Von der Gefahr Wittgenstein zu vergessen

Edward Kanterian: Herr Hacker, Ihr philosophisches Wirken ist zum größten Teil der Interpretation Wittgensteins gewidmet. Welches war ihre erste Begegnung mit Wittgenstein in Oxford?

 Peter Hacker: Als ich in den frühen Sechzigern in Oxford studierte, hatte ich, wie jeder Philosophiestudent zu der Zeit, eine Ausgabe der Philosophischen Untersuchungen und las ab und zu darin. Aber ich konnte wenig damit anfangen. Mein Lehrer in Queen’s College, Jonathan Cohen, hatte kein Interesse an Wittgenstein und brachte mich auf ganz andere Wege, und obwohl mein Supervisor Herbert Hart, bei dem ich meinen Doktor in Rechtsphilosophie schrieb, mich zu lesen anwies, was Wittgenstein über ‚Familienähnlichkeit‘ und ‚Vagheit‘ zu sagen hatte, machte ich in meiner Studentenzeit wenig Bekanntschaft mit Wittgensteins Werk.

Als ich als junger Fellow nach St. John’s kam, erwartete das College von mir, Tuto­rials über Wittgenstein abzuhalten. Man meinte, dass jeder Philosophiestudent zumindest eine gewisse Ahnung vom Privatsprachenargument haben sollte.  Ich musste mich zum ersten Mal daran machen, die Philosophischen Untersuchungen wirklich gründlich zu lesen. Zum Glück war ich nicht auf mich selbst gestellt. Bevor ich nach St. John's kam, war ich Junior Research Fellow am Balliol College gewesen und hatte mich mit Anthony Kenny angefreundet. Als ich dann anfing, über Wittgenstein zu arbeiten, gab er mir Anleitung und beantwortete meine vielen Fragen.

Aber Sie entwickelten eine echte Leidenschaft für Wittgenstein. Wie kam es dazu?

Ich war sehr beeindruckt von der Kraft seiner Gedanken, fasziniert von seinem fragmentarischen Schreiben, das oft genug einen Gedankenzug nur andeutet und es dem Leser überläßt, ihn nachzuvollziehen, und seine wundervollen Metaphern und Gleichnisse zogen mich an.

Wichtiger aber war, dass Wittgenstein Fragen zum Wesen der Philosophie beantwortete, die mich seit Jahren quälten. Ich hatte begonnen, mich für die Philosophie zu interessieren, als ich ein Teenager war, und nach Oxford kam ich vor allem, um Philosophie zu studieren. Ich war von dem Fach fasziniert, hatte aber auch schwere Zweifel daran.

Mir war nicht wirklich klar, womit sich das Fach überhaupt befaßt und ich war zutiefst unsicher, ob es richtig ist, sein Leben mit derart merkwürdigen und scheinbar unlösbaren Fragen zu verbringen. Wittgenstein löste diese Zweifel auf.  Seine Auffassung der Philosophie als begrifflicher Untersuchung, die konstruktive und destruktive Aspekte enthält, schien mir nicht nur richtig, sondern auch sehr befreiend.

 Inwiefern befreiend?

 Als sie erklärt, warum die Philosophie vollkommen unterschiedlich ist von anderen Fächern, warum es keine angesammelte Masse soliden philosophischen Wissens gibt, warum es keinen Fortschritt gibt in der Philosophie – und warum sie trotzdem kein vergebliches Unterfangen ist.

Wenn man die Philosophie so begreift, wie viele Philosophen heute, nämlich als kognitive Disziplin, wenn man denkt, dass sie darauf abzielt, zur Gesamtheit menschlichen Wissen beizutragen, dann kann es nur deprimieren, wenn man sich ihre angeblichen Errungenschaften ansieht.

Wo sind die Bibliotheken, die das Wissen speichern, das man in 25 Jahrhunderten philosophischer Forschung zusammengetragen hat? Es gibt Tausende von Büchern, die verläßliches Wissen aus der Physik, Chemie, Biologie usw. enthalten – aber nichts dergleichen in der Philosophie. Das liegt daran, dass philosophische Fragen begriffliche, nicht faktische Fragen sind. Sie bedürfen der Klärung, nicht der empirischen Information. Unser Anliegen ist, Begriffsschemata zu klären, die Art und Weise, wie wir Dinge begreifen – und nicht, zu unserem Wissen über die Welt beizutragen. Das Ziel ist eine ganz bestimmte Art und Weise des Verständnisses.

Sie sprachen von konstruktiven und destruktiven Aspekten der Philosophie. Was ist darunter zu verstehen?

 Der konstruktive Aspekt besteht in der de­skriptiven Klärung unseres Begriffsschemas, und zwar im Bezug auf jeden Bereich der Philosophie. Das Ziel ist, die Beziehungen, Vereinbarkeiten, Unvereinbarkeiten und Voraussetzungen von Begriffen darzustellen. Wir wollen uns darüber klar werden, wie sich dieser Begriff zu jenem verhält, wie verschieden zwei Begriffe sein können, die ähnlich zu sein scheinen. Zum Beispiel wollen wir wissen, wie sich Wahrnehmung zu Empfindung verhält (impliziert Wahrnehmung immer, manchmal oder niemals Empfindung?), welche die Beziehung zwischen Wahrnehmung einerseits, Wissen und Glauben andererseits ist (Sind die Sinne kognitive Vermögen?) oder wie Wahrnehmung sich von Einbildung unterscheidet (kann man ein mentales Bild mit einer Wahrnehmung verwechseln?).

