Der moralische Status der menschlichen Natur

Die technologische Kontingenz der menschlichen Natur

 Die Natur ist in der jüngeren Vergangenheit in einem für die menschlichen Geschichte präzedenzlosen Maße technisch verfügbar geworden. Dies gilt für die äußere Natur, in der wir leben; und es gilt zunehmend für unsere eigene, die menschliche Natur. Millionen von Menschen (in den wohlhabenden Ländern) unterziehen sich kleineren oder größeren Operationen, beeinflussen ihre Körperfunktionen mit chemischen Mitteln, besitzen künstliche Implantate oder kompensieren organische Dysfunktionen mit Prothesen. 

Für die Zukunft ist mit einer dramatischen Steigerung dieser Tendenz zur biotechnischen Manipulation der menschlichen Natur zu rechnen; in der amerikanischen Literatur ist bereits von „posthuman bodies“ die Rede. Die Idee einer Rekonstruktion des Menschen ist nicht mehr vollkommen utopisch. Man kann sich eine solche Rekonstruktion auf zwei (keineswegs alternativen) Wegen vorstellen: Zum einen durch genetische Manipulation, zum zweiten durch die schrittweise Ersetzung von Organen durch technische Module. Der erste Weg wäre der eher konservative, weil er den Menschen als ein Wesen von ‚Fleisch und Blut‘ erhält; der zweite Weg würde die Bindung an organische Materie durchbrechen und auf eine „Denaturalisierung“ des Menschen hinauslaufen, wie Stanislaw Lem sie bereits in den 60er Jahren beschrieben hat. 

Ob dies alles tatsächlich machbar sein wird, kann bezweifelt werden. Zumindest so viel wird man nicht bestreiten können: Was der Mensch ist, was er kann und wie er aussieht, wird in Zukunft immer weniger von den vorgegebenen biologischen Tatsachen abhängen und immer mehr vom Fortschritt der Medizin und Biotechnologie. Mit einem Wort: die menschliche Natur wird technologisch kontingent.

 Viele Menschen beobachten diesen Prozess mit großem Unbehagen. Obwohl einzelne schwere Eingriffe von den meisten für legitim gehalten werden, wenn sie der Bewahrung von Leben und Gesundheit dienen, erscheint ihnen die gesamte Perspektive einer wachsenden Technisierung der menschlichen Natur – mit dem Fluchtpunkt einer Rekonstruktion des Menschen - als beunruhigend und bedrohlich. Und es kann nicht überraschen, dass dies zu der Überlegung geführt hat, ob der menschlichen Natur nicht ein spezifischer moralischer Status zugebilligt werden müsse, um dem Trend zur Technologisierung und Künstlichkeit ethisch etwas entgegensetzen zu können. So sorgt sich Jürgen Habermas in seinem neuen Buch um Die Zukunft der menschlichen Natur und plädiert (vorsichtig) für ihre Moralisierung. Ähnlich wie die Bedrohung der äußeren Natur durch die globale ökologische Krise zu der Forderung nach einer Rückkehr zu einem vormodernen Verständnis der Natur als etwas inhärent Wertvollem geführt hat,  so soll auch der menschlichen Natur (wieder) ein inhärenter Wert zugeschrieben werden.

 Diese Idee eines spezifischen moralischen Status der menschlichen Natur hat tiefe Wurzeln in der Geschichte der europäischen Philosophie, die bis in die Antike zurückreichen. Und obwohl die Moderne durch einen starken Trend zur Neutralisierung, Entzauberung und Entmoralisierung der äußeren Natur gekennzeichnet ist, blieb die menschliche Natur von diesem Trend zwar nicht vollständig ausgespart, doch wurde ihr besonderer moralischer Status nur selten frontal und grundsätzlich in Frage gestellt: sie hat ihren inhärenten Wert weitgehend erhalten. Und dies gilt nicht nur für das philosophische Denken, sondern auch für das moralische Alltagsbewusstsein. Allen antinaturalistischen Trends der modernen Philosophie zum Trotz wird ‚Natürlichkeit‘ von den meisten Menschen intuitiv als ein Wert angesehen. Viele, die bereit sind, die äußere Natur der Formung und Manipulation preiszugeben, werden dies nicht in derselben Freizügigkeit für die menschliche Natur zulassen wollen. Dieser besondere moralische Status der menschlichen Natur findet – in durchaus widersprüchlicher Weise - seinen Ausdruck auch im Recht. So überlässt das deutsche Recht einerseits dem jeweiligen Individuum die Entscheidung über das, was mit seinem Körper geschieht und akzeptiert beispielsweise auch die Verweigerung einer lebensrettenden Operation; andererseits bewertet das Strafgesetzbuch in §228 (früher §226a) Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit auch bei Einwilligung der Betroffenen als eine strafbare Körperverletzung, sofern die Einwilligung „gegen die guten Sitten verstößt“.

