Fichte studieren

Im Wintersemester 1975/76 ermutigte mich ein in der Philosophie fortgeschrittener Kommilitone zum Besuch eines Fichte-Seminars – ein sogenanntes Oberseminar. In einem mit abgewetzten Polstermöbeln bestückten, Pfeifentabak durchnebelten Büro sezierte eine Hand voll Studenten älteren Semesters gemeinsam mit ihrem Professor einen unglaublichen Text: ”Die Erklärung des Durch ist selbst ein Durch ... alles Von, als Genesis, setzt Licht ... das Soll ist ein in sich, von sich, aus sich, durch sich, als solches”. Vom ”Als”, dem ”Von im Durch” und vom ”lebendigen Durcheinander" war die Rede. Und über alledem schwebte die unüberbietbare Behauptung: ”dass hier in allem Ernste vorausgesetzt wird: es gebe Wahrheit, die allein wahr sei, und alles Andere ausser ihr unbedingt falsch.”

 Mein Blick machte die Runde: Konzentrierte Gesichter, nachdenklich zurückgelehnt oder im Kutschersitz vornübergebeugt, Regale voller Bücher und durch die Fenster eine Aussicht in die schwankenden Baumkronen des nahen Waldes. Was Goethe im Faust nur geschrieben hatte, war hier lebendige Erfahrung, ”Mir wird von alledem so dumm, als ging’ ein Mühlrad im Kopf herum”.

Wohin war ich geraten? Bleiben oder fliehen, das war hier die Frage. Zu meiner Beruhigung outeten sich nach dem Seminar bei starkem Kaffee in der Mensa zwei weitere Kommilitonen ebenfalls als philosophische Greenhörner. Wir schlossen uns zusammen, verabredeten einen Studienkreis für das Seminar und trafen uns von da an regelmäßig. Einige Stunden vor dem Fichte-Seminar diskutierten wir unsere Leseerfahrung und bereiteten so das Seminar vor. Erst zögerlich, dann immer mutiger, brachten wir die Früchte unserer gemeinsamen Arbeit im Oberseminar zur Sprache. Den Mut dazu schöpften wir aus Fichtes Wissenschaftslehre von 1804, der diese Veranstaltung gewidmet war und wo es heißt: ”Wer die Wahrheit besitzen solle, muss sie durchaus selber aus sich erzeugen (...) kein Fünklein derselben (lässt sich) historisch als Bestimmung eines fremden Gemüths (...) auffassen und mittheilen”. Mehr und mehr schwand das Befremden gegenüber dem Text und seiner sonderbaren Terminologie. Begriffe und gedankliche Zusammenhänge ”lichteten sich”, wurden verständlich. Mit der Bearbeitung der Hälfte des Textes endete das Seminar – Fortsetzungen folgten.

 Das erste unmittelbare Resultat der geistigen Kraftsportübung mit Fichte war, dass uns das Arbeiten an literarischer Kost anderer Seminare, auch jenseits der Philosophie, auffallend leicht fiel. Als uneinnehmbar geltende Festungen des Geistes wurden nun zu Herausforderungen. Hegels Phänomenologie des Geistes, Heideggers Sein und Zeit, später dann Adorno und Merleau-Ponty und anderen philosophischen Brocken wurde Satz für Satz Sinn und Bedeutung abgerungen. Die Studenten avancierten zu Tutoren und wissenschaftlichen Hilfskräften.

 Was das Studium von Fichtes Philosophie selbst betraf, war die erste Begegnung mit der Wissenschaftslehre – wie seine Philosophie heißt - eine Enttäuschung. Schon beim Versuch, die philosophiegeschichtlich einschlägige Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794 vorzunehmen, mussten wir überrascht feststellen, dass mit den mühsam erarbeiteten Erkenntnissen aus dem zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 nichts anzufangen war: eine gänzlich andere Terminologie, ein ungewohnt formalistischer Aufbau des Gedankens. Offenbar wurde hier ein anderer philosophischer Gegenstand behandelt. Fichtes Behauptung, er habe seit der ”ursprünglichen Einsicht” in das Wesen seiner Philosophie stets dasselbe vorgetragen und seine ”philosophische Ansicht” habe sich seit ihrem Anfang ”in keinem Stück geändert”, machte uns ratlos. Wenn auch das Ich = Ich war, Wissenschaftslehre und Wissenschaftslehre waren es offensichtlich nicht.