 Der destruktive Aspekt ist nicht weniger wichtig. Im philosophischen Denken sind wir oft von Illusionen eingenommen. Das gilt natürlich nicht nur für Philosophen, sondern auch für andere, die sich in diese Gebiete vorwagen – für jeden, der sich Gedanken über das Wesen der Dinge macht. Wir sind z.B. geneigt, uns den Geist als mentale Entität zu denken, die vom Körper trennbar ist und dessen Tod überleben kann – oder, in Gegenreaktion auf diesen Cartesianismus, denken wir vielleicht, dass der Geist einfach identisch ist mit dem Gehirn. Die destruktive Aufgabe der Philosophie ist, zu zeigen, dass beide Auffassungen inkohärent sind. Oder wir sind geneigt zu glauben, dass in der Mathematik die objektiven Eigenschaften abstrakter Entitäten, nämlich der Zahlen, untersucht wird. Auch hier besteht die Aufgabe der Philosophie darin, den mathematischen Platonismus als Illusion zu entlarven. Philosophie, rein als kritische Disziplin genommen, ist die Logik der begrifflichen Illusion.

 In einer Vorlesung von 1930 sagt Wittgenstein, dass seine Philosophie einen "Knick" in der Geschichte des Denkens bedeuten könnte. Andererseits gibt es Stimmen, die behaupten, dass Wittgenstein zwar als eine genialische, aber nicht ausschlaggebenden Figur in der Geschichte der Philosophie enden wird. Wer hat recht?

 Wittgenstein ist ein Platz im Philosophen-Pantheon gesichert.  Der Tractatus und die Philosophischen Untersuchungen sind und bleiben zwei der größten Werke der Philosophie des zwanzigsten Jahrhundert, und ich bezweifle, dass sich diese Beurteilung ändern wird. Die wirkliche Gefahr besteht darin, dass das Interesse an Wittgensteins Philosophie zu einer Form von Scholastizismus degeneriert, d.h. dass sie zum Gegenstand endloser widerstreitender Interpretationsversuche wird und keiner sie bei der Behandlung neuer philosophischer Probleme heranzieht. Das wäre sehr bedauerlich.

Metaphysik und Semantik des “Tractatus”  wurden intensiver rezipiert wurden als die Gedanken der “Philosophischen Untersuchungen”. Wie erklären Sie sich, dass der “Tractatus”, ein Werk, dem Wittgenstein selbst später viele Fehler zuschrieb, eine solche Faszination auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts ausüben konnte?

 Ich glaube nicht, dass der Tractatus einflußreicher ist, als die Untersuchungen; das heißt, ich glaube nicht, dass viele Philosophen versuchen, das Programm des Tractatus auszuführen, oder sich selbst als Nachfolger des frühen Wittgensteins begreifen. Was aber stimmt, ist, dass der Geist des Tractatus den Sieg über den Geist der Untersuchungen davongetragen hat. Das wird vor allem deutlich in der Sprachphilosophie, aber auch im Wiederaufleben der Metaphysik.

Mir scheint, dass sich das durch vier Faktoren erklären läßt, die im Zusammenhang mit einer Zunahme des Szientismus und der weitverbreiteten Annahme stehen, dass zwischen Wissenschaft und Philosophie eine Kontinuität herrscht.

Was meinen Sie mit "Zunahme des Szientismus"?

 Mit ‚Szientismus‘  meine ich die illegitime Ausweitung wissenschaftlicher Erklärungsarten auf Phänomene, für die sie unangemessen sind, oder die Überzeugung, dass jede ernsthafte Frage von der Wissenschaft oder zumindest mittels wissenschaftlicher Methoden zu beantworten ist – und wenn das nicht möglich ist, dann handelt es sich angeblich überhaupt um keine wirkliche Frage. Philosophen, die so denken, glauben natürlich, dass sich die Philosophie, wie die Wissenschaften, mit der Konstruktion von Theorien über das Wesen der Dinge befaßt - für mich eine desaströse Auffassung.

Kommen wir auf die erwähnten vier Faktoren zurück, die den Triumph des “Tra­c­tatus”- Geistes erklären.....

 Da ist zunächst das Aufkommen neuer Formen der Sprachphilosophie zu nennen – beispielsweise das Vorhaben, etwas zu konstruieren, was gerne ‚Bedeutungstheorie der natürlichen Sprache‘ genannt wird, in denen die Vision des Tractatus ganz deutlich wirksam war. Sowohl Davidson, als auch Dummett, die zwei Hauptverfechter dieses Unternehmens, waren fasziniert von dem Gedanken – der im Tractatus klar ausgesprochen ist – dass wir fähig sind, auf Grund eines endlichen Vokabulars und einer endlichen Anzahl von Formationsregeln eine unendliche Menge von Sätzen zu verstehen.

Der zweite Faktor, wirksam zur gleichen Zeit, war das Aufkommen einer neuen Linguistik unter Chomsky. Das schien den Hoffnungen der Sprachphilosophen nur entgegenzukommen.

Die Linguisten konnten ihre Auffassung rechtfertigen und die Inkohärenzen in ihrem Programm vertuschen, indem sie sich auf die Philosophen beriefen. Die Philosophen wiederum konnten sich auf die empirischen Linguisten berufen, um zu zeigen, wie wissenschaftlich ihre Unternehmungen waren: ein gegenseitiger Austausch schmutziger Wäsche - ganz ohne Waschvorgang.

 Der dritte Faktor ist die Computerrevolution. Sie brachte Philosophen, Wissenschaftler und Psychologen dazu, das Denken und die Gehirnvorgänge nach dem Vorbild des Computers aufzufassen. Und es ist kein Zufall, dass die Chomsky-Linguistik in hohem Maße auf den Computer übertragbar ist. Ich erinnere mich witzigerweise, dass zu der Zeit, als ich ein Junge war, der Geist als Telefonist und das Gehirn als Telefonzentrale aufgefaßt wurde; heutzutage ist der Geist die Computersoftware, das Gehirn die Hardware.

Als vierten Faktor sehe ich das Aufkommen der Kognitionspsychologie und als Folge davon das Enstehen der Kognitionswissenschaften – eines Phantasiefaches, das weder kognitiv, noch wissenschaftlich ist.

