Aktuelle deutschsprachige Konzeptionen einer Philosophie der Lebenskunst

Die "Philosophie der Lebenskunst" ist zu einem Bestseller geworden. Hat man die Diskussion in der Popularpsychologie, um die Philosophischen Praxen, um zeitgemäße Philosophiekonzepte für den Ethikunterricht, um das Fach L-E-R und um die Theorie einer reflexiven Moderne in der Soziologie verfolgt, mag das nicht überraschen. Aber noch in den 70er und 80er Jahren hätte diese neue lebensgestalterische und säkularisierte, weil antiessentialistische aber doch existentielle Ausrichtung der Philosophie verwundert und kaum Beachtung gefunden.

So erging es noch Wilhelm Kamlah. In seiner Philosophischen Anthropologie von 1973 (1) forderte er, Ethik habe sich nicht nur mit der Frage zu befassen, was wir tun sollen, sondern auch mit der Frage, wie wir leben können. Ihm ging es um eine Rehabilitierung der Ethik als ars vitae. Die Frage nach dem Leben-Können ist für Kamlah identisch mit der Frage nach einem gelingenden, nach einem erfüllten, lebenswerten Leben. Das Leben-Können erschöpft sich nicht im bloßen Am-Leben-bleiben, in der einfachen Selbsterhaltung, sondern bedarf einer reflektierten Führung, soll es gelingen. Diese reflektierte Lebensführung aber ist für Kamlah Aufgabe der Philosophie und eine Philosophie, "die nicht als reflektierte Lebensführung wirksam würde", ist für ihn keine Philosophie, sondern "allenfalls fachphilosophische 'Arbeit' am Schreibtisch und im Hörsaal." (S. 149). Aber Kamlahs Erinnerung an die philosophisch grundlegende Frage nach dem Leben-Können nahm kaum jemand in philosophischen Fachkreisen wahr. Oft wurde auch deshalb der Philosophie vorgeworfen, sie schweige zu den Lebensproblemen und wenn sie anhebe zu denken, um in das Leben der Menschen einzugreifen, dann komme sie mit ihren wohl überlegten, aber eben auch zu lang überlegten Ratschlägen sowieso zu spät.

Aufgrund dieser Skepsis vor allem der akademisch etablierten Philosophie sah sich 1979 Hans Julius Schneider veranlaßt, das "Schweigen der Philosophie zu den Lebensproblemen" zu thematisieren (2). Er verband die Frage nach einem sinnvollen Leben mit der nach einer selbstbestimmten Lebensführung. Die Idee eines sinnvollen, selbst geführten Lebens steht für ihn im Zentrum der Ethik und im Anschluss an Wittgenstein fallen für ihn in dieser Idee der Lebensform die Frage nach dem Sinnvollen und dem Ethischen zusammen.