 Die Erfahrungen der Unübertragbarkeit gewonnener Erkenntnisse aus einer Version der Wissenschaftslehre auf eine andere stellte sich im Laufe der in den letzten 20 Jahren nach und nach veröffentlichten Vorlesungen Fichtes über seine ”prima philosophia” immer wieder ein. Es kostet einige Mühe und dauert eine ganze Weile, bis einander entsprechende gedankliche Strukturen der verschiedenen Entwürfe und Fassungen der Wissenschaftslehre erkennbar und auch Sinn und Absicht der Variabilität ihrer Darstellung verständlich werden. Die scheinbar rein methodisch-didaktische Raffinesse der Darstellungsvielfalt der Wissenschaftslehre gehört bei Fichte zur Sache der Philosophie selbst. Er mutet seinen Lesern und Zuhörern die terminologischen Wechselbäder deshalb zu, weil ihm die Gefahr bewusst ist, die von einer Philosophie ausgeht, die sich an Definitionen, festen Sprachregeln und einem ”auswendigen” Verständnis orientiert. Nie kann selbst der erfahrene Leser von Fichtes Werken sicher sein, ob etwa die Ausdrücke Ich, Verstand, Dasein, Ichheit, Bewusstsein, Wissen oder Erscheinung usw. tatsächlich etwas Verschiedenes, oder nicht vielmehr etwas Strukturähnliches oder gar Identisches zur Sprache bringen. Diese unter studienökonomischen Gesichtspunkten sicherlich nicht unerhebliche Schwierigkeit, auf die man in Fichtes Texten zur Wissenschaftslehre gefasst sein muss, macht unter sachlichem Gesichtspunkt einen besonderen Reiz seiner Philosophie aus. Denn in der Annahme dieser Herausforderung wächst die Lebendigkeit des eigenen Denkens, stärkt sich die Fähigkeit, kontextgebundene Darstellungen von allgemeinen Strukturen unterscheiden zu können und sie – auch über Fichte hinaus – philosophiegeschichtlich einzuordnen. So kommt in Fichtes Zumutung an seine Leser und Zuhörer, wie bei kaum einem anderen Denker, der Aufklärungsimperativ des ”sapere aude” (habe Mut, selber zu denken) zum Ausdruck. Die Selbstbesinnung ist nach Fichte folglich auch die ”erste, und einfachste, aber ausschließende Bedingung des Verständnisses (seiner Wissenschaftslehre)” (GA I/7, S. 251). Und es ist dieser Ausgangspunkt seines Denkens, der als je frei vollzogener Akt geistiger Selbstkonstitution sowohl die praktische als auch die theoretische Philosophie begründet. Es ist der Archimedische Punkt der Philosophie Fichtes. Damit ist Fichte, wie schon Kant vor ihm, ein im modernen Sinne konstruktivistischer Denker. Denn die empirische Realität der Außenwelt ist uns ebenso wie die moralische und ästhetische Dimension des geschichtlichen und kulturellen Lebens nicht einfach gegeben, sondern auf produktive Setzungen und Konstruktionsleistungen menschlicher Intelligenz zurückzuführen. Und auch die konstruierende Intelligenz selbst ist als sich hervorbringende und sich entwerfende geistige Kraft erfahrbar und in unterschiedliche Richtungen lenkbar. Die Welt ist somit nicht nur “Wille und Vorstellung” (Schopenhauer), sie ist vor allem der entschiedene, d.h. grundsätzlich freie Entwurf des Menschen.