Diese vier Faktoren führten zu einer deutlichen Abwendung von der Denkweise, die den Philosophischen Untersuchungen charakteristisch ist, zugunsten eines theorie­orientierten Ansatzes, der viel mit dem Tractatus gemein hat. So wurde zum Beispiel die ‚Tiefengrammatik‘ des Tractatus wieder populär, obwohl der Autor der Philosophischen Untersuchungen  sie aufgab. Anstelle geduldiger Beschreibung grammatischer Tatsachen trat spekulative Theoriekonstruktion. ‚Ismen‘ blühten auf und die Philosophen verirrten sich in der Beschäftigung mit der einen oder anderen chimärischen Theorie.

 Heute hält man Wittgenstein in erster Linie für den Autor einiger äußerst interessanter Argumente, vor allem was Privatsprache, Familienähnlichkeit und Regelfolgen angeht. Man diskutiert über diese Argumente und wendet sie in verschiedenen Kontexten an, nicht anders als Kants transzendentale Deduktion oder Humes Darstellung der Kausalität. Aber wie erklären Sie sich, dass etwas vielleicht Wichtigeres, nämlich seine Auffassung der Philosophie und der philosophischen Methode nicht vom Mainstream akzeptiert wurde?

Der Preis für diese Mißachtung wird hoch sein. Denn die Irrtümer, die zu vermeiden er uns zu lehren versuchte, werden wieder begangen werden, sei es in der althergebrachten Form, oder in neuer Verkleidung.

 Das ist eine pessimistische Sicht....

 Ja, das ist es. Ich bin geneigt, die heutige Entwicklung als wesentlich regressiv zu betrachten. Philosophischer Irrtum ist analog zu einer Krankheit, nicht einer Krankheit des Körpers, sondern des Intellekts. Und es kommen immer dieselben altbekannten Krankheiten wieder auf, manchmal, indem sie eine gewisse Mutation durchlaufen haben. So versuchten Mitte des 20. Jahrhunderts Wittgenstein und andere, uns von der Krankheit der Sinnesdatentheorie der Wahrnehmung zu heilen – die selbst eine mutierte Form der Krankheit der sinnlichen ‚Vorstellungen ‘ und ‚Eindrücken ‘ des 17. und 18. Jahrhundert war. Eine Generation lang war diese Heilung erfolgreich. Aber jetzt erscheint der Virus wieder, in der Form von ‚internen Repräsentationen‘.

Wittgenstein hat uns gleichermassen gelehrt, dass die Metaphysik eine Illusion ist – dass sogenannte metaphysische Aussagen bestenfalls grammatikalische Sätze sind, d.h. Regeln der Verwendung von Worten in Verkleidung von Sätzen, die die Welt beschreiben. Aber heutzutage hat die Metaphysik eine Wiederbelebung erfahren, und Wittgensteins Lehren sind vergessen. Nicht, dass seine Metaphysik-Kritik beantwortet oder widerlegt worden ist – weit davon entfernt. Sie wird einfach nicht verstanden.

Und warum denken Sie, dass dies der Fall ist?

 Man tendiert unsinnigerweise dazu, linguistische Belange geringzuschätzen, und das, was ‚rein linguistisch‘ ist oder sich ‚nur mit der Sprache‘ beschäftigt, mit den ‚sub­stantiellen Belangen‘ zu kontrastieren. Drei Dinge sind hier zu beachten:

Erstens kritisiert niemand die Linguistik dafür, dass sie ‚nur von der Sprache‘ handelt – warum sollte es unter der Würde der Philosophie sein, sich mit Worten und ihrem Gebrauch zu befassen? Schließlich ist die besondere Art und Weise, in der sie sich mit Sprache beschäftigt, sehr unterschiedlich von der des Linguisten oder Grammatikers.

Zweitens, warum ‚bloße Worte‘, oder ‚nur die Sprache‘? Wir sind, was wir sind, weil wir über eine Sprache verfügen. Das letzte, was wir geringschätzen sollten, ist die Sprache und ihre Wichtigkeit für uns. Ohne Sprache wären wir wirklich nicht mehr als nackte Affen.

Drittens, der ‚linguistic turn‘ in der Philosophie hat nicht die Ansicht vertreten,  alle philosophischen Probleme seien Probleme mit der Sprache. Vielmehr ergeben sich philosophische Probleme aus sprachlicher Unklarheit der einen oder anderen Weise ergeben. Deshalb besteht eine vorrangige Methode der Lösung oder Auflösung philosophischer Probleme in der Untersuchung der Verwendung von Worten und der Klärung ihrer Bedeutung.

Aber nur wenige Philosophen wenden diese Methoden heute noch an.

 Ja, das stimmt – und das ist ein Aspekt dessen, was ich meine, wenn ich sage, dass die gegenwärtige Philosophie regressiv ist. Wittgenstein sagte, dass es im Zuge des Umschwungs in seiner Philosophie im Jahr 1929, mit dem Wechsel, wie er es ausdrückte, von der Methode der Wahrheit zur Methode der Bedeutung, zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie möglich sei, dass Philosophen so etwas wie ein Handwerk ausüben können. Ich glaube, das ist richtig. Aber dieses Handwerk ist nicht leicht zu erwerben. Und es ist heutzutage wieder im Verschwinden begriffen.

Welches sind die anderen Faktoren?

 Einer ist mit Sicherheit, dass die Szene von amerikanischen Philosophen beherrscht wird. Die amerikanische Kultur ist wie magnetisiert von der Wissenschaft. Es scheint mir, dass viel zu viele amerikanische Philosophen glauben, dass alle wirklichen Probleme mittels wissenschaftlicher oder quasi-wissenschaftlicher Methoden beantwortet werden können.