 Schwierigkeiten mit der „menschlichen Natur“?

 Der erste Schritt auf dem Weg zu einem solchen normativen Konzept menschlicher Natur muss in einer möglichst präzisen Festlegung dessen bestehen, was wir unter diesem Begriff zu verstehen haben. Selbst wenn man keine absolute Trennschärfe wird erwarten können, so liegt doch auf der Hand, dass der Begriff seine praktische Funktion – ein Kriterium für die Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen biotechnologischen Interventionen zu liefern – nur erfüllen kann, wenn er eine hinreichend klare Abgrenzung zwischen dem erlaubt, was am Menschen ‚natürlich‘ und dem, was an ihm ‚nicht natürlich‘ ist.

 Die Schwierigkeiten einer Bestimmung des allgemeinen Begriffs ‚Natur‘ in der Philosophie sind notorisch. Obwohl wir intuitiv alle sehr genau zu wissen glauben, was ‚natürlich‘ ist und was nicht, ergeben sich bei genauerem Hinsehen erhebliche Schwierigkeiten. Diese beginnen damit, dass wir geneigt sind, die Natur als konstant und unveränderlich anzusehen, obwohl uns die Wissenschaften längst darüber aufgeklärt haben, dass dieser Eindruck nur das Resultat einer  zeitlich verengten Beobachtungsperspektive ist; ‚ökologische Gleichgewichte‘ beispielsweise sind – in evolutionären Zeiträumen betrachtet – ein eher flüchtiges Phänomen.  Auch auf der semantischen Ebene stoßen wir auf Schwierigkeiten. Von verschiedenen Theoretikern ist auf die Mehrdeutigkeit des Naturbegriffs hingewiesen worden, so etwa von John Stuart Mill. Bereits ein gutes Jahrhundert zuvor hatte David Hume hervorgehoben, dass sich der Inhalt des Naturbegriffs in Abhängigkeit von dem jeweils vorschwebenden Gegenbegriff verändert: ‚Natur‘ bedeutet etwas anderes, wenn der Begriff als Gegensatz zu „Wunder“, als Gegensatz zu „what is unusual“ oder zu „what is artificial“ gebraucht wird. Weitere Gegenbegriffe lassen sich leicht finden, und jedes Mal ändert sich mit ihnen die Bedeutung von ‚Natur‘. Schließlich ist die Abgrenzung zwischen dem, was ‚natürlich‘ und dem, was ‚künstlich‘ ist, auch auf der ‚ontologischen‘ Ebene problematisch. Jacques Monod hat mit einfachen Überlegungen deutlich gemacht, dass man zwischen natürlichen und künstlichen Objekten auf der Basis ihrer Eigenschaften, insbesondere ihrer strukturellen oder funktionellen Merkmale, nicht unterscheiden kann. Nur wenn wir die Geschichte eines Objekts kennen, können wir es als entweder ‚natürlich‘ oder ‚künstlich‘ klassifizieren: Wir müssen wissen, ob es von Menschen hergestellt wurde oder nicht.

 Man mag glauben, dass sich diese Schwierigkeiten im Hinblick auf die menschliche Natur ohne weiteres lösen lassen. Auf der semantischen Ebene werden wir uns hier für ‚natürlich‘ als Gegenbegriff zu ‚künstlich‘ entscheiden und die menschliche Natur mithin als die Gesamtheit der Eigenschaften definieren, die dem Menschen ohne sein eigenes Zutun zukommen. Dass er eine Haut hat, ist ihm demnach natürlich, Färbungen der Haut (durch Kosmetik oder Tätowierung) sind demgegenüber künstlich; dass wir ein Herz haben, ist Teil unserer Natur, Herzschrittmacher hingegen sind nicht natürlich. Mit einem Wort: die ‚Natur des Menschen‘ ist identisch mit seinem Körper, d.h. mit der äußeren Gestalt und dem inneren Funktionsgefüge der biologischen Art homo sapiens. Nahe liegt diese Deutung aus mehreren Gründen:

  Sie entspricht unseren Intuitionen, da wir mit dem Begriff „Mensch“ ein körperliches Wesen verbinden. Wenn wir uns fragen, was alle Menschen miteinander verbindet, so kommt die Körperlichkeit viel eher in Frage als ihre Denk- und Lebensweise, die sich historisch und kulturell sehr stark unterscheidet.

Der menschliche Körper ist Teil der Natur insgesamt: historisch ist er das Produkt der Evolution; er unterliegt den Naturgesetzen und ist im Hinblick auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse an die äußere Natur gebunden.

