Gernot Böhmes ,neue Ästhetik’

Mit seinem Buch ". Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre" legt Gernot Böhme den Entwurf einer Ästhetik vor, der mit Recht Anspruch darauf macht, neu zu sein. Was sich in der Praxis der Kunstausübung der letzten Jahrzehnte geändert hat und was in verschiedenen Anläufen auch in der ästhetischen Theorie zu klären gesucht worden ist, wird nun in einen übergreifenden Erklärungszusammenhang gestellt.

Seit Rosenkranz’ Ästhetik des Häßlichen (1853) ist  auch theoretisch klar, dass Kunst nicht mehr nur als ‚schöne Kunst’ wirklich ist; und spätestens seitdem Joseph Beuys nach dem Zweiten Weltkrieg das Diktum Schleiermachers wiederholt hat: ‚Jeder Mensch ist ein Künstler’, gilt Kunst nicht mehr als ein strikt abgesonderter Bereich des geistigen und gesellschaftlichen Lebens. Vor allem Martin Seel mit seinen Arbeiten zur Ästhetik der Natur (1991), seinen Ethisch-ästhetischen Studien (1996) und seiner Ästhetik des Erscheinens (2000) wird von Böhme mehrfach als Vorläufer oder Wegbereiter seiner ‚neuen Ästhetik’ genannt. Ferner werden die bahnbrechende Arbeit Walter Benjamins über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) und der Ansatz Arthur C. Dantos, der Möglichkeiten der Kunst nach dem Ende der Kunst (1995) auszuloten sucht, in den neuen Entwurf einbezogen.

In die Vorgeschichte der Konzeption einer ‚Ästhetik als allgemeiner Wahrnehmungslehre’ gehört auch der von Gerhard Gamm und Gerd Kimmerle herausgegebenen Sammelband zum Thema: Ethik und Ästhetik. Nachmetaphysische Perspektiven (1990).  Darin ist ebenfalls ein Beitrag von Gernot Böhme enthalten, der sich indessen primär auf die ethischen Aspekte einer Wiederkehr der altgriechischen Einheit des Schönen und Guten (kalonkagathon) richtet, in dem aber auch von einer ‚Verschiebung des Ethischen ins Ästhetische’ die Rede ist. In dem Zeitungsartikel Fangball spielen mit dem ganzen Dasein (Frankfurter Rundschau vom 30. Juli 2002) macht Böhme klar, dass für ihn Ethik und Ästhetik nicht zusammenfallen, dass vielmehr die gegenwärtige Gleichsetzung beider dem „Stand der kapitalistischen Entwicklung“ entspricht. Im Hinblick auf die aktuelle Ästhetik-Debatte ist Gernot Böhmes Buch ein Durchbruch der nicht nur viele andere Versuche zusammenfasst, sondern sie in eine überzeugende theoretische Perspektive integriert.

 Methodisch gesehen, bekennt sich Böhme zu einem bestimmten Typus der Phänomenologie, in dem er sich mit Hermann Schmitz einig weiß. Der Begriff der Erfahrung steht im Vordergrund. Deshalb sehe ich mich auch auf die Phänomenologie Hegelscher Provenienz zurückverwiesen, womöglich mehr als auf den Husserlschen Ansatz. Es geht freilich nicht um eine ‚Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins’, wie in Hegels Phänomenologie des Geistes von 1807, sondern um eine Wissenschaft der Erfahrung leiblicher Koexistenz oder besser leiblicher Interaktion des Menschen mit den Dingen. Demgemäß werden von Böhme besonders die Bände II,1: Der Leib, III,2: Der Gefühlsraum und III,5: Die Wahrnehmung aus Schmitz’ monumentalem System der Philosophie (1964 ff.) herangezogen. Der Mensch befindet sich mit seiner leiblichen Existenz inmitten der Welt der Dinge. Damit wird offensichtlich angezeigt, dass sich dieser Typ von Phänomenologie in entscheidendem Maß der Analyse des Daseins als ‚In-der-Welt-sein’ verdankt, die Heidegger 1927 in Sein und Zeit vorgelegt hat. Durch diese Analyse wird nicht nur die Subjekt-Objekt-Spaltung überwunden, die seit Descartes das europäisch-westliche Denken beherrscht hat, sondern auch der Ansatz einer vom deutschen Idealismus konzipierten Bewusstseinsphilosophie, wie er noch für Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie (1913) maßgebend war. In seiner leiblichen Vorfindlichkeit in der Welt der Dinge verhält sich der Mensch als erkennender primär wahrnehmend. Was von diesem Ausgangspunkt aus als erstes in Angriff genommen werden muss, ist eine ‚Lehre von der sinnlichen Erkenntnis’ .