Diese Ansicht wurde sicherlich durch Quine gefördert. Und die meisten amerikanischen Philosophen scheinen zu glauben, dass Quine gezeigt hat, dass die Unterscheidung zwischen analytisch und synthetisch, zwischen apriori und aposteriori, zwischen begrifflich und empirisch – obsolet und ungültig ist. Meiner Ansicht nach hat er nichts dergleichen gezeigt. Insbesondere Wittgensteins Unterscheidung zwischen grammatisch und empirisch ist nicht im mindesten betroffen von Quines (sehr fragwürdiger) Kritik an Carnaps Auf­fas­­sung der analytisch/synthetisch–Unterscheidung.

 Ein Faktor, der hiermit zusammenhängt, ist die Schwierigkeit, die man hat, zu akzeptieren, dass die Philosophie keine kognitive Disziplin ist, dass sie nichts zur Gesamtheit des menschlichen Wissens beisteuert. Denen, die vom Szientismus infiziert sind, erscheint das als Verminderung der Erhabenheit der Philosophie. Viele Philosophen in Amerika und in Britannien neigen der älteren Auffassung zu, dass die Philosophie Teil des umfassenden Strebens nach Wissen ist, vielleicht der hehrste Teil. Was mich überrascht, ist, dass sie die Armut des in über zweitausend Jahren erreichten Wissens nicht beschämt.

 Ist der Abschied von Wittgenstein in England nicht auch selbsterzeugt, etwa durch Dummetts Parteinahme für eine fregeianische Version des "linguistic turn", der einer formalistische, quasi-mathematischen Analyse der Sprache den Vorschub leistete?

 Gewiss. Michael Dummett’s leidenschaftliche Verfechtung der Philosophie Freges, wie er sie verstand, leistete einen beachtlichen Beitrag zum Niedergang der Art von analytischer Philosophie, die in Oxford von 1945 bis 1975 praktiziert wurde. Mir scheint, dass Dummett seine neo-Fregesche Projekte geradezu in völliger Vergessenheit der vielfältigen Kritik Wittgensteins an Frege verfolgte.

Dummett hielt an der Idee fest, dass der Prädikatenkalkül mit Identität die fundamentale Tiefenstruktur jeder natürlichen Sprache darstellt. Wittgenstein hatte aber schon in der 30ern gezeigt, dass diese Auffassung falsch ist. Es stimmt also, dass es auch englisch Gründe für die Verabschiedung des "linguistic turn" gab. Doch ich bezweifle, dass Dummetts Ansichten in Oxford ohne Davidsons Einfluß genau soviel Eindruck gemacht hätten. Obwohl Dummett und Davidson sich in wichtigen Punkten uneinig sind, ist ihr übergreifendes Projekt das gleiche.

 In Ihrer eigenen Forschung scheinen Sie optimistischer zu sein was die Möglichkeiten der Philosophie angeht, den Szientismus zu bekämpfen. Zur Zeit arbeiten Sie beispielsweise an einem gewichtigen Buch über Neurowissenschaft, ein ungewöhnliches Projekt für einen Wittgensteinianer.

 Das Buch nennt sich ”Die Philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften”. Ich habe es zusammen mit dem ausgezeichneten australischen Neurobiologen Professor Max Bennett von der Sydney Universität geschrieben. Wir versuchen, Theorien und Hypothesen führender Neurowissenschaftler auf begriffliche Verwirrungen hin zu überprüfen und, wie wir hoffen, zu entwirren. Ich fand es ermutigend, dass  Professor Bennett, der bis zu unserer Zusammenarbeit selbst vielen dieser Theorien anhing, sich überzeugen ließ, dass beachtlich viel mehr Klarheit zu erreichen ist, wenn man entlang der Wittgensteinischen Grudgedanken denkt, die ich vertrete.

 Die Philosophie steht nicht in Konkurrenz mit der kognitiven Neurobiologie. Im Gegenteil, ich glaube, dass sie mit ihr in fruchtbarer Zusammenarbeit stehen kann. Die Aufgabe der Philosophie ist, hier wie anderswo, begriffliche Verwirrungen aufzulösen und die relevanten begrifflichen Strukturen zu klären. Wenn wir uns nicht sehr irren, sind viele der Theorien gegenwärtiger Neurowissenschaftler wie Crick, Edelmann, Damasio und Kandel durch mangelnde Beachtung begrifflicher Fragen beeinträchtigt. Hier ist ein Gebiet, auf dem die analytische Philosophie des Geistes der von Wittgenstein gepflegten Art einen beachtlichen Beitrag leisten kann.

Können Sie uns Beispiele einer solchen begrifflichen Verwirrung in der Neurowissenschaft nennen?

 Die meisten Neurowissenschaftler glauben, dass wenn ein Mensch Objekte in seiner Umgebung wahrnimmt, das Gehirn Bilder erzeugt, und dass es diese Bilder sind, die der Mensch eigentlich sieht. Diese Ansicht, die im Grunde eine Variante des Repräsentationalismus des 17. Jahrhunderts darstellt, beruht auf der breiten Akzeptanz der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Sinnesqualitäten. Diese Unterscheidung beruht aber auf der Metaphysik des 17. Jahrhunderts und es gibt gute Gründe die letztere abzulehnen, vor allem wenn sie unter dem Mantel angeblicher Entdeckungen aus dem 20. Jahrhundert präsentiert wird. Es gibt sehr starke Argumente gegen irgendeine Form des Repräsentationalismus und gegen die Theorie von sekundären Qualitäten, die durch Galilei, Descartes, Boyle und Locke aufkam. Die Philosophie kann dazu beitragen, die gegenwärtige Neurowissenschaft von den Restbeständen veralteter Metaphysik zu befreien.