Bis Ende der 80er Jahre blieben diese Erinnerungen an die lebensgestalterische Dimension des Philosophierens im Grunde isoliert und ungehört, bis von der Diskussion um das Spätwerk Michel Foucaults vehemente Impulse für die Neuthematisierung einer Philosophie der Lebenskunst ausgingen. Paradigmatisch steht dafür Wilhelm Schmids Buch Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst (3). Bei dessen Foucault-Lektüre artikulierte sich ein Bedürfnis nach einer Philosophie, die die Bedingungen einer selbstbestimmten Lebensgestaltung reflektiert. An dieses Bedürfnis schloss auch Hans Krämer an. 1992 veröffentlichte er nach langen Jahren der Vorproblematisierung seine "Integrative Ethik" - als Zwischenbilanz (4). Genaugenommen handelt es sich hier nicht um eine systematisch ausgearbeitete, inhaltlich vollständig ausgeführte Ethik, sondern um die Programmschrift einer noch auszuarbeitenden Ethik. Die Rehabilitierung der Praktischen Philosophie wendet Krämer im Sinne einer Rehabilitierung der Ethik der (richtigen) Lebensführung. Seine Ethik will daher nicht nur praxisleitend sein, sondern sie will Einübung und letztlich auch Beratung der Lebenspraxis ermöglichen. Integrativ ist die Ethik für Krämer deshalb, weil Moralphilosophie (Sollens-ethik) und Strebensethik (Güter-, Glücks-, Klugheits-, Selbstethik) in ein neues Verhältnis zueinander gebracht werden sollen. Dadurch will er eine Mehrdimensionalität des Ethischen zurückgewinnen, die der Mehrdimensionalität des Praktischen entspricht. Die Moralphilosophie bezieht sich nach Krämer auf die Moral als den Gesamtbestand der moralischen Verhaltensregeln; die Strebensethik auf die nichtmoralische richtige Lebensführung, die erlernt sein will und die sich nicht von selbst ergibt. Geht die Moralphilosophie von einer das Individuum übergreifenden, seinsollenden Gattungsnorm aus, so geht die Strebensethik vom "Ethos" aus, von Grundhaltungen, Verhaltens- und Handlungsdispositionen, aus denen heraus einzelne Handlungen und Verhaltensweisen vollzogen werden. Zentralbegriff der Krämerschen Ethik ist der Begriff der Hemmung. Nicht die Entzweiung (Hegel) oder die Entfremdung (Marx) ist bei ihm die Quelle des Bedürfnisses nach Philosophie, sondern die unscheinbare Disfunktionalität, das Nichtkönnen, Nichtbeherrschen von etwas, die "kleine Krise" in der alltäglichen Existenz des einzelnen treibt das Bedürfnis nach Philosophie hervor, das nach Krämer mit einer "Ethik als soziokultureller (Ent-)Hemmungsinstanz" befriedigt werden könnte. Der Standort der Strebensethik ist nach Krämer gegenüber dem der Moralphilosophie "durch einen Perspektivenwechsel, ja geradezu durch eine Perspektivenumkehrung geprägt: von der Selbstlosigkeit zur Selbstsorge, von der Fremd- zur Selbstorientierung, vom Interesse der Sozietät zur Interessenlage des Individuums. Der Einzelne wird in der Strebensethik nicht als der zu disziplinierende Amoralist gesehen, sondern primär als bedürftiges, aber der Entfaltung und Lebensführung mächtiges Wesen." (S. 84).

Krämers "Integrative Ethik" verbleibt noch im Metatheoretischen und Methodologischen. Es geht vor allem um die methodischen, formalen Bedingungen der Möglichkeit einer integrativen Ethik des Lebenkönnens. Aufgrund dieses formal-methodologischen Charakters der Krämerschen Ethik fallen Anspruch, nämlich durch die philosophische Praxis in das Leben der Menschen einzugreifen, und Realität auseinander. Denn diese Ethik will die Bedingungen der Möglichkeit für ein philosophisches Beratungsgespräch klären, indem sie sich selbst erst einmal darüber berät, welches die theoretischen Bedingungen philosophischer Beratung sind, wenn man sich darüber verständigt hat, dass Philosophie auch eine beratende Funktion in der alltäglichen Lebenspraxis haben sollte.