 Böhme gewinnt seinen originären Ansatz   einer ‚allgemeinen Wahrnehmungslehre’, die den Rahmen seiner ästhetischen Theorie bildet, durch die These: Das ursprüngliche Medium der Wahrnehmung sind ‚Atmosphären’, das heißt das ‚Betroffensein von Stimmungen’, wie sie in einer menschlichen Umgebung oder auch in der Natur anzutreffen sind. Was jemand (im zeitlichen und systematischen Sinn) als erstes spürt, wenn er zum Beispiel den Kreis heftig diskutierender Freunde betritt oder an einem Sommerabend auf seiner Terrasse Platz nimmt, sind Atmosphären. Böhme spricht auch öfter von Stimmungen oder ‚gestimmten Räumen’. In ihnen sind der Subjekt-Pol und der Objekt-Pol nicht scharf unterschieden, sondern befinden sich, Kantisch gesprochen, in einem ursprünglichen commercium. Für diesen Ansatz gibt es einige Vorstudien in einem von Karlheinz Barck u. a. herausgegebenen Sammelband: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik (1990), in einer Reihe von früheren Arbeiten Böhmes, ich nenne besonders: Anmutungen. Über das Atmosphärische (1998), Für eine ökologische Naturästhetik (1999) und Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik (2000), sowie in dem Buch seines Mitarbeiters Michael Hauskeller: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung (1995). Von der Wahrnehmuung von Atmosphären, die als ‚Spüren von Atmosphären’ beschrieben wird, ist es ein ‚langer Weg von Differenzierung, Spezifizierung und Disziplinierung’ bis zur ‚alltäglichen Wahrnehmung von Dingen’ (S. 172). Der Theoriestatus dieses Weges wird als ‚reflexive Thematisierung sinnlicher Wahrnehmung’ gekennzeichnet. Die ‚Kunsterfahrung’ im Rahmen dieser Wahrnehmungserlebnisse, das heißt die ‚Rezeption’ von ästhetischen Gegenständen im engeren Sinn, und zwar sowohl in der Natur als auch in den tradi­tionellen Künsten und im Design, wird dadurch charakterisiert, dass sie ‚in handlungsentlasteter Situation’ stattfindet (S. 188).

 Kunsterfahrung im engeren Sinn könnte man von hier aus als intensives Wahrnehmen in handlungsentlasteter Situation umschreiben. Wenn Aristoteles die intellektuelle Bemühung des philosophischen Nachdenkens ohne direkten Praxisbezug als bios theoretikos bezeichnet, kann man die Kunsterfahrung im engeren Sinn nach Böhme einen bios aisthetikos nennen.

 Bei alledem versteht Böhme seine Aisthetik als eine ‚Wiederaufnahme des Projektes der Ästhetik’ als einer allgemeinen Wahrnehmungslehre, wie es von Gottlieb Alexander Baumgarten im 18. Jahrhundert konzipiert worden ist. Bei Kant ist diese Konzeption noch wirksam, sofern er in der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) die Wahrnehmungslehre als ‚Transzendentale Ästhetik’ darstellt. Andererseits bezieht Kant aber in der Kritik der Urteilskraft (1790) die ‚ästhetische Urteilskraft’ nicht auf das Wahrnehmen überhaupt, sondern ausschließlich auf das Beurteilen des Schönen und des Erhabenen. Dabei besteht, wie in allen Teilen des Kantischen Denkens, ein Bezug auch des Schönen und des Erhabenen auf das Sittliche. Immerhin hat Kant auf diese Weise den Weg frei gemacht für Hegels Vorlesungen über Ästhetik (1817-1829), die in einem strikten und konsequenten Sinn Ästhetik als ‚Philosophie der Kunst’ behandeln. In systematischer Hinsicht zeigt Hegels Philosophie der Kunst, dass auch im ‚absoluten Geist’, in dem sich Bewusstsein und Geist endgültig von der Natur lösen und zu sich selbst gelangen, zunächst, das heißt auf der untersten Stufe des absoluten Geistes, das Natürliche und Sinnliche noch eine konstitutive Rolle spielen. So gesehen wird man die Wurzeln von Böhmes ‚neuer Ästhetik’ zwischen Baumgarten und Kant aufsuchen müssen. Außerdem verbindet Böhme mit dem Baumgartenschen Ansatz einerseits die Tradition der ‚aristotelischen Poetik und Rhetorik’, in der diese Disziplinen auch im technischen Sinn als ‚Herstellungswissen’ aufgefasst werden, und andererseits ‚die Theorie des Geschmacks, wie sie von englischen Gefühlstheoretikern des frühen 18. Jahrhunderts’, insbesondere in den ästhetischen Schriften des Grafen von Shaftesbury, entwickelt wurde.