 Ein anderes Beispiel betrifft die aktuelle neurowissenschaftliche Forschung über das Gedächtnis. Es wird weithin angenommen, dass jede Erinnerung in Form von erhöhter Festigkeit von Synapsen gespeichert wird. Aber ich habe meine Schwierigkeiten mit dieser Auffassung. Was genau meint man mit "jede Erinnerung", "eine Erinnerung"? Ist eine Erinnerung das, woran man sich erinnert oder eine symbolische bzw. sprachliche Repräsentation dessen, woran man sich erinnert? Problematisch ist zudem, dass man eine Erinnerung im Gehirn speichern können soll. Meines Erachtens beginnen viele Neurowissenschaftler mit ihrer Forschung der Erinnerung, bevor sie sich darüber im klaren geworden sind, was sie mit "Speicherung der Erinnerung" meinen. Während wir die sprachliche Repräsentation einer Tatsache in einem Archiv ablegen oder in einem Computer speichern können und die fotografische Repräsentation einer Tatsache in einem Album oder auf Film speichern können, ist es keineswegs klar, was mit der Speicherung einer Erinnerung gemeint ist. Denn man kann offensichtlich das, woran man sich erinnert, in diesem Sinne nicht in seinem eigenen Gehirn speichern. Wie soll man eine vergangene oder allgemeine Tatsache, die Tatsache selbst, im Gehirn ablegen? Das macht auch dann nicht Sinn, wenn man sagt, dass es eigentlich die Repräsentation ist, der Satz oder das Bild von der Tatsache, die man im Gehirn ablagert.

Seit einigen Jahren kursiert eine neue und umstrittene Wittgenstein-Interpretation. Ihre Anhänger, zumeist amerikanische Philosophen wie  Cora Diamond und James Conant, kritisieren die älteren Deutungen von Elisabeth Anscombe, Anthony Kenny oder von Ihnen als dogmatisch. Wittgenstein soll Zeit seines Lebens nicht daran interessiert gewesen sein, philosophische Argumente gegen andere Denker vorzubringen, eher daran, die Vergeblichkeit und Unsinnigkeit jedweder philosophischer Argumentation zu demonstrieren. Diese "neuen Wittgensteinianer" behaupten, dass diese Kontinuität zwischen der Früh- und der Spätphase wichtiger ist als irgendwelche Differenzen zwischen den beiden Perioden. Was halten Sie von dieser Interpretation?

 Ich denke, dass diese Argumente zutiefst fehlgeleitet sind. Es besteht auf Seiten der Vertreter des ‚Neuen Wittgensteins‘ ein außerordentlicher Mangel an Aufmerksamkeit den eigentlichen Texten gegenüber. Soweit ich sehen kann, schenken sie keinerlei Beachtung dem, was Wittgenstein selbst über sein frühes Werk sagte. Praktisch alles, was er jemals über den Tractatus sagte oder schrieb, widerspricht dem, was die neuen Wittgensteinianer behaupten. Das ist mein erster Punkt.

Der zweite Punkt ist dieser: viele Themen aus Wittgensteins Arbeit haben in den vergangenen fünfzig Jahren Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Familienähnlichkeit, Kriterien, Privatsprache, Regelfolgen haben nacheinander viele Philosophen für sich eingenommen. Alle diese großen Themen zwangen zu einer Entscheidung über die richtige Methode des Philosophierens, folgte man nun Wittgenstein oder nicht.

Im Gegensatz dazu erscheinen mir die einzelnen Angelegenheiten, die die neuen amerikanischen Wittgensteinianer derart beschäftigen, unwichtig. Angenommen, sie haben recht – na und? Was folgt daraus für die richtige Art und Weise, philosophische Probleme auf irgendeinem Gebiet anzugehen? Sicherlich überhaupt nichts. Und Philosophen, die Wittgensteins Philosophie gegenüber nicht wohlwollend eingestellt sind, werden sich diese lokalen Kontroversen ansehen und sagen, alles, wozu Wittgensteins Nachfolger fähig sind, ist sich zu streiten, ob der Meister in seinem ersten Buch völligen oder nur partiellen Unsinn gesprochen hat.

Die neuen Wittgensteinianer behaupten, dass Wittgenstein eigentlich an Ethik und philosophischer Therapie interessiert war, an dem nicht-argumentativen Kampf gegen den Willen, Philosophie zu betreiben. Sie werfen den traditionellen Interpretationen vor, dieses zutiefst moralische Engagement zu ignorieren. War das eigentliche Anliegen Wittgensteins tatsächlich eher die Sünde als die Logik?

 Nein, diese Idee ist zutiefst fehlgeleitet. Sehen wir uns zuerst den Tractatus an. Eine seiner Aufgaben war es, die Auffassung von Logik zu behandeln, die sich in den Arbeiten von Wittgensteins Vorgängern fand, vor allem von Frege und Russell. Frege meinte, dass die Logik eine Wissenschaft ist, die Grundwahrheiten über die Beziehungen zwischen Gedanken entdeckt, Wahrheiten, die für Gedanken auf jedem beliebigen Gebiet gelten. Ergebnis einer logischen Untersuchung wäre ein generelles Gesetz des Denkens. Russell stellte sich vor, dass sich die Logik mit der Beschreibung der allgemeinsten Eigenschaften des Universums befaßt – der allgemeinsten Tatsachen in der Welt, eine Art ‚Super-Physik‘ also. Wittgenstein war der Ansicht, dass beide völlig falsch lagen.

 Ein beachtlicher Teil des Tractatus befaßt sich mit der tiefgreifenden Kritik dieser Logikauffassungen. Er stellt das Wesen der Logik in ein komplett neues Licht. Dies war eine große Errungenschaft, keine bloße Therapie, sondern eine äußerst dringliche Klärung des Wesens der Logik und der logischen Wahrheit –  Probleme, die Philosophen seit Platons Tagen beschäftigt hatten. Das war keine Debatte über Sünde und Erlösung. In dieser Hinsicht ist der Tractatus ein argumentierendes Werk – die Fregesche und Russellsche Auffassung von Logik wurde mit kraftvollen Argumenten widerlegt. Zudem versuchte der Tractatus, eine äußerst originelle Erklärung des Zusammenhangs zwischen Denken, Sprache und Wirklichkeit zu leisten und, daran anknüpfend, eine bestimmte Lösung zu grundlegenden Fragen der Intentionalität zu geben. Diese Erklärung ist, obwohl falsch, wie Wittgenstein später erkannte, tiefgreifend. Dies als bloße Darbietung Kierkegaardscher Ironie aufzumachen, wie es die neuen Interpreten tun, erscheint mir als groteske Verzerrung großer Philosophie. Viele Jahre, nachdem er den Tractatus geschrieben hatte, sagte Wittgenstein über sein Buch nicht, dass es wie eine Uhr sei, die nicht ginge. Er sagte nicht "mein Buch war ein Witz, Kierkegaardsche Ironie oder Zen-Therapie".