Ebenfalls zahlreiche vorbereitende Studien zusammenfassend erschien 1993 Rainer Martens "Lebenskunst" (5). In der Diktion eher Heideggerscher Hermetik verpflichtet versteht er unter Lebenskunst die "Kunst der Lebensteilung". Ein gelungenes Leben ist für ihn ein geteiltes Leben, ein mit Anderen gelungenes, humanes, maßvolles Leben. Für Martens Entwurf der Lebenskunst ist es "unabdingbar, sich an dem Gedanken zu versuchen, das geteilte Leben überhaupt als Kairos (sc. zum Guten gemeinsamer Gründung, Bewährung und Stärkung von Lebensbefähigung) zu deuten." Jeder ergriffene Kairos des gelingenden Lebens hat für ihn wiederum "nur eines im Sinn: das gelingende Leben selbst." (S. 27) Der gelungene, Gemeinschaft stiftende Augenblick wird so durch die Wiederholung seines Gelingens nicht nur Ausgangspunkt der Lebensbefähigung, sondern der Lebenssteigerung, indem das Leben selbst als Kunstwerk gestaltet wird, in welchem wiederum das gelingende Leben gipfelt. Sofern aber das "Geheimnis" der Lebenskunst für Marten die Lebensteilung ist, gilt für ihn nicht nur gelungenes Leben=geteiltes Leben, sondern dies bedeutet einander zu lieben, einander zu brauchen, füreinander Zeit zu haben, sich aufeinander zu verlassen, aber auch einander zu lassen, sich einander zu vergewissern, einander Würde zu geben und sich folglich um die Armen zu sorgen. Marten tritt zwar höchst ehrenwert für ein "neue Caritas" und eine "neue Würde der Armen" ein, aber die Frage bleibt doch, wie dies realisiert werden soll, wenn sich seine Lebenskunst weder in der Sorge um den Anderen noch in der Sorge um sich, weder im Altruismus noch im Egoismus gründen soll. Wie soll der Eine "je schon über sich selbst hinaus beim Anderen" sein, wenn er überhaupt kein Interesse an ihm hat und ihm de facto gleichgültig ist, auch wenn er mit ihm das Leben teilt? Martin Seel hat die daraus folgende "Zweiweltenlehre", nämlich die von einer Interessen geleiteten Welt und die der interesselosen Lebensteilung in Bezug auf das Verhältnis von Zeitlichkeit und Leben zutreffend als "Zweizeitenlehre" kritisiert (6).

Auch in Gernot Böhmes Einführung in die Philosophie Weltweisheit - Lebensform - Wissenschaft (7) ist das Thema der Lebensführung zentral. Ziel philosophischer Lebensführung ist ihm das "Dasein". Diese Grundthese Böhmes zielt "auf eine Wiedergewinnung des Lebens als Praxis. Es wird dabei unterstellt, dass unser aller Leben von Poiesis, dem Machen und Herstellen, aufgesogen wird und uns darüber das Leben als Praxis, als Vollzug entgeht." (S. 200 f.) Bei Böhme offenbart eine Philosophie der Lebenskunst auch ihre zivilisationskritische Dimension, denn die Grundthese unterstellt, "dass in der durchschnittlichen Lebensführung in der technischen Zivilisation einem das ‘Dasein’ entgeht" (S. 198). Das mag sich für manchen elitär lesen, trifft aber die Masse der angepassten Lebenskünstler, die immer nur anders (wie die anderen) sein wollen.

Historisch sammelnd ist die Arbeit von Dorothee Kimmich Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge (8) angelegt. Von den antiken Anfängen bis in die Gegenwart hinein sucht (und findet) sie die Spuren des Epikureismus.

Auch historisch, aber durchaus mit theoretisch-systematischen Anspruch sind die Arbeiten von Ursula Wolf Die Suche nach dem guten Leben. Platons Frühdialoge (9) und Christoph Horn Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern (10). Ursula Wolf ist zwar der Auffassung, dass "Philosophie, will sie ein lohnendes Unterfangen sein, in der Tat durch die Frage nach dem guten Leben geleitet sein muss" (S. 15), aber sie ist auch methodisch-skeptisch, ob Philosophie konkrete inhaltliche Konzeptionen des guten Lebens überhaupt begründen kann. Für sie kann Philosophie "allenfalls die Struktur der Frage zu analysieren versuchen, und auch hier ist offen, ob das in der Weise gelingt, dass sich direkte Aussagen über diese Struktur begründen lassen" (S. 26).