Neben dem ‚Spüren von Atmosphären’, das ‚immer die erste Wahrnehmung’ ist, behandelt Böhme auch ‚Phänomene des Atmosphärischen’. Diese sind von den Atmosphären, in denen sich der Ich-Pol der Wahrnehmung kaum vom Ding-Pol abheben lässt, dadurch unterschieden, dass sie gegenüber dem wahrnehmenden Ich ‚bereits eine Tendenz zeigen, Dingcharakter anzunehmen’. Böhme erwähnt als Beispiele: ‚der Herbst, die Dämmerung, die Nacht, der Wind, das Wetter, die Beleuchtung, eine Stimme, die Kälte’, und er nennt sie mit Schmitz Halbdinge (S. 58-59). Mit der Thematisierung des Atmosphärischen ist aber auch eine ‚wichtige Klasse künstlerischer Sujets benannt’, welche die traditionelle Ästhetik als Philosophie der Kunst und die neue Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre mit einander verbindet. Freilich lässt sich dabei auch der Unterschied zwischen beiden deutlich aufzeigen. In vielen Kunstwerken ist das Atmosphärische Sujet oder Teil des Sujets. So schildert das Gedicht Meeresstrand von Theodor Storm die ‚abendliche Dämmerung als etwas Atmosphärisches’, in dem ‚Halbdinge wie Wind, Licht, Ton’ oder auch Stimme und Schweigen eine konstitutive Rolle spielen. ‚Unter der Dominanz der Darstellungs- und Zeichentheorie’ kommt die traditionelle Ästhetik indessen nicht weiter, als dass sie herauszufinden sucht, was ‚bestimmte Elemente’, z.B. Wind und Licht, Stimme und Schweigen, in der Darstellung eines Gedichts ‚bezeichnen oder bedeuten’. Böhme geht es indessen um die Frage, wie etwa in der oder durch die Darstellung des Atmosphärischen der Abenddämmerung in dem genannten Gedicht eine entsprechende Atmosphäre erzeugt werden kann bzw. die Atmosphäre der abendlichen Dämmerung spürbar gemacht wird.

Der von Heidegger an prominenter Stelle seiner Analyse des Daseins als In-der-Welt-sein gebrauchte Terminus der Befindlichkeit zeigt im Argumentationsgang der Böhme­schen ‚Aisthetik’ an, dass ‚im Zustand der Ko-präsenz’ von Ich und Ding gespürt wird, dass ich mich darin ‚in bestimmter Weise befinde’. Er sucht herauszuarbeiten‚ inwiefern Wahrnehmung von etwas immer zugleich die Wahrnehmung meines eigenen Daseins ist’. Dabei gilt es, die Bedeutung des Ich-Pols in der Wahrnehmungslehre als ‚Weisen leiblicher Anwesenheit zu verstehen’. Das ist von Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) und dann in späteren Werken bereits in vielfacher Hinsicht untersucht worden. Douwe Tiemersma hebt in seiner Rotterdamer Dissertation: Body Schema and Body Image (1989) als einen wichtigen Aspekt hervor, dass für Merleau-Ponty das menschliche ‚Sein zur Welt’ und das Bewegen im Raum maßgeblich durch ein ‚phänomenales Feld’ bestimmt sind, das den Körper umgibt und immer mit wahrgenommen wird. Böhme fühlt sich indessen dem häufig recht emphatischen Stil der Darstellung Merleau-Pontys nicht verwandt und setzt seine Analyse auf eigenen, eher ‚nüchternen’ Wegen fort, auch wenn er inhaltlich durchaus mit ihm übereinstimmt, dass das Sinnliche meine Sinnesorgane ‚ergreift’, dass ich meinen Leib ‚der Schwingung und Raumerfüllung aussetze’, wie sie etwa von intensiven Farben ausgehen.