 Fichtes System der Philosophie

 Wie viele Philosophen vor ihm und einige nach ihm ist Fichte ein systematischer Denker. Systematisch denken bedeutet dabei dreierlei. Zum Einen ist es die Einsicht, dass unser Wissen, unsere Erkenntnisse und Urteile auf oft ungeprüften oder unbewussten Voraussetzungen beruhen, aus denen sie gefolgert und abgeleitet werden können. Zum Zweiten besagt systematisch denken, dass zumindest die Grundstrukturen des Wissens nicht fragmentarisch, sondern notwendig zusammenhängen. Der erste Aspekt des Systematischen richtet sich auf die Prinzipien, der zweite auf die Konsistenz des Wissens. Beide Aspekte kommen drittens in dem Gedanken zusammen, dass die unseren Erkenntnissen und Urteilen zu Grunde liegenden Voraussetzungen und die sie miteinander vermittelnden Strukturen auf einen Ausgangspunkt, auf ein Prinzip, zurückgeführt und aus ihm hergeleitet werden können. ”Der Wissenschaftslehrer (geht) an den Versuch, aus irgend Einer ihm bekannten Grundbestimmung des Bewußtseyns – es gehört nicht hierher zu sagen, aus welcher – alle übrigen, als mit der ersten nothwendig verknüpft, und durch sie bestimmt, abzuleiten” (GA I/7, S. 251). Auf diese Weise wird der Konsistenz- und Prinzipienanspruch systematischen Denkens bei Fichte zur Einheit und Wahrheit des Systems gesteigert.

 So befremdlich, problematisch, ja gefährlich (K. R. Popper) unserem, dem Prinzip des Pluralismus und der Uneindeutigkeit zuneigenden Denken dieser systematische Anspruch erscheinen mag, es lohnt sich allemal, das darin enthaltene philosophische Problem von Vielheit und Einheit, von Grundsätzlichkeit und Beliebigkeit und die damit verbundenen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen, aber auch ethischen und weltanschaulichen Konsequenzen gründlich zu bedenken.

 Dem Anspruch des Systems ist für das Studium der Philosophie Fichtes im Besonderen ein wichtiger Hinweis zu entnehmen. Zur Vermeidung von Missverständnissen und Einseitigkeiten sollte sich die Auseinandersetzung mit den hierarchisch geordneten “Subsystemen” der Wissenschaftslehre (der Religions-, Sitten-, Rechts-, Staats- und Naturlehre) stets ihres systematischen Orts und Zusammenhangs mit den über- oder nachgeordneten Systemteilen im Klaren sein. Die Beachtung der systematischen ”Gesamtidee der Philosophie Fichtes” (R. Lauth) ist deshalb so wichtig, weil Fichte die Systemteile und Prinzipien seiner Wissenschaftslehre stets so überzeugend und apodiktisch ausführt, dass der Eindruck entsteht, die hier jeweils entfalteten Gedanken und Einsichten seien Fichtes ”letztes Wort” in dieser Sache. In einigen Schriften der mittleren Phase seines Denkens (1800-1810) hat Fichte die systematischen Zusammenhänge der Subsysteme seiner Wissenschaftslehre eingehend behandelt.

 Es ist eine der spannendsten und ergiebigsten Bereiche der gegenwärtigen Fichte-Forschung, den Bedeutungswandel philosophischer Grundbegriffe unter den jeweils von Fichte gewählten systematischen Perspektiven zu verfolgen und zu analysieren: So etwa die Bedeutungsverschiebung im Urteil über die Natur unter rechts-, moral- und religionsphilosophischer Perspektive. Auch im Hinblick auf andere Grundbegriffe der Philosophie, etwa der Anthropologie, ist stets der systematische Kontext zu beachten, in dem vom Menschen die Rede ist. So konstituiert die Rechtslehre ein gänzlich anderes Menschenbild als die Moral und diese wieder ein anderes als die Religion oder die empirische Wissenschaft. Die jeweiligen Perspektiven ermöglichen zwar in sich geschlossene Einsichten und konsistente Urteile; Wahrheit und Geltung erhalten sie jedoch nur durch eine begründete Zuordnung im Kontext des systematischen Ganzen. Verabsolutiert sind empirische, rechtliche, moralische, religiöse und wissenschaftliche Standpunkte einseitig, und das heißt unwahr. Erst die Klärung der Grenzen von Geltung und Anspruch im Rahmen einer systematischen Begründung verschafft ihnen einen sicheren Stand und ihrem Wissen Wahrheit. Fichtes Wissenschaftslehre erweist sich in diesem Punkt als Vorläufer eines (systematisch begründeten) Perspektivismus, der dann bei Nietzsche zu einem spezifischen Ansatz modernen philosophischen Denkens geworden ist.