Einen Schritt weiter bei seinem Versuch, Philosophiegeschichte in systematischer Absicht zu betreiben, geht Christoph Horn. Er zeigt recht überzeugend, dass die moralphilosophischen Texte der Antike für die gegenwärtige systematische Ethikdebatte deshalb so attraktiv sind, weil sie eine "Einheit aus Vernunftbezug und Phänomennähe" und eine "Synthese aus prudentiellen und moralischen Elementen" bieten (S. 258).Vermittels einer Neuinterpretation der antiken Moralphilosophie unter dem Gesichtspunkt der gelungenen und angemessenen Lebensführung scheint ihm die Idee einer expliziten lebensgestalterischen Bedeutung der Philosophie, die von der Moralphilosophie der Neuzeit verdrängt wurde, mit systematischem Gewinn rekonstruierbar, ohne dabei in einen hermeneutischen Konservatismus zu verfallen, der "Zurück zur Antike" ruft, weil da schon alles gesagt ist, was zum Thema der Lebenskunst zu sagen wäre.

Dieter Thomäs Anthologie Lebenskunst und Lebenslust (11) soll ein breites Publikum für die ganze Themenvielfalt der Vorstellungen vom guten Leben interessieren und ist entsprechend angelegt. Philosophisch bedeutsamer ist allerdings sein Werk Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem (12) Die Selbsterzählung ist für ihn der Versuch, auf die sokratische Frage, "wie zu leben sei", eine Antwort zu finden. Immer wieder kommt der Zusammenhang von Lebensführung und Selbsterzählung zur Sprache. Er geht daher nicht nur dem Zusammenhang der Forderungen "Erkenne dich selbst" und "Erzähle dich selbst" nach, sondern auch dem von Selbsterkenntnis und Selbsterzählung, von Selbstfindung und Selbsterfindung, von Selbstbestimmung und Selbstmythos, von Selbstaufklärung und Selbstverklärung, von Selbstenttäuschung und Selbsttäuschung im Kontext einer durch Selbstliebe bestimmten Lebensführung. Kritisch ist er gegen jede Art essentialistischer Auffassung von Selbstbestimmung, Selbsterfindung, Selbstfindung, durch die das Leben der Individuen auf ahistorische Identitäten fixiert werden und durch die sich Menschen über sich täuschen, in dem sie beispielsweise das erzählte Leben und das gelebte Leben miteinander verwechseln oder in eins setzen.

Dass man Selbstbestimmung nicht so auffassen muss wie Thomä, zeigt überzeugend Volker Gerhardt in seinem Buch Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität (13). Gerhardts "Philosophie der Individualität" ist für unseren Bericht ein Grenzfall. Denn er bewegt sich immer wieder auch in den Themenkreisen einer Philosophie der Lebenskunst, sieht sich wohl aber kaum in dieser Traditionslinie und ist stärker an einer begrifflich-rationalistischen, mehr an Platon und Kant, denn an einer existenzial-ontologischen Grundlegung einer Philosophie der Lebensführung orientiert.

Ebenfalls einen Grenzfall stellt die systematisch-typologisch angelegte Studie Ferdinand Fellmanns Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung (14) dar. Obwohl selbst nicht Lebenskunstphilosoph, werden auch von ihm immer wieder implizit und explizit Themen der Grundlegung einer Philosophie der Lebenskunst behandelt, und er verweist durch seine Darstellung darauf, dass die heutigen Philosophien der Lebenskunst hier ein Aufarbeitungsdefizit des Fortlebens ihrer Tradition im 19. und 20. Jahrhundert haben. Auch verweist er implizit darauf, dass Lebenskunstphilosophie immer auch Lebensphilosophie ist und dass jede Lebenskunstphilosophie nicht nur eine Praxis, sondern als solche auch eine Theorie der Selbsterfahrung ist. Durch seinen pragmatischen Ansatz vermag es Fellmann auch, die Lebensphilosophie vom Irrationalismusverdacht zu befreien - ein Vorurteil, das leider immer noch deren Rezeption bestimmt.