Die neuen Interpreten propagieren eine bestimmte Auffassung von Unsinn: Unsinn ist schlichter Unsinn, und es gibt keine Arten davon, etwa erhellender Unsinn. Sätze wie "gut ist und" und "die Welt ist alles, was der Fall ist" sind gleichermaßen unsinnig. Demzufolge soll Wittgenstein im “Tractatus” nicht versucht haben zu zeigen, dass seine philosophischen Sätze einen speziellen, metaphysischen Status besitzen, der zwar nicht ausgesprochen, aber gezeigt werden kann. Was halten Sie von dieser Auffassung von Unsinn?

 Ich denke, sie ist vollkommen fehlgeleitet. Die neuen Wittgensteinianer, vor allem James Conant, wollen eine von ihnen als ‚streng‘ bezeichnete Auffassung von Unsinn einer als ‚substantiell‘ bezeichneten gegenüberstellen. Sie beschuldigen die bisherigen Interpreten von Wittgenstein, mich eingeschlossen, dem Tractatus eine substantielle Auffassung von Unsinn zuzuschreiben. Dieser Auffassung nach ist eine unsinnige Wortfolge Unsinn, weil die Einzelwörter bedeutungsvoll sind, aber ihre Bedeutungen nicht zusammenpassen, um einen bedeutungsvollen Satz darzustellen. Substantieller Unsinn, behauptet Conant, soll einen Sinn haben, der defizient ist, einen sinnlosen Sinn sozusagen.

Ich selbst habe nie eine derartige Auffassung vertreten. Tatsächlich mir fällt kein einziger unter den ‚alten Wittgensteinianern‘ ein, der sie vertreten hätte.

 Lassen Sie mich eines klarstellen. Wittgenstein war der Ansicht, dass Unsinn entsteht, wenn Wörter entgegen den Regeln der logischen Syntax kombiniert werden. Am Ende des Tractatus wies er darauf hin, dass alle Sätze des Buches tatsächlich unsinnig sind, insofern sie die Regeln der logischen Syntax übertreten. Warum tun sie das? Weil sie formale Begriffe wie ‚Tatsache‘, ‚Satz‘, ‚Zahl‘, ‚Gegenstand‘ verwenden, als wären sie materiale oder echte Begriffe. Formale Begriffe, meinte Wittgenstein, sind in Wirklichkeit Variablen und können nur innerhalb des Skopus eines Quantors erscheinen. Deshalb können sie nicht in elementaren Sätzen erscheinen und deshalb verschwinden sie bei der Analyse.

Diese Angelegenheit ist eine komplexe und mehr oder weniger technische. Aber es ist klar ersichtlich, sowohl aus dem Tractatus, als auch aus späteren Bemerkungen Wittgensteins, dass er meinte, dass die Regeln für den Gebrauch von Wörtern, die er zuerst ‚logische Syntax‘ und später ‚Regeln der Grammatik‘ nannte, die Kombinationsmöglichkeiten für Wörter in bedeutungsvollen Sätzen festlegen. Wenn man sich nicht an diese Regeln hält, läuft die Kombination von Wörtern, die den Regeln der logischen Syntax oder Grammatik widerspricht, darauf hinaus, dass überhaupt nichts ausgesagt ist.

Was also ist der Unterschied zwischen "Gut ist und" und "Die Welt ist alles, was der Fall ist"?

 Nun, dem Tractatus gemäß ist beides Unsinn. Aber der zweite Satz ist Unsinn, weil er vorsätzlich Ausdrücke verwendet, die legitimer- und korrekterweise als formale oder kategoriale Begriffe gebraucht werden. Zudem geschieht das in dem Bemühen, dem Leser etwas zu sagen, was von gewöhnlichen, sinnvollen Sätzen gezeigt wird.

Der erste Satz ist nicht mehr unsinnig als der zweite – es gibt keine unterschiedlichen Grade Unsinns. Sicherlich, anders als der zweite verstößt der erste gegen die gewöhnliche Syntax – was, wie Wittgenstein bemerkt, nicht genügt, um alle Versionen von Unsinn auszuschließen.

 Der Vorschlag der neuen amerikanischen Wittgensteinianer, der Tractatus versuche nicht, seine Leser zur Erkenntnis gewisser grundsätzlicher, struktureller Eigenschaften der Welt zu bringen, Eigenschaften, die sich in der Form der Sprache zeigen, scheint mir völlig falsch. Tatsächlich widerspricht das allem, was Wittgenstein über das Buch sagte.

Sind die Sätze des Tractatus also wirklich Unsinn? Alle?

 Nun ja, gemäß dem eigenen Maßstab des Buches sind sie Unsinn. Das heißt, sie sind nicht Abbilder möglicher Sachverhalte, die auch anders sein könnten. Sie haben keinen Sinn, der in der Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung der Sätze mit Möglichkeiten bestehender und nicht-beste­hender Sachverhalte besteht.

Man muss daran denken, dass die Auffassung von Sinn im Tractatus eine hochgradig technische ist. So sind z.B. mathematische Gleichungen wie ”25x25=625” ebenfalls Unsinn, denn sie beschreiben mit Sicherheit keine möglichen Sachverhalte, die auch anders hätten sein können. 