 Der entsprechende Sachverhalt liest sich bei Böhme so: ‚Erst mit dem Pathischen an der Wahrnehmung, insofern dem Wahrnehmenden in der Wahrnehmung etwas geschieht, insofern er etwas erleidet, von ihr betroffen ist, wird die Wahrnehmung zur subjektiven.’  Wenn ich sage: ‚Mir ist kalt’, zeigt sich, dass ‚das Mir als Wurzel von Subjektivität fundamentaler ist als das Ich’. Nicht ganz ohne Emphase spricht Böhme auch davon, dass wir hier ‚der Geburt des Ich aus dem Mir beiwohnen’. Andere Beispiele sind: Schreck und Schmerz, in denen besonders die ‚affektive Betroffenheit’ in der Wahrnehmung spürbar wird. Wie das Handeln ist das Wahrnehmen ‚eine Weise da zu sein’, und zwar eine solche, in der man erfährt, dass ‚man der Welt ausgesetzt ist und mit dem Wahrgenommenen mitschwingt’. Das ‚Disponiertwerden’ des Wahrnehmenden durch das Wahrgenommene wird besonders deutlich ‚durch erotisierende Anblicke – oder seien es auch Düfte oder Berührungen’. Böhme wagt sich in diesem Zusammenhang bis zu der Konstatierung vor: ‚Und schließlich wird der körperliche Leib durch den Anblick des oder der Geliebten spürbar zur Liebe disponiert.’

Die Behandlung der ‚Synästhesien’ zeigt den spezifischen Ansatz der Böhmeschen Konzeption besonders deutlich. Die Frage ist nicht, wie das Subjekt Wahrnehmungen, die durch verschiedene Sinnesorgane vermittelt werden, mit einander verbindet oder vermischt. Bekannte Beispiele sind: das Sehen von Farben während des Hörens von Musik oder das Gefühl der Kälte, das durch eine bestimmte Raumgestaltung hervorgerufen wird. Böhme stellt gegen diese herkömmliche Auffassung seine These, dass die ‚Synästhesien als Charaktere von Atmosphären zu bestimmen’ sind und weitgehend vom Objekt-Pol in der Wahrnehmung ausgehen oder erzeugt werden (S. 87). Im eigenen Körper entsteht ein differenziertes Spüren von Wahrgenommenem. So kann das optische Phänomen der Helligkeit zugleich als Charakter einer Singstimme erfahren werden. Dass ‚die sinnliche Präsenz von Farben in unser Lebensgefühl eingreift’, veranlasst Goethe dazu, in seinen Ausarbeitungen Zur Farbenlehre (1811) von einer ‚sinnlich-sittlichen Wirkung der Farbe’ zu sprechen. Wenn er sagt: ‚Blaues Glas zeigt die Gegenstände im traurigen Licht’, ist für ihn das Blau das ‚Erzeugende’ dieser Stimmung.

 Dieser Begriff des Erzeugenden ist für Böhmes Entwurf sehr wichtig. Er sucht zu benennen, was in der Wahrnehmung bestimmte Charaktere einer Atmosphäre hervorbringt. Das Erzeugende kann hauptsächlich zum Ding-Pol der betreffenden Atmosphäre gehören, wie in dem soeben angeführten Beispiel. Es kann aber auch von Subjekten bewusst und ausdrücklich produziert werden. Dann handelt es sich im Sinne Böhmes um ‚ästhetische Arbeit‘, wie sie etwa von einem Bühnenbildner für bestimmte Szenen eines Theaterstücks oder von einem Designer für die Gestaltung eines Gebrauchsgegenstandes geleistet wird. So können auch im Alltagsleben, zum Beispiel bei der Vorbereitung eines Festes, bestimmte Atmosphären von menschlichen Subjekten durch Inszenierung und Arrangements bewusst erzeugt werden.