Wilhelm Schmids Philosophie der Lebenskunst (15) hat nicht nur eine beachtliche Rezeption innerhalb der Philosophie, sondern auch bei Künstlern, Psychologen und Medizinern erfahren. Schmid will nicht einfach eine Lebenskunstlehre geben, sondern selbst die Bedingungen der Möglichkeit einer reflektierten Lebenskunst thematisieren. Sein Buch bewegt sich daher im Spannungsfeld von formaler und materialer Lebenskunstlehre. Niemals geht es ihm darum, dogmatisch-normativ Inhalte vorzugeben, wohl aber ist ihm unter optativen Aspekt daran gelegen, Möglichkeiten zu erarbeiten, um die Individuen auf die Situation der Wahl vorzubereiten. Lebenskunst kann daher einerseits als von der konkreten systematischen Einbindung unabhängige Methodik der Lebensführung betrachtet werden, wie sie andererseits auch als formale Methodologie in einen sie übergreifenden systematischen Rahmen integriert sein kann und von dorther ihre Begründung und ihr Telos erhält. Bei Schmid selbst ist dieser übergreifende politisch-systematische Rahmen die Ökologie.

Ein Lebenskünstler ist für Schmid einer, der sein Leben philosophisch reflektiert und bejahenswert führt. Er widerspricht damit all jenen, für die es fraglich ist, ob Lebenskunst überhaupt philosophisch reflektierte Lebenskunst sein könne. Die Stärke der philosophischen Lebenskunst sieht er im reflektierten, durch Techniken der Lebenskunst vermittelten Verhalten zu sich und zum anderen und nicht, wie es das gängige Vorurteil nahelegt, im unreflektierten, und gerade deshalb erfolgreichen Verhalten des einzelnen, der im unmittelbaren Handlungsvollzug "schon irgendwie das Richtige" trifft. Während also Hans Krämer noch der Titel "Lebenskunst" für eine moderne und künftige Strebensethik ungeeignet erschien, weil er seiner Meinung nach "teleologische und ästhetische Konnotate mit sich führt, die wie die (aus der neuzeitlichen epikureischen Variante der ars vitae herrührende) Bedeutung einer sublimen, ja elitären Luxusexistenz die Funktionsmöglichkeiten einer Strebensethik einschneidend verengen und blockieren" (S. 184 f.), strebt Wilhelm Schmid eine "quasi-transzendentalphiloso-phische" Grundlegung der Philosophie der Lebenskunst an, durch die gerade das geleistet werden kann, was Krämers formale Strebensethik nicht leisten kann, nämlich zu konkreten Lebenssituationen Stellung zu nehmen und auch tatsächlich praktisch-ethischen Rat zu geben. Schmid löst damit nicht nur das ein, was Krämer bloß fordert, sondern befreit den Begriff der Lebenskunst auch aus der Krämerschen Engführung des Begriffs wie auch von den gängigen Vorurteilen, Lebenskunst sei entweder das Können, sich schon irgendwie durch das Leben zu schummeln, oder Lebenskunst sei zwar "eine wichtige und schöne Sache, aber die Theorie kann ihr nicht helfen," (S. 587) und sie lasse sich daher auch nicht auf den philosophischen Begriff zu bringen.

