , andererseits mit einer Hinwendung zu erhofften Restbeständen einer ‚guten Gesellschaft’ reagiert. „Auch der Prinz Lippe begeisterte Adorno, zumal er sich von den Maiereignissen angesteckt zeigte, was allerdings Adorno auch verwunderte, weil er «zu rhythmischen ho ho ho tschi min Rufen etwa so geeignet ist wie ich».“ (Elisabeth Lenk) Wie die Prinzessin Marie Bonaparte zur Mitherausgeberin der ‚Gesammelten Werke’ von Sigmund Freud wurde, so ein echter deutscher Prinz – wenn auch aus einem Kleinstaat -  zum Herausgeber von Vorlesungen Adornos. Dies allerdings ein postumer Triumph, dem einer zu Lebzeiten voranging: „Gekrönt wurde er [Adorno] aber durch eine Einladung im Hause des Conte di Lampedusa in Palermo, wo er auf eine Prinzessin Paléologue traf – eine hinreißende Person, wie er sagte – und mit ihr herausbekam, dass Heiraten für sie ganz unsinnig sein würde: für eine Paléologue aus dem Kaiserhaus von Byzanz gebe es schlechthin keine standesgemäße Partie. Er ließ durchblicken, dass er als Nachkomme des Dogen Adorno ihr auch keinen Bund fürs Leben angetragen habe, wohl aber etwas weniger.“ (von Haselberg)

 Der Lehrer und seine rebellischen Schüler

 „Das Gift, das er [Adorno] verspritzte, erschien mir als Balsam.“ (Hans-Klaus Jungheinrich)

 Eine Fehlprognose Adorno war es, dass er im Jahr 1933 der Regierung Hitler kein langes politisches Überleben zutraute. Den Entzug der akademischen Lehrerlaubnis durch die Nationalsozialisten kommentierte er mit dem Wortspiel: „Je venia legendi, desto besser“. Bis zum Abgewirtschaftethaben des Regimes glaubte er, in Deutschland ‚überwintern‘ zu können. „Überwintern, wie es im Herbst 1933 wörtlich erhofft wurde, bis zu Hitlers Ende spätestens im kommenden Frühjahr, wollte er als Musikschriftsteller“ (von Haselberg). Diese Erwartungen haben getrogen; widerwillig entschloss sich Adorno erst Jahre später endgültig zur Emigration. Von seinem Studienaufenthalt in Oxford kehrte er mehrmals nach Deutschland zurück und ging erst im Februar 1938 in die USA, wo er – auf Horkheimers Initiative hin – anfangs mit dem ebenfalls emigrierten Sozialforscher Paul Lazarsfeld zusammenarbeitete. Lazarsfeld war von dem neuen Forschungskollegen irritiert: „Er [Adorno] sieht genauso aus, wie man sich einen geistesabwesenden deutschen Professor vorstellt, und er benimmt sich so fremdartig, dass ich mir selbst wie ein Mitglied der Mayflower-Gesellschaft vorkomme. Wenn man allerdings erst einmal sich mit ihm unterhält, äußert er enorm viele interessante Ideen.“ Für Adorno muss die Mitarbeit an research-Aktivitäten anfangs eine Art von Kulturschock gewesen sein: „War ich etwa mit der Forderung konfrontiert, wie man wörtlich sagte, «Kultur zu messen», so besann ich demgegenüber mich darauf, dass Kultur eben jener Zustand sei, der eine Mentalität ausschließt, die ihn messen möchte.“ Er wollte seine Identität, die eines deutschen und europäischen Musikers, Intellektuellen, Philosophen nicht im Wissenschaftsbetrieb der USA verlieren.