 ”Fichte: ein streitbarer Philosoph”

 Der Lebensweg Fichtes ist überaus wechselhaft. 1762 in ärmlichen Verhältnissen im Dorf Rammenau in Sachsen geboren, als Gänsehirt aufgewachsen, von seinem Schlossherrn entdeckt und gefördert, nach dessen Tod auf der Suche nach Arbeit und Brot durch halb Europa gereist, wird Fichte 1794 über Nacht durch eine Kant zugeschriebene Schrift berühmt und zum Professor der Philosophie nach Jena berufen. Dort entwickelt sich Fichte binnen weniger Jahre zum einflussreichsten Denker seiner Epoche. Kaum ein Geist seiner Zeit, sei er Dichter oder Philosoph, der sich nicht von den Grundgedanken der Philosophie Fichtes hat inspirieren lassen oder der nicht selbst Vorlesungen bei Fichte besucht hätte. Jedoch, der revolutionäre Kopf Fichte war unbequem. Einschränkungen der akademischen oder politischen Freiheit wurden ebenso wie ungerechtfertigte Ansprüche auf Privilegien und Autorität Zielscheibe seiner Kritik. So musste Fichte etwa wegen der Heftigkeit seiner Auseinandersetzung mit den studentischen Orden, den Vorgängern der Burschenschaften, zeitweise die Stadt Jena verlassen und vor gewaltsamen Nachstellungen aufs Land fliehen. Wegen seiner unnachgiebigen Haltung gegenüber seinem Landesherrn im sog. Atheismusstreit kam es gar zu Fichtes Entlassung aus dem Amt. Das Anliegen der Philosophie Fichtes ist, bei aller spekulativen Raffinesse seines Systems, letztlich ein politisches, pädagogisches und moralisches. Philosophie muss nach Fichte im Leben angewandt werden. Philosophie muss auch populär und öffentlich in Erscheinung treten. Neben seinen Schriften zur wissenschaftlichen Philosophie stellen deshalb seine Arbeiten zur angewandten und populären Philosophie einen ebenbürtigen zweiten Teil seines Gesamtwerkes dar. Diese Arbeiten, meist in öffentlichen Vorlesungen gehalten, sind der Versuch Fichtes, auf die turbulenten politischen und kulturellen Verhältnisse seiner Zeit Einfluss zu nehmen. Schul- und Universitätsreformen waren ihm dabei genauso wichtig wie die Staats- und Wirtschaftspolitik. Es gibt kaum einen Bereich des öffentlichen Lebens, zu dem Fichte kein umfassendes Reformkonzept verfasst und veröffentlicht hätte. So ist der Philosoph der Wissenschaftslehre in einem großen Teil seines Werkes auch ein politischer Lehrer.

 Fichte studieren heißt also: neben dem theoretisch-systematischen Denker der Wissenschaftslehre den politisch engagierten und pädagogisch ambitionierten Philosophen wahrzunehmen, für den wissenschaftliche Theorie und politisch-gesellschaftliche Praxis integrale Bestandteile seiner Gesamtidee der Philosophie waren.

 Auf dem 1993 in Fichtes Geburtsort Rammenau durchgeführten Kongress ”Realität und System” konnten die Teilnehmer neben einigen Erstausgaben Fichtescher Werke Postkarten und Zinnfiguren von bekannten Fichte-Gemälden erwerben. Zwei dieser Zinnfiguren habe ich mir als Souvenir mitgenommen. Die eine zeigt Fichte als akademischen Lehrer hinter dem Rednerpult. Die andere zeigt den Philosophen als mit Pistolen und Säbel gerüsteten Freiheitskämpfer gegen die napoleonische Unterdrückung. Ob diese beiden Seiten des Philosophen und der Philosophie Fichtes einen ”Zwiespalt im Denken Fichtes” (Weischedel) offenlegt, sei dahingestellt. Fichte selbst hat beides, den Wissenschaftslehrer und den entschlossenen politischen und kulturell ambitionierten Menschen, in Person und Werk zusammen-gebracht und damit das riskante Selbstbewusstsein der ”Weltweisheit” praktiziert, das seit Platon mit zum Wesensbestand der Philosophie gehört.