Schmids "Philosophie der Lebenskunst" ist als philosophische Reflexion der praktizierten Lebenskunst zu betrachten, die diese durchaus auf den Begriff bringen will - wenn auch nicht auf einen absoluten. Sie ist das Resultat jahrelanger Forschungen zu diesem Thema und die vorläufige Zusammenfassung der Debatte um das Problem einer philosophischen Lebenskunst. Schmid versteht daher seine Arbeit zwar systematisierend und folglich auch typologisierend, sammelnd und klassifizierend, und allein dadurch ist sein Buch lesenswert, weil es einen umfassenden Überblick über den erreichten Diskussionsstand bietet. Aber Schmid will auch "systematisch ein System" vermeiden, um je konkrete Ausgestaltungen und Thematisierungen zu ermöglichen. Das systematische Verbleiben im Fragmentarischen scheint ihm auch deshalb angemessen, weil er mit seiner "Grundlegung" eine Grundlage schaffen will für die weitere Erörterung dieses Themas. Er will also in seiner "Grundlegung" nicht durch Systembildung eine Diskussion abschließen, sondern er will ein Diskussionsfeld neu eröffnen. Auch insofern ist seine Philosophie der Lebenskunst ganz vom Pathos des Aufbruchs und vom Ethos des Unterwegsseins getragen. Ständig sucht er nach den Bedingungen der Möglichkeiten eines bejahenswerten Lebens, das für ihn nicht mit dem guten oder gar glücklichen Leben identisch ist. Seine Suche geht nicht ins Unendliche und Transzendente, sondern gewinnt vor allem dadurch an Aktualität, indem er den Ansatz des späten Foucault zu einer "Ökologischen Lebenskunst" erweitert und damit ein neues, ökologisch-soziales Ethos entwirft.

Während viele Lebenskunstphilosophien sich gänzlich unutopisch verstehen, ist für Schmid die Lebenskunst die letzte, freilich pragmatische Utopie, die uns nach dem Ende der "großen" Utopien noch geblieben ist. Diese pragmatische Utopie hat einen Doppelcharaker. Sie zielt einerseits auf ein mögliches globales, ökologisches Ethos, andererseits auf die Fähigkeit des Individuums als Citoyen sein Leben selbstbestimmt zu wählen. So kann Schmids "Philosophie der Lebenskunst" kritisch sein gegen ein letztlich unkritisch totalisierendes "Prinzip Hoffnung" und uns trotzdem den Traum einer Existenz geben, für die es lohnt zu leben. Insofern sein Prinzip Wahl immer durch die Sorge um sich und den anderen getragen und korrigiert wird, ist seine pragmatische Utopie aber auch zugleich kritisch gegenüber jedem bornierten und bourgeoisen Egoismus wie auch gegenüber einem das Individuum vereinnahmenden und seine Freiheit unterdrückenden Paternalismus.

Freilich hat in dieser pragmatischen Utopie Weltveränderung Selbstveränderung zu Voraussetzung. Das heißt nicht, dass das die Marktwirtschaft nun gänzlich von Selbstveränderung entlastet werden soll, sondern dass die Individuen die Macht ihrer Selbstgestaltung endlich begreifen lernen, um auf das Gesellschaftssystem, in dem sie leben, einwirken zu können. Schmid beweist, dass man in Anschluss an Foucault nicht zu einem zynischen Analytiker der Hoffnungslosigkeit werden muss, sondern dass in Foucaults Spätphilosophie selbst der Ansatz zu einer kynischen Vision eines alternativen Lebens gegeben ist. Dadurch wird nicht nur Foucault zu einem Öko-Foucault, sondern aus Foucaults Antihumanismus wird hier ein ökologisch-sozialer Neuhumanismus.

Schmid gibt eine Existenzphilosophie, ohne jedoch essentialistisch zu werden. Entgegen den bodenlosen und sich selbst Zweck seienden Lebenskünstlern ist Schmids Lebenskunst Mittel zu einem auch das Individuum übergreifenden Zweck, obwohl sie sich in der Wahl des Individuums gründet. Geht es um die Selbstmächtigkeit des Individuums, erscheint die Lebenskunst als bloßer Selbstzweck. Geht es aber um die Gesellschaft, in der das seiner Selbst mächtige Individuum leben will, dann ist sie Mittel und Grund zur Realisierung eines alle Individuen umfassenden Telos. Philosophie ist hier also nicht nur eine Therapie für den einzelnen, sondern eine Praxis für die Welt als ganze; sie ist nicht nur eine Schule des Lebens, sondern Stifterin einer anderen Lebensform. Nicht überirdische, wohl aber irdische Hoffnungen werden hier verkündet. Es handelt sich um einen Utopismus mit einem positiven Verhältnis zur Macht. Dieses positive Verhältnis zur Macht schließt aber durchaus Kritik der Macht ein.