 Auf dem ‚langen Weg‘ von dem ‚Spüren von Atmosphären‘ zur ‚alltäglichen Wahrnehmung von Dingen‘ behandelt Böhme als nächsten Schritt das Thema ‚Physiognomie‘. Eine Atmosphäre hat neben dem Ding-Pol und dem Ich-Pol auch ‚gesellschaftliche Charaktere‘. Dabei werden ‚Macht, Reichtum, Eleganz usw.‘ durch bestimmte ‚Insignien bzw. Symbole‘ angezeigt. Haus, Auto, Boot sind hier zu nennen, aber auch ‚bestimmte Formen … und Materialien‘ sind für die ‚Atmosphäre bestimmter Gesellschaftsschichten‘ charakteristisch. Ein Bühnenbildner weiß damit sachkundig umzugehen. Im Rahmen der ‚kommunikativen Charaktere‘ von Atmosphären kommen dann Gesten, Mimik und Stimmfärbung zur Sprache und schließlich auch die ‚Physiognomie‘. Gesichtszüge, aber auch Form und Charakter des Gesichts und des Kopfes beeinflussen die kommunikativen Charaktere einer Atmosphäre. Die Physiognomie sagt etwas über ‚Typ, Charakter, Art und Weise und Affekt‘ einer Person in einer bestimmten Situation. Dazu gehört auch die Interaktion von Personen, die bestimmte Blicke austauschen. Bei der Kunsterfahrung findet eine Inversion statt: ‚der Anblick wird zum Blick‘. Hegel spricht in seinen Ästhetik-Vorlesungen davon, dass ‚sich jede Gestalt … zum Auge verwandelt‘. Davon geht nach Rilkes berühmtem Gedicht ‚Archaischer Torso Apollos‘ weniger eine ‚leíbliche Disposition‘ aus, als vielmehr eine moralisch-sittliche: ‚Du musst dein Leben ändern‘.

 ‚Ekstasen‘ haben für den Ansatz der ‚neuen Ästhetik‘ Böhmes jenseits der Subjekt-Ob­jekt-Spaltung eine besondere Bedeutung. Es geht nämlich nicht um Ekstasen im Sinne des Außersichseins von Personen, sondern um Ekstasen von Dingen. Böhme nennt dasjenige, ‚wodurch Dinge in ihrer Anwesenheit spürbar werden, ihre Ekstasen‘. Wie man in dieser Wahrnehmungslehre nicht von Eigenschaften einer Atmosphäre spricht, sondern von ihren Charakteren, so werden hier auch nicht bestimmte Eigenschaften der Dinge unterschieden, sondern eben ihre Ek-stasen als die ‚Artikulationen‘ ihrer ‚Anwesenheit‘ in einer Atmosphäre. Geruch und Geräusch zeigen in einer einfachen und direkten Weise die Anwesenheit von Dingen an.

 Bei den ‚Zeichen und Symbolen‘ setzt sich Böhme von der traditionellen Semiotik und Hermeneutik ab. Das Spüren von Atmosphären bleibt ‚unterhalb‘ der Dimension des ‚Deutens von Zeichen‘ und des ‚Verstehens von Sinn‘, zu denen immer auch ‚intellektuelle Prozesse‘ gehören, die ‚als solche die Sinnlichkeit überschreiten‘. Das ‚Symbol‘ ist ein Zeichen in seiner vollen Seinsvalenz; in ihm ist das Bezeichnete unmittelbar gegenwärtig. Das gilt auch für Bilder, sofern sie nicht Abbilder, sondern ‚Bildnisse‘ sind.  Böhme zeigt am Beispiel von Caspar David Friedrichs ‚Dorflandschaft bei Morgenbeleuchtung‘, dass die Erfahrung solcher Bilder ‚in leiblicher Präsenz‘ etwas anderes ist als das Bemühen, sie ‚zu verstehen, d.h. herauszufinden, was sie bedeuten‘. Dabei spielt der Begriff der Bewegungsanmutung eine Rolle, der öfter benutzt wird und der zeigt, dass Atmosphären keine statischen Gegebenheiten sind. Die Eiche im Vordergrund des Bildes ist unten breit ausladend und nach oben hin zunehmend kahl. Dadurch wird der Blick des Betrachters nach oben gelenkt.