 

Literatur

 

Jacobs, Wilhelm G.: Johann Gottlieb Fichte. Eur 6.50, Rowohlt, Hamburg

Helmut Seidel: Johann Gottlieb Fichte. Zur Einführung. Kt., Eur 10.50,  1997, Junius Verlag, Hamburg.

Peter Rohs: Johann Gottlieb Fichte. Beck’ sche Reihe Großer Denker, kt., Eur 11.50, 1991, C.H. Beck, München.

 Joachim Widmann: Johann Gottlieb Fichte.  Einführung in seine Philosophie. 288 S., kt., 1982, Sammlung Göschen 2219, de Gruyter Verlag, Berlin.

Kommentar: Während Seidel und Rohs sich in ihrer Einführung auf die Frühphilosophie Fichtes konzentrieren (bis 1800 und etwas darüber hinaus), entwickelt Widmann Fichtes Denkweg bis in die Spätphilosophie (1814) hinein. Der Nachteil des Buches besteht jedoch darin, dass es für eine Einführung sehr anspruchsvoll und die Darstellung dem spezifischen Interpretationsansatz des Autors gemäß wenig distanziert, sondern ganz Fichte immanent ist. Das Buch ist von seinem systematischen Anspruch her vielleicht fichte- scher als Fichte selbst. Dagegen entspricht Peter Rohs’ Einführung eher den Erwartungen, die an eine erste Kontaktaufnahme mit der Philosophie Fichtes gestellt werden. Die wichtigsten philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen der Entstehung der Wissenschaftslehre, die zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit und um die Philosophie Fichtes, wie etwa der Atheismusstreit, und die Einflüsse, die diese Debatten auf die Entwicklung von Fichtes Denken gehabt haben, werden hier für einen Anfänger gut les- und nachvollziehbar dargestellt. Leider hat dieses Buch die interessante Entwicklung von Fichtes Denken nach 1800 weitgehend ausgeblendet. Hier müssen sich Leser und Leserin anderweitig kundig machen. Und noch ein weiteres Manko trübt den Eindruck des an sich instruktiven und gut lesbaren Buchs. Das, was bei Widmann zu viel ist, nämlich der Versuch eines rein immanenten Nachvollzuges der gedanklichen Entwick- lung der Philosophie Fichtes, kommt bei Rohs etwas zu kurz. Seine Darstellung bleibt im Wesentlichen beschreibend und damit dem Gedanken äußerlich, und seine kritische Distanz, die gelegentlich auch abwertend ist, ist für unerfahrene Leserinnen und Leser nicht ohne weiteres nachvollziehbar.  Die dritte Einführung in die Philosophie Fichtes von Helmut Seidel versucht dies im Wesentlichen von der politischen, revolutio- nären, existenziellen und pädagogischen Seite aus. Was, wie wir gesehen haben, bei allem wissenschaftlich-philosophischen Ge- wicht der Wissenschaftslehre durchaus legi- tim ist. Das ist aber auch schon beinahe das einzig Empfehlenswerte an diesem Buch. Wichtige Werke der mittleren Periode, wie die Bestimmung des Menschen etwa, die bei Rohs noch eine Rolle spielen, werden nicht berücksichtigt. Lediglich die den spezifischen Zugang des Autors zur Fichtes Philo- sophie stützenden politischen und geschichtsphilosophischen Vorlesungen und Reden der Jahre 1805 bis 1808 haben noch Eingang in Seidels Einführung gefunden. Ein anderes Problem ist, dass es dem Autor in seinen Rekonstruktionen der Grundideen insbesondere der theoretischen Philosophie Fichtes kaum gelingt, diese wirklich (insbesondere für einen Anfänger) verständlich zu machen. 

 Max Wundt: Johann Gottlieb Fichte. Neudruck der Ausgabe 1927. 316 S., Ln., 1976, Frommanns Klassiker der Philosophie, Frommann-Holzboog, Stuttgart

 Fichte. Ausgewählt und vorgestellt von Günter Schulte. Philosophie jetzt! Kt., Eur 15.30, Deutscher Taschenbuchverlag, München

 Fichte, Johann Gottlieb: Werke.