Wenn Sie aber meinen: sind sie wirklich Unsinn, und meinte Wittgenstein später, dass sie Unsinn sind – ist die Antwort sicherlich Nein. Die brillante Kritik an Frege und Russell ist alles bloß kein Unsinn. Dies ist kraftvolle Kritik an einer falschen Auffassung von Logik. Die tiefen Einsichten in das Wesen der Logik und der logischen Wahrheit sind alles, bloß kein Unsinn – sie sind, wie Wittgenstein später gesagt hätte, grammatische Sätze, die Begriffe klären. Es ist nichts unsinnig an der Aussage, dass die Sätze der Logik Tautologien sind, oder dass die logischen Konnektoren nicht Namen von Funktionen, sondern Operatoren sind.

Auf der anderen Seite sind viele metaphysische Sätze des Buches verworren. Es war z.B. sicherlich fehlerhaft, zu sagen ‚Die Welt ist alles, was der Fall ist.‘ Aber man könnte sagen ‚Eine Beschreibung der Welt besteht aus Aussagen darüber, was der Fall ist.‘ Und die Auffassung von Gegenständen, Eigenschaften und Relationen, von Tatsachen und Sachverhalten waren alle fehlerhaft, wie Wittgenstein später realisierte.

Wittgenstein wollte im Tractatus also ein metaphysisches System entwickeln…

 Ja, das denke ich. Als er das Buch schrieb, glaubte er wirklich, dass es Dinge gibt, die sich in keiner möglichen Sprache sagen lassen, sich aber in der Form einer Sprache zeigen. Dies waren eben Wahrheiten über die wesenhafte Struktur der Welt.

Wie ich gerade erklärt habe, sind die Sätze des Buches, gemäß seinen eigenen Maßstäben, in der Tat Unsinn, aber sie sind kein Kauderwelsch, weder hinsichtlich ihrer Struktur noch der Absicht, mit der sie geäußert werden.

Man könnte die Sätze des Tractatus mit den paradoxen Radierungen Moritz Eschers vergleichen. Escher zeichnet sozusagen logisch unmögliche Bilder. Sie stellen keine möglichen Sachverhalte dar – aber sie sind keine bloßen Kritzeleien. Sie sind Bilder, die die Regeln der perspektivischen Darstellung überschreiten. Jetzt stellen Sie sich vor, dass Zweck und Gegenstand dieser Bilder ist, unsere Aufmerksamkeit auf die richtige Art der Darstellung dreidimensionaler Gegenstände auf einer zweidimensionalen Oberfläche zu lenken. Natürlich sind diese Bilder Unsinnsbilder. Aber wenn man sie sorgfältig betrachtet, kann man sehen, warum sie Unsinn sind, und man kann auch sehen, was die richtige Methode der Darstellung ist. Wittgenstein meinte, dass er durch die Verwendung formaler Begriffe in eigentlich illegitimer Weise den Leser etwas zutiefst Wichtiges über das metaphysische Wesen der Welt, der Sprache und der Verbindung zwischen Sprache und Welt erkennen lassen könne. Deshalb erscheint mir die Ansicht der neuen amerikanischen Wittgensteinianer, dies alles sei eine ausgearbeitete Form von Zen-artigem Kauderwelsch fehlgeleitet.

 Die neuen Wittgensteinianer betonen die ethische Kontinuität zwischen dem frühen und dem späteren Wittgenstein. Mir scheint, dass Sie selbst stärker die Diskontinuität zwischen den beiden Perioden hervorheben.

 Der Tractatus kollabierte in Folge des Problems der Farbenausschliessung. Die Auffassung der Logik mußte grundlegend geändert werden, nachdem Wittgenstein erkannte, dass nicht alle logischen Beziehungen bestimmt sind durch die wahrheitsfunktionale Kombination von Elementarsätzen, und dass Elementarsätze nicht unabhängig zu sein brauchen.

Genauso mußte die Auffassung der Wortbedeutung aufgegeben werden, denn es war falsch, anzunehmen, dass die Bedeutung eines Wortes der Gegenstand ist, für den es steht. Es war falsch, zu denken, dass die Beziehung zwischen einem Wort und seiner Bedeutung eine Wort-Welt-Verbindung ist. In diesem Sinne gibt es keine Verbindung zwischen Sprache und Welt.

Deshalb durchläuft auch die Lösung zum Problem der Intentionalität einen radikalen Wandel, wobei aber ein wahrer Kern bei­behalten bleibt. Es gibt tatsächlich eine interne Relation zwischen einem Satz und der Tatsache, die ihn wahr macht, zwischen Erwartung und ihrer Erfüllung, zwischen einem Wunsch und seiner Befriedigung.

Im Tractatus ist diese interne Relation charakterisiert als Isomorphismus zwischen den logischen Strukturen der Welt und der Sprache. Nach 1931 erkennt Wittgenstein, dass diese Relation in Wirklichkeit eine innersprachliche ist, und in keiner Weise eine Wort-Welt-Relation. Die Relation zwischen dem Gedanken, dass p und der Tatsache dass p besteht darin, dass ‚der Gedanke, dass p‘ und ‚der Gedanke, der wahr gemacht wird von der Tatsache, dass p‘ einfach zwei verschiedene Weisen sind, sich auf denselben Gedanken zu beziehen.

Es besteht also sowohl Kontinuität, als auch dramatischer Wandel. Die richtige Gewichtung zu finden ist nicht leicht, aber es ist wichtig.

Glauben Sie, dass sein lebenslanger ethische Kampf von absoluter Wichtigkeit für das Verständnis des Philosophen Wittgenstein ist?

Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass sich Wittgenstein, als Mensch, intensiv und leidenschaftlich mit moralischen Fragen beschäftigte, damit, wie man leben sollte und wie er selbst leben sollte. Aber die Moralphilosophie war eine mindere Angelegenheit, die ihn nur während einer kurzen Phase seiner philosophischen Karriere beschäftigte. Man muß bedenken, dass er sieben lange Jahre am Tractatus arbeitete. Nur wenige Monate innerhalb dieser sieben Jahre befaßte er sich mit ethischen Fragen. Während dieser Phase, 1916, ist sein Befassen mit der Ethik tatsächlich tief und ernsthaft. Aber vorzugeben, dies sei das Hauptthema des Buches erscheint mir falsch.

Es ist wahr, dass er, aus dem Krieg zurückgekehrt, von Ficker erzählte, das Buch bestehe aus zwei Teilen, einem, den er geschrieben, und einem anderen, den er nicht geschrieben hatte – nämlich über das Ethische – und dass der zweite der wichtigere sei. Ich bezweifle nicht seine Ernsthaftigkeit, aber ich bin geneigt, sein Urteil über seine eigene Errungenschaft in Frage zu stellen.  Nach dem Tractatus schrieb er nur einen kurzen Text über Ethik, die Vorlesung von 1929 – die nicht sehr gut ist. Die Vorstellung, dass die Moralphilosophie im Zentrum seines philosophischen Nachdenkens stand, erscheint mir als Unsinn. Seine spätere Arbeit konzentrierte sich auf vier große Themen: Philosophie der Logik und Sprachphilosophie, Philosophie der Mathematik und metaphilosophische Fragen über das Wesen der Philosophie selbst.

Es wird oft angenommen, ob nun von neuen oder alten Interpreten, dass die Lektionen aus Wittgensteins späterer Philosophie rein negativen Charakters sind. Ist dem so?

Nein, ich denke, das ist falsch. Lassen Sie mich ein paar Beispiele geben. Zwischen 1929 und 1944 widmete Wittgenstein die Hälfte seiner Arbeit der Philosophie der Mathematik. Er stellte eine sowohl in der Geschichte der Philosophie als auch der Mathematik einzigartige begriffliche Übersicht über die Grundlagen der Mathematik her. Er schlug vor, die Mathematik weder als Beschreibung von Relationen zwischen abstrakten Entitäten, noch als Beschreibung eines formalen Zeichenspieles, sondern vielmehr als System von Darstellungsnormen anzusehen. Er meinte, dass mathematische Propositionen Regeln sind und dass der mathematische Beweis eine Methode zur Formung von Begriffen ist. Ob das richtig ist oder nicht, ist Gegenstand tiefgehender Auseinandersetzung. Ich finde seine Behauptung sehr erhellend. Wenn sie wahr ist, stellt sie einen großen Beitrag zu unserem Verständnis der Mathematik dar.

 Ein weiteres Beispiel wäre seine Philosophie der Psychologie. Sie wirft großes Licht auf eine lange Reihe psychologischer Begriffe – auf Empfindung und Wahrnehmung, auf Denken und Vorstellen, auf Glauben, Aspekt-Sehen, Wollen und Beabsichtigen. Hier skizziert seine Arbeit, obwohl sie auch von verschiedenen Illusionen befreien will, die Struktur der relevanten Begriffe und ihrer Zusammenhänge. Dies ist konstruktive, nicht destruktive Arbeit.

 In einer seiner Vorlesungen sagt Wittgenstein, dass es nun zum ersten Mal in der Geschichte des Faches so etwas wie handwerklich trainierte Philosophen geben wird. Wo es ein Handwerk gibt, gibt es auch eine Methode, eine erlernbare Prozedur um Probleme, in unserem Fall philosophische, zu meistern...

 Wittgenstein sah seine neue Philosophie 1929/30 als revolutionär an – nicht als Höhepunkt einer vorangegangenen Tradition, sondern als Bruch mit der Vergangenheit. Demnach sollten philosophische Probleme nun stückweise angegangen werden. Er dachte nun, dass jedes Problem gelöst oder aufgelöst und ins Archiv abgelegt werden kann.

 Welche Methode oder Methoden hatte er dafür im Sinn?

 Mit Sicherheit vor allem eine genaue und methodische Beschreibung der Verwendung von Ausdrücken um ihre logischen Merkmale offenzulegen – ihre Kombinationsmöglichkeiten, ihre Kompatibilität und Nichtkompatibilität mit verwandten Ausdrücken, ihre Implikationen und die kontextuellen Voraussetzungen ihrer Anwendung. Dies schließt natürlich auch die feine Unterscheidung zwischen logisch ungleichartigen Typen und Verwendungsweisen von Ausdrücken ein. Hier ist Wittgensteins Genie offensichtlich – wo seine Vorgänger Gleichartigkeit gesehen hatten, machte er die Unterschiedlichkeit aus, wo sie logisch verschiedene Begriffe und Begriffstypen identifiziert hatten, nahm er sie auseinander. Und indem er das tat, lehrte er uns, neue Fragen zu stellen – und zeigte uns wie wichtig sie für die Lösung philosophischer Probleme sein können.

 Zu guter Letzt: Denken Sie, dass es noch Themen in Wittgenstein gibt, die trotz der umfassenden Sekundärliteratur noch der Bearbeitung ausharren?

 Der Teil seiner Philosophie, der am wenigsten erforscht wurde, ist die Philosophie der Mathematik.  Ich denke, dass in dieser ungeordneten Masse unfertigen Materials geniale Einsichten verborgen sind. Es wäre wirklich lohnend, große Mühe darauf zu verwenden, seine Gedanken auf diesem Gebiet zu verstehen. Dafür braucht man natürlich jemanden, der ein tiefes Verständnis von Wittgenstein hat, gute Kenntnis der Geschichte und Philosophie der Mathematik hat, und selbst sich für Mathematik begeistert. Das sind ziemlich hohe Anforderungen.

Autor

 Peter Hacker ist Fellow am St. John’s College, Oxford. Mit ihm sprach Edward Kanterian (St. John’s College, Oxford). Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Julia Peters. Das Gespräch wurde von der Redaktion überarbeitet und gekürzt.