Dass Böhme mit der Parallelisierung von Semiotik und Hermeneutik und der Abgrenzung  von beiden als primär verstandesmäßiger Unterscheidung von zwei Seiten einer Sache (Zeichen und Bezeichnetem oder Text und Bedeutung) dem Ansatz der Hermeneutik Gadamers nicht gerecht wird, zeigt sich auch, wenn er Gadamers Interpretation des Bildes für seine Unterscheidung von phänomenaler und realer Wirklichkeit heranzieht. Aber es passt in seinen Argumentationszusammenhang, dass Gadamer in Wahrheit und Methode dem Bild, das gewiss nicht nur Abbild ist, ein ‚gesteigertes Sein‘ zuerkennt. Das Bild kann ein Ding oder eine Person sogar ‚in der Intensität seiner Erscheinung, also an (phänomenaler) Wirklichkeit übertreffen‘ (S. 165, Zusatz in Klammern von mir, HK). Gadamers ‚Ontologie des Verstehens‘, das dessen Wirklichkeit als die eines Spiels auffasst, lässt nicht nur die Subjekt-Objekt-Spaltung hinter sich, sondern ebenso den strikten Gegensatz von Spiel und Ernst, sowie den von sinnlichen und intellektuellen Prozessen.

 Was dem Ich in den Atmosphären erscheint, ist das Ding ‚in der Erscheinung‘. Dieses erfassen wir nicht in seiner ‚realen‘, sondern in seiner ‚phänomenalen Wirklichkeit‘. Stichwortartig zusammengefasst, kann man sagen: Das Ding erscheint (1) als ein Erzeugendes in Atmosphären, dabei (2) an einem Ort, neben anderen Dingen oder Personen, (3) in seiner Körperlichkeit, die ‚wahrnehmende Subjekte in leiblicher Kommunikation‘ anspricht, (4) im Wandel seiner Erscheinungen in einer   Identität mit sich selbst und (5) als ein Dies-da, das in seiner Faktizität festgestellt wird. Erst der unter (5) genannten Erscheinungsdimension des Dings werden bestimmte Eigenschaften zugesprochen, wie wir es in der alltäglichen Wahrnehmung gewöhnlich tun.

 Die ‚ästhetische Praxis’ schließt neben der Produktion von Kunstwerken auch ‚Tätigkeiten der Werbung‘ ein.  Im ästhetischen Umgang mit der Natur gehören ‚Verhaltensweisen wie das Riechen an einer Blume‘, sowie ‚ästhetische Arbeit‘ (z.B. die des Bühnenbildners) und auch ‚ästhetischer Konsum‘ (z.B. ein Museumsbesuch) dazu. Die vielfältige ‚Reformulierungsarbeit‘ bei der Darlegung der neuen Ästhetik, die zu verschiedenen neuen Begriffen führt, zeigt bereits, dass ferner eine ‚Erweiterung der Sprachfähigkeit‘ mit der ästhetischen Praxis verbunden ist. Als ‚ökologische Naturästhetik‘ strebt sie ein Gleichgewicht von Respekt vor dem Eigenen und Von-sich-aus-seienden und dem nicht zu umgehenden Bezug der Natur auf den Menschen an. Es geht nicht nur um ästhetische Urteile – wie bei Kant –, sondern auch um ‚ästhetische Erfahrung‘, die ausgebildet werden kann. ‚Innerhalb der technischen Zivilisation mit ihrer Tendenz zur progressiven Cerebration (Gottfried Benn) und leibloser Existenz‘ sucht die Ausbildung der ästhetischen Erfahrung, die Sinnlichkeit ‚stark zu machen‘.