1. Band: Wissenschaftslehre. Ln., Eur 76,00

2. Band: Schriften zur angewandten Philosophie. Ln., Eur 80,00., zusammen in Kassette Ln. Eur 138,00, Deutscher Klassiker-Verlag, Frankfurt.

 Beide Ausgaben enthalten neben einer fachkundigen Einführung und Chronik über die wichtigsten Lebensdaten und Werke Fichtes eine repräsentative Auswahl von Schriften, die dem Leser die Möglichkeit bietet, sich selbst mit Fichtes Denken und Schreiben, und zwar breitest gestreut, bekannt zu machen. Schultes Auswahl erstreckt sich dabei nicht nur über die ganze Schaffenszeit, sondern auch in die Tiefe der ganz unterschiedlichen schriftlichen Vermächtnisse Fichtes, als da wären Predigten und Gedichte etwa. Das Vorwort des Herausgebers, Peter Sloterdijk, ist ebenso instruktiv, wie die auch um Aktualisierung bemühte Einleitung von Günter Schulte. Ähnlich, wenn auch in den Kommentaren historisch und systematisch umfassender als das dtv-Taschenbuch von Schulte, ist die in ihrer Aufmachung exklusivere zweibändige Werkausgabe von Jacobs und Oesterreich. Auf diese Ausgabe ist besonders hinzuweisen, weil sie mit dem Angebot zur wissenschaftlichen Philosophie und deren Kommentierung und der angewandten Philosophie und deren Kommentierung einen Einblick in das Gesamtwerk Fichtes in repräsentativen Schriften bietet. Zum Schluss sei noch auf eine Einführung anderer Art hingewiesen. Im Reclam Verlag hat Gerhard Gamm eine übersichtliche, wenn auch etwas ”schellinglastige” Einführung in die Philosophie von Fichte, Schelling und Hegel herausgebracht:

 Gerhard Gamm: Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. Kt., Eur 6.10, 1997, Reclam, Stuttgart.

 Wichtig an diesem Buch ist der sinnvolle Ansatz, die drei Meisterdenker in ihrem Unterschied, ihrer Bezogenheit und ihrer Abhängigkeit voneinander wahrzunehmen, um das je Spezifische als das aus der Auseinandersetzung Enstandene zu erkennen.  Die bedeutendste ”Einführung” in die Philosophie Fichtes ist aber immer noch Fichte selbst. Die Erfahrungen, die er mit den Schwierigkeiten und Missverständnissen seines Denkens zeit seines Lebens gemacht hat, hat eine Fülle von Texten generiert, mit denen Fichte versucht, wie es im Untertitel eines der Werke lautet, ”die Leser zum Verstehen zu zwingen”. Auf drei dieser Versuche sei hier aufmerksam gemacht:

Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Vorerinnerung. Erste und Zweite Einleitung, Erstes Kapitel (1797/98), kt., Philosophische Bibliothek, Eur 14.80, Meiner, Hamburg.

In dieser Schrift setzt Fichte die Entwicklung seines philosophischen Grundgedankens am oder im Bewusstsein des Lesers unmittelbar an und versucht von dort aus, die Theorie des Selbstbewusstseins zu entwickeln. Ein Unternehmen, das die Unhintergehbarkeit des eigenen Denkens als Voraussetzung lebendigen Philosophierens dokumentiert.

Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum, über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. 1801

Das Werk stellt den zweiten umfangreicheren Versuch Fichtes dar, seine Philosophie einem ”größeren Publikum” verständlich zu machen. Interessant daran ist, dass Fichte hier in einem Dialog zwischen Leser und Autor die Grundgedanken seiner Philosophie entwickelt.

Die Bestimmung des Menschen. Kt., Philosophische Bibliothek, Eur 9.80, Meiner, Hamburg.

Die Bestimmung des Menschen. Kt., Reclam UB, Eur 9.80, Reclam, Stuttgart.

Die Bestimmung des Menschen ist ein dreiteiliges populärphilosophisches Resümee über die Grundfragen des menschlichen Da- seins. Diese Schrift stellt aus der Perspektive Fichtes dar, was die Philosophie überhaupt dem Menschen im Hinblick auf sein Wissen, sein Handeln und sein Hoffen zu sagen hat.