 Habermas schreibt über seinen zeitweiligen ‚Vorgesetzen’ im akademischen Milieu der Frankfurter Universität: „Gegen ‚Teddie‘ konnte man umstandlos die Rolle des ‚richtigen‘ Erwachsenen ausspielen; denn dessen realitätsgerechte Immunisierungs- und Anpassungsstrategien sich anzueignen ist Adorno nie imstande gewesen. In allen Institutionen ist er ein Fremdling gewesen – nicht, als hätte er das gewollt. Seiner Universität [...] war der ungewöhnliche Kollege nie recht geheuer, wenn nicht gar suspekt. Die Schulphilosophie [...] hat den ungewöhnlichen Intellektuellen nicht eigentlich anerkannt. Und selbst in der literarischen Öffentlichkeit, die er anderthalb Jahrzehnte wie kaum ein zweiter bestimmte, hat Adorno keinen der offiziellen Preise erhalten. [...] Einer von Adornos Schülern hat dem Lehrer ins offene Grab nachgerufen: er habe am bürgerlichen Individuum unwiderstehlich Kritik geübt und sei doch selbst in dessen Ruine gebannt geblieben. Das ist wohl wahr.“

 In der politisierten Szenerie Westberlins entziehen im Sommer 1967 manche der linken Studenten Adorno ihre Sympathie. Sie nehmen übel, dass ihr Theorie-Übervater über Ästhetik liest und schreibt und nicht über Revolution, und besonders, dass er nicht bereit ist, ein Gutachten zur Entlastung des wegen Aufrufs zur Brandstiftung angeklagten Fritz Teufel zu verfassen. Adornos Vortrag ‚Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie’ wird am 7. Juli 1967 gestört; Studenten erscheinen mit einem Spruchband: „Iphigenisten aller Länder, vereinigt euch!“ Peter Szondi „gelang es, Adorno zu einem weitgehend ungestörten Vortrag zu verhelfen. Nach dem Vortrag wollte eine Studentin Adorno einen aufgeblasenen roten Gummi-Teddy    überreichen […]. Ein Student schlug ihn ihr aus der Hand. Adorno verurteilte das als   einen «Akt der Barbarei».“ (Rolf Wiggershaus) Eine paradoxe (und damit für Adornos Praxisverhältnis charakteristische) Szene: Von ihm beeinflusste, aber von seiner politischen Zurückhaltung enttäuschte Studenten rebellieren gegen den Meister und versuchen ihn in der akademischen Öffentlichkeit Berlins und darüber hinaus in der Medienöffentlichkeit der Bundesrepublik, die solche Happening-Aktionen ja genussvoll aufgreift, lächerlich zu machen. Adorno seinerseits distanziert sich scharf von einem Anhänger, der ihn schützen will.

 Viel Wirbel in der deutschen Presse erzeugt der Prozess gegen Hans-Jürgen Krahl wegen einer Anfang 1969 erfolgten ‚Besetzung’ des ‚Instituts für Sozialforschung‘ in Frankfurt. Adorno und Ludwig von Friedeburg als zuständige Institutsdirektoren hatten die Polizei gerufen. „Adorno konnte nicht gut angeklagt werden, aber die Gelegenheit, ihn als Zeugen zu hören, ließ sich ebenfalls nutzen. So kam denn, wie zu erwarten, das Gleichnis des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird, und endlich fiel auch das böse Wort vom Verführer der Jugend, wie damals in Athen gegen Sokrates. Nach dem Staatsanwalt stand der ehemalige Schüler auf, der die Besetzung geleitet hatte [Hans-Jürgen Krahl], also der Angeklagte, und nahm den Zeugen ins Kreuzverhör. Ob er sich wirklich bedroht gefühlt habe, wollte er wissen, und was er eigentlich gesehen habe, das ihn veranlasste, die Polizei zu rufen?“ (Paul Lüth) Die Presse hat ihre Story: Die Revolution frisst ihre Väter, so stellt man den Konflikt dar.