Schmids Lebenskunst handelt nicht nur davon, wie man durch Philosophie leben lernen kann, sondern wie Philosophie als begreifendes Denken auch wieder eingreifendes Denken werden kann - indem sie auf individueller und gesellschaftlicher Ebene existentielle Verbindlichkeit zurückgewinnt und die Trennung von Denken und Existenz aufhebt.

Markus Barths Abhandlung Lebe den Tag. Von der Endlichkeit und der Kunst zu leben (16) ist ganz dem späten Foucault und dem Ansatz von Wilhelm Schmid verpflichtet. Bemerkenswert an seinem Buch ist allerdings die ausführliche Darstellung der Sterbekunst im Kontext der Lebenskunst. Für Barth kann die Lebenskunst nicht gelingen, wenn es keine Verständigung über den Tod und das Sterben gibt. Gerade gegen die Unsterblichkeitsansprüche der "Lifestyle-Künstler" geht er von der Lebenskunst als "Projekt für Sterbliche" aus. Noch stärker als Schmid betont er daher die grundlegende Dimension der Endlichkeit für eine Philosophie der Lebenskunst. Es geht nicht nur darum, durch Lebenskunst endlich zu leben zu beginnen, sondern sich durch Lebenskunst der Endlichkeit des Lebens zu erinnern und sich dieser zu stellen. Die Kritik unserer Todes- und Endlichkeitsvergessenheit ist für Barth daher heute Voraussetzung kritischen und existentiellen Philosophierens.

Es geht ihm um eine "neuen Mut zur Endlichkeit", um das Leben wieder wesentlich werden zu lassen, um die Banalisierungen des Lebens durch das Verdrängen von Endlichkeit und Sterblichkeit in einer Gesellschaft zu überwinden, die sehnsüchtig ewiger Glückseligkeit und möglichst langem Leben für alle nachjagt. Lebenskunst ist nicht "Lifestyle", sondern "Existenzkunst". Sie ist daher als "Existenzgründung" zu verstehen, als "Leben auf eigenes Risiko", um "nicht mehr Angestellter im eigenen Leben zu sein." (S. 77)

Barth geht davon aus, dass die Identität des Selbst nicht irgendwo fix und fertig als "wahres Wesen", als "eigentliches Ich" vorliegt, das es zu entdecken, wiederzufinden gilt, sondern das Selbst, das man sucht, muss durch das Können der eigenen Lebensführung immer wieder hergestellt werden. Wie Thomä lehnt er daher eine "Selbst-Findung" ab, im Gegensatz zu Thomä plädiert er aber für eine "Selbst-Erfindung", die sich im Stil der Existenz in ihrer ganzen Widersprüch-lichkeit offenbart. Barth räumt im Anschluss an Schmid auch mit dem Vorurteil auf, Lebenskunst sei ein borniert-egoistisches Projekt und hätte keinen gemeinschaftlichen As-pekt. Obwohl die Lebenskunst beim Einzelnen und seiner Wahl ansetzt, sind die Entscheidungen des Einzelnen doch immer auf eine Gemeinschaft bezogen, in der er zu leben wünscht, und seine Sorge um sich kann nur gelingen, wenn es ihm gelingt, sich auch um die anderen zu sorgen, mit denen er lebt. Barth bemerkt, dass zur Lebenskunst "die ständige Arbeit am Wissen von sich und anderen" gehört. Wie Schmid meint er damit nicht "etwa eine Wissenschaft des Lebens", "sondern ein Wissen vom Leben und fürs Leben." Letzteres bezeichnet Schmid aber als "Lebenwissen" und nicht als "Lebenswissen", wie es Barth tut, was für Schmid mit dem Wissen im Sinne der Wissenschaft des Le-