 Kritisch bleibt zu sagen, dass Kunst nicht nur ‚schöne Kunst‘ ist, da es auch eine ‚Ästhetik des Hässlichen‘ gibt, Architektur und Design ebenfalls als Kunst gewertet werden und die Naturästhetik neu an Relevanz gewinnt. Letztere steht vor der Herausforderung, zur ‚Wiedergewinnung bereits zerstörter Natur’ etwas beizutragen, wozu ‚Renaturierung, Rekultivierung, Humanisierung der Natur’ gehören. Seels Ästhetik der Natur bleibt demgegenüber ‚wesentlich an der unberührten Natur orientiert’. Benjamin hat zuerst in seinem oben erwähnten Aufsatz von 1936 die ‚Ästhetisierung der Politik’ thematisiert, und zwar im kritischen Sinn, da der Nationalsozialismus die Masse des Volkes durch seine Aufmärsche und Parolen in einer ‚Politik der Gefühle’ angesprochen, ihr aber nicht zu ihrem Recht verholfen hat. Die ‚Unterscheidung von Sein und Schein’ und die prinzipielle ‚Abwertung des Emotionalen’ bei Benjamin sind heute freilich differenzierter zu sehen. ‚Im Medienzeitalter’ kann Politik nicht umhin, sich selbst auch zu inszenieren, indem sie Atmosphären und ‚affektive Betroffenheit bei den Massen’ erzeugt. Bei der ‚Kritik der ästhetischen Ökonomie’ zeigt sich dann definitiv, dass diese neue ästhetische Theorie zum ‚Typ kritische Theorie’ gehört. Sie zielt indessen nicht mehr so sehr auf Freiheit im Sinn von ‚Unabhängigkeit vom Mangel’, als vielmehr heute im Sinn von ‚Unabhängigkeit vom Überfluss’, etwa von dem Streben, durch konsumtive Symbole Status zu demonstrieren.

 Aus Thierry de Duves Analysen der ‚readymades’ in der heutigen Kunst, wie sie seit Duchamp zur Diskussion gestellt worden sind, übernimmt Böhme ‚das Moment der Setzung, der Deklaration, d.h. des Performativen, nämlich, daß ein Kunstwerk weniger etwas Vorhandenes ist ... sondern sich vollzieht’. Freilich ist für Böhme ein Kunstwerk nicht schon ein Kunstwerk, sofern es als solches deklariert, sondern erst sofern es vom ‚System Kunst’ akzeptiert wird. In diesem eingeschränkten Sinn möchte er der ‚Verschiebung vom Werk zur Performation’ und auch dem ‚Kontextualismus’ von Arthur Danto zustimmen, nach dem ‚ein Etwas durch seine Einbettung in den gesellschaftlichen Kontext ... nämlich in den Betrieb von Ausstellung, Museum, Galerie, Kunstmarkt etc. zum Kunstwerk wird’. Gegenüber der Entwicklung, dass häufig Kunst produziert wird, indem man sich ‚kommentierend, über­malend, reproduzierend auf die klassischen Kunst bezieht’, bringt Böhme schließlich das durchaus ‚offene Kriterium’ seiner ‚Aisthetik’ ins Spiel, nach dem Kunst zu der in der Wahrnehmung sich konstituierenden ‚Erscheinungswirklichkeit’ gehört, die ‚Wirklichkeit im Gegensatz zur Realität bestimmt’.

 Bis auf den Hinweis (in dem oben erwähnten Zeitungsartikel), dass die ‚ästhetische Ökonomie’ zu kritisieren ist, weil sie auf einer ‚Ausbeutung der Dritten Welt’ beruhe, vermisse ich in der neuen Ästhetik Böhmes die interkulturelle Dimension. Die Kunst aller Teile der Welt, einschließlich der Kulturen, die primär mündliche Formen der Kommunikation und Überlieferung kennen oder bis vor kurzem durch viele Jahrhunderte praktiziert haben, wird heute als inhaltlich verschieden, aber dem Rang nach gleichwertig eingeschätzt. Dass gerade in den letzteren Atmosphärisches, Gefühlsmomente und Offenheit für die Ekstasen der Dinge eine so prominente Rolle spielen, hätte Böhmes Argumentation noch wesentlich unterstützen können.

  Literatur zum Thema:

 Böhme, G.: . Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. 199 S., kt., € 25.20, 2003, W. Fink, München.

 Böhme, G.: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. 1990. Im Buchhandel vergriffen.

Böhme, G.: Anmutungen. Über das Atmosphärische. 108 S., Ln., € 15.20, 1998, Edition Tertium.

 Böhme, G.: Für eine ökologische Naturästhetik. 220 S., kt., es 1556, 1989, Suhrkamp, Frankfurt.

 Böhme, G.: . Essays zur neuen Ästhetik. 203 S., kt., es 1927, € 10.—, 2003, Suhrkamp, Frankfurt.

 Gamm, Gerhard/Kimmerle, Gerd (Hrsg.)    Ethik und Ästhetik. Nachmetaphysische Perspektiven. 1990. Im Buchhandel vergriffen.

 Hauskeller, M.: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung. 1995. Im Buchhandel vergriffen.

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Autor

Heinz Kimmerle ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Rotterdam.