 Wenige Wochen später, nach Adornos Tod am 6. 8. 1969, finden sich in vielen Zeitungen Reaktionen einer scheinheiligen Bestürzung. Nicht wenige unter diesen Nachrufen verbergen nur schlecht eine gewisse Erleichterung. Manche der vielgeprüften Rezensenten und der im Schatten Adornos stehenden akademischen Kollegen atmen auf. Ein unverständlicher und ungemütlicher Störenfried ist weg, einer, der Funken in den „Muff“ hatte bringen wollen. Besonders hervorgetan hatten sich schon zu Adornos Lebzeiten manche Mitarbeiter der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung’: „Von dem Maß an  Hass, das sich auf Friedeburg, Habermas und mich konzentriert, machst Du Dir offenbar keine Vorstellung. Die Lektüre der FAZ könnte es Dir zeigen.“ So Adorno am 26. 7. 1969 an Herbert Marcuse. Diese Tradition – von der es allerdings, wie man gerechterweise sagen muss, auch im Feuilleton der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung’ Abweichler wie Gustav Seibt oder Henning Ritter gab bzw. gibt – endete nicht mit Adornos Tod: „Dem Feuilleton der FAZ fiel beispielsweise zu seinem [Adornos] 25. Todestag [6. 8. 1994] nichts Besseres ein, als aus gehässigen Stimmen hämischer Kleingeister ein Potpourri anzurühren.“ (Jürgen Habermas) Auch in dieser Hinsicht, als philosophischer Buhmann der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung’, scheint Jürgen Habermas die Nachfolge seines Lehrers angetreten zu haben.

 Gerade der Höhepunkt der Wirkung Adornos zwischen 1967 und 1969 ist auch der Umschlagspunkt dieser Wirkung; seine Präsenz in den öffentlichen Debatten dieser Zeit führt dazu, dass er zwischen alle Stühle gerät. Die SED- und DKP-Marxisten wettern gegen Adornos ‚Halb-Marxismus‘, die Konservativen gegen seinen ‚Neomarxismus‘, die Liberalen gegen seinen ‚Irrationalismus‘. Am meisten Gehör findet die Kritik der ‚Neuen Linken‘ an ihrem Vordenker; sie bedient einen verbreiteten Affekt, den der Schadenfreude.

 Die letzte Vorlesung

Dass Adorno die Polizei ins Institut geholt hatte, wird im Sommersemester 1969 Anlass zu einem Protest-Happening, das wiederum zum Abbruch von Adornos Vorlesung führt. Schmid Noerr, damals Student und Zeuge dieser Szene, berichtet: „Die Szene hat Berühmtheit erlangt. Zuvor, am Ende des vergangenen Wintersemesters [1968/69], hatte Adorno das von Studenten im Gefolge der Aktionen gegen die Notstandsgesetze besetzte Institut für Sozialforschung mit Hilfe von Polizei räumen lassen. Als er einige Wochen später, im April [1969], mit seiner Vorlesung ‚Einführung in das dialektische Denken‘ beginnen wollte, sprangen zum Protest gegen jenen Vorfall drei Studentinnen der Basisgruppe Soziologie mit entblößten Brüsten aufs Podium, küssten den sich verzweifelt Sträubenden auf beide Backen und bestreuten ihn mit Rosen- und Tulpenblüten. Dieser hob die rasch ergriffene Aktentasche schützend vor sich und entzog sich mit Mühe der höhnisch-liebevollen Umklammerung. Als [...] der Tumult auf dem Podium anhielt, verließ er fluchtartig den Hörsaal. [...] Dies war Adornos letzte Vorlesung.“ -

 Leitbild

 Adorno war skeptisch gegen Leitbilder, aber auch er hatte ein Leitbild: Im fränkischen Ernsttal „erschien eine Respektsperson, die Gattin des Eisenbahnpräsidenten Stapf, in knallrotem Sommerkleid. Die gezähmte Wildsau von Ernsttal vergaß ihre Zahmheit, nahm die laut schreiende Dame auf den Rücken und raste davon. Hätte ich ein Leitbild, so wäre es jenes Tier.“ Es ist nicht eine beliebige, sondern eine gezähmte, gewissermaßen zivilisierte Wildsau, die Adorno hier als Leitbild-Tier vorschwebt; eine, die ihre Zivilisiertheit vergisst, aus deren Zwang ausbricht; ein Tier, das aus der erzwungenen Kultiviertheit, aus der ‚zweiten Natur’ zum Ungestüm der ‚ersten  Natur‘ zurückfindet und sogar Respektspersonen als leicht transportable Naturwesen behandelt.

Autor

Norbert Rath ist Professor für Sozialphilosophie an der Fachhochschule Münster.