Neben diesen einführenden Werken Fichtes sind für sein wissenschaftlich-philosophisches System grundlegend:

Fichte, Johann G.: Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794) mit den Varianten und Beilagen der 2. Auflage (1798) - Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) kt., Eur 10.00, Frommann-Holzboog, Stuttgart.

Fichte, Johann G.: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der  sogenannten Philosophie. Reclam UB, kt., Eur 3.10, Reclam, Stuttgart. 

Fichte, Johann G.: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794). Kt., Eur 19.80, Philosophische Bibliothek, Meiner, Hamburg.

Fichte, Johann G.: Über der Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie (1794) mit den Varianten und Beilagen der 2. Auflage (1798) - Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre 1794/95 kt., Eur 10.00, Frommann-Holzboog, Stuttgart.

Fichte, Johann Gottlieb: Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April bis 8. Juni, Kt., Philosophische Bibliothek, Meiner, Hamburg.

Fichte, Johann Gottlieb: Wissenschaftslehre 1804. Wahrheits- und Vernunftslehre 1-15. Vortrag, Kt., Eur 12.00, Klostermann, Frankfurt.

Auf dieser Grundlage sind dann die Werke der sog. Wissenschaftslehre in specie, die Rechtslehre, die Sittenlehre, die Religions- und Staatslehre, usw. zu nennen.

Einen Überblick über Fichtes Werke bieten:

Großes Werklexikon der Philosophie, Bd. 1, hrsg von F. Volpi (1999, Kröner Verlag, Stuttgart)

Baumanns, Peter: J. G. Fichte. Kritische Gesamtdarstellung seiner Philosophie (1990, Alber Verlag, Freiburg/München)

Aufsätze und Bücher zu verschiedenen Themen der Philosophie Fichtes bis zum Jahre 1993 findet man in:

Doyé, Sabine: J. G. Fichte Bibliographie,  Fichte Studien Supplementa Bd. 3 (1993, Rodopi Verlag, Amsterdam Atlanta)

Zitiert werden Fichtes Werke, soweit dies möglich ist, nach der von R. Lauth u.a. her-ausgegebenen J. G. Fichte. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (GA), Frommann-Holzboog, Stuttgart. Ihr sind auch die Zitate unseres Textes entnommen. Von dieser historisch-kritischen Ausgabe ist beim Verlag eine Studienausgabe in Arbeit, von der einige Bände bereits erschienen sind. Neben der GA werden insbesondere die dort noch nicht erschienen Werke Fichtes nach der Ausgabe Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke und Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke (SW), hrsg. von I. H. Fichte (Berlin/Bonn 1845/1834) zitiert. (Photomechanischer Nachdruck Fichtes Werke in XI Bänden, de Gruyter, Berlin)

 Über den Stand der aktuellen Diskussion der Fichte-Forschung informieren die Fichte-Studien der Internationalen J.G. Fichte-Gesellschaft, hrsg. v. K. Hammacher u.a., die in Themen- und Tagungsbänden die internationale Fichte-Forschung dokumentieren.

 Eine hilfreiche Quelle zur Zeitgeschichte Fichtes ist die von E. Fuchs herausgegebene sechsbändige Ausgabe Fichte im Gespräch. Stuttgart-Bad Cannstatt 1978 ff.. Diese enthält im Band 5 eine ausführliche Chronik der Lebensdaten Fichtes, sofern diese schriftlich dokumentierbar sind.

 Über aktuelle Forschungsprojekte, Tagungsvorhaben, Mitgliedschaft usw. informiert die Website der Internationalen J. G. Fichte-Gesellschaft unter:

 

Autor

Hartmut Traub ist Mitglied des Vorstandes und des wissenschaftlichen Beirates der Internationalen J. G. Fichte Gesellschaft. Er hat über Fichtes Populärphilosophie promoviert und neben zahlreichen Veröffentlichungen zur Philosophie Fichtes zuletzt den Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte neu herausgegeben. Er ist Fachleiter für Sozialwissenschaften am Studienseminar in Essen, Lehrbeauftragter für Philosophie und Didaktik an der Mercator-Universität in Duisburg und der ALANUS Kunstakademie in Alfter und lehrt am Krupp-Gymnasium in Duisburg Sozialwissenschaften, Evangelische Religionslehre und Philosophie.