bens identisch ist. Lebenwisssen im Schmid-schen Sinne umfasst zwar auch wissenschaftliches Wissen, ist aber auch mehr als wissenschaftliches Wissen; es ist ein existentielles Wissen. Als Wissen vom Leben handelt es sich um ein "Wissen von den Zusammenhängen [...], die für das gelebte und zu lebende Leben von Bedeutung sind, von den Faktoren und Aspekten, durch die es beeinflusst wird, von den Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten, die zu beobachten und zu beachten sind." Als Wissen fürs Leben geht es um "ein Wissen-Wie", um "ein Wissen, wie das Leben gut geführt werden kann. Das Lebenwissen ist ein operables Wissen, das aus hermeneutisch vermitteltem wissenschaftlichem Wissen und Erfahrungswissen zusammengezogen wird, um es auf die verwaltende, orientierende, gestaltende und gelassene Lebensführung zu beziehen". (S. 298 f.)

Literatur

Die Ziffern beziehen sich auf die Nennung im Text.

  1. Kamlah, Wilhelm: Philosophische Anthropologie. Mannheim/Wien/Zürich 1984. (1. Auflage 1973). Im Buchhandel vergriffen.
  2. Schneider, Hans Julius: Über das Schweigen der Philosophie zu den Lebensproblemen. 36 S., kt., DM 10.80, 1979, Universitätsverlag, Konstanz.
  3. Schmid, Wilhelm: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault. 452 S., kt., DM 28.90, 2000, Suhrkamp, Frankfurt am Main.
  4. Krämer, Hans: Integrative Ethik. 427 S., stw 1204, kt., DM 37.80, 1992 Suhrkamp, Frankfurt am Main.
  5. Marten, Rainer: Lebenskunst. 308 S., kt., DM 58.--, 1993, W. Fink, München.
  6. Seel, Martin: Philosophie. Eine Kolumne. Theorien der Lebenskunst. Merkur 536 (1993)
  7. Böhme, Gernot: Weltweisheit - Lebensform - Wissenschaft. Eine Einführung in die Philosophie. 400 S, stw 1142, DM 27.80, 1994, Suhrkamp, Frankfurt am Main.
  8. Kimmich, Dorothee: Epikureische Auf- klärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge. VI, 355 S., DM Ln., 58.--, 1993, Wissenschaftliche Buch- gesellschaft, Darmstadt.
  9. Wolf, Ursula: Die Suche nach dem guten Leben. Platons Frühdialoge. Kt., DM 19.90, roro-enzyklopädie 570, 1996, Rowohlt, Reinbek.
  10. Horn, Christoph: Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern. 270 S., kt., DM 24.--, Beck’sche Reihe 1271, 1998, C.H. Beck, München.
  11. Thomä, Dieter (Hrsg.): Lebenskunst und Lebenslust. 361 S., kt., DM 15.--, Beck’sche Reihe 1160, 1996, C.H. Beck, München
  12. Thomä, Dieter: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Pro- blem. 352 S., kt., DM 68.--, 1998, C.H. Beck, München
  13. Gerhardt, Volker: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Kt., DM 20.--, 1999, Reclam UB 9761, Reclam, Stuttgart.
  14. Fellmann, Ferdinand: Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbster- fahrung. Kt., DM 18.90, 1993, roro-enzy- klopädie 533, Rowohlt, Reinbek.
  15. Schmid, Wilhelm: Philosophie der Le- benskunst. Eine Grundlegung. 566 S., stw 1385, kt., DM 29.90, 1998, Suhrkamp, Frankfurt. Eine kürzere Fassung erschien
  16. 2000 unter dem Titel "Schönes Leben?

    Einführung in die Lebenskunst" ebenfalls

    bei Suhrkamp (140 S., Ln., DM 28.—)

  17. Barth, Markus: Lebe den Tag. Von der Endlichkeit und der Kunst zu leben. 304 S., Ln., DM 39.80, Europa-Verlag.

Autor

Volker Caysa ist promovierter Philosoph, freier Publizist und stellvertretender Vorstand der Nietzsche-Gesellschaft.