Im vorliegenden Zusammenhang geht es um die ethische Bewertung und Begrenzung biotechnologischer Handlungen; diese richten sich unmittelbar auf den menschlichen Körper (selbst wenn sie - indirekt - auf den Geist zielen).

 Von dieser Bestimmung ausgehend, erscheint dann auch die zweite Schwierigkeit leicht lösbar zu sein, denn wir wissen ja, welche Veränderungen wir oder andere an uns vornehmen. Und das heißt: Indem wir wissen, wie unser Körper ohne unser Zutun beschaffen ist, kennen wir unsere ‚Natur‘.

 Doch dieser letzte Punkt ist nicht so eindeutig, wie er erscheinen mag. Betrachten wir zunächst einzelne Individuen. Es bedarf keiner langen Überlegung um zu erkennen, dass die Existenz jedes einzelnen von ihnen natürlich nicht ‚ohne Zutun‘ von Menschen zustande kam; der Sexualverkehr ist eine menschliche Handlung, und ohne sie würde niemand von uns existieren. Wenn wir uns hinsichtlich der menschlichen Gattung insgesamt nicht auf einen zeitlich punktuellen Blick beschränken, sondern längere Entwicklungsphasen der Gattung ins Auge fassen, so stellen sich auch die Eigenschaften des Menschen als - zumindest teilweise - das Produkt menschlichen Handelns heraus. So ist die aktuelle Zusammensetzung des Genpools durch vielfältige Handlungen beeinflusst.

 Hier kommt ein zentrales Problem der Unterscheidung zwischen dem ‚Natürlichen‘ und dem ‚Künstlichen‘ zum Ausdruck, das auch Monod nicht gesehen hatte. Wenn wir äußere Objekte aufgrund der Kenntnis ihrer Geschichte als entweder natürlich oder künstlich klassifizieren, so tun wir dies unter der Voraussetzung, dass wir den Menschen und sein Handeln nicht als Teil der Natur betrachten. Nur wenn wir zwischen Mensch und Natur strikt trennen, können wir sagen: ‚Was ohne menschliches Zutun geschieht, ist natürlich; was durch menschliches Zutun geschieht, ist künstlich!‘. Genau diese Trennung ist aber keineswegs zwingend; sie ergibt sich aus einer bestimmten Perspektive und verschwindet, wenn wir eine andere Perspektive einnehmen.

 Aus der beschränkten Sicht eines bestimmten Individuums oder einer bestimmten Generation von Individuen stellt sich der menschliche Körper als ein vorgegebenes Faktum dar; er ist ‚Natur‘ im Sinne der klassischen natura naturata. Betrachten wir die Natur hingegen aus der Perspektive eines entfernten Beobachters, so erscheint die Natur als ein evolvierendes System und der Mensch als ein – in besonderem Maße aktiver - Teil dieses Systems; er wirkt mit seinem Handeln auf viele Elemente des Systems ein, darunter auch auf seinen eigenen Körper. Es gibt nun keinen Grund, die Veränderungen, die er an diesem Körper vornimmt, für weniger ‚natürlich‘ zu halten als die Veränderungen, die beispielsweise Vögel durch Nestbau an ihrer Umwelt bewirken. Geht man von einem solchen (‚holistischen‘) Bild der Natur als einem den Menschen einschließenden, sich historisch entwickelnden System aus, so legen wir das klassische Konzept von ‚Natur‘ als einer natura naturans zugrunde. Innerhalb dieses Konzepts macht die Unterscheidung zwischen ‚natürlich‘ und‚künstlich‘ offensichtlich keinerlei Sinn.

 Diese Überlegung zeigt, dass die Unterscheidung zwischen ‚natürlich‘ und ‚künstlich‘ perspektivenabhängig ist. Darin liegt der entscheidende Grund für das notwendige Mißlingen jeder prinzipiellen und universellen Unterscheidung zwischen beiden.

 Kritiker werden sagen, das Argument beruhe auf einer Zweideutigkeit in den von mir verwandten Begriffen „Zutun“, „Handeln“ bzw. „Produkt des Handelns“. Unbestreitbar sei jedes Individuum das Produkt des (sexuellen) „Handelns“ seiner Eltern; aber nicht in demselben Sinne wie ein Haus das Produkt des Handelns der Bauleute ist. Während die Subjekte im letzteren Fall jede Etappe des Hausbaus durch ihr Handeln einzeln bewirken, geben sie im ersteren Fall lediglich den Anstoß zu einer Entwicklung, die dann selbständig erfolgt: Das Wachstum eines Embryos zum Kind und zum Erwachsenen ist kein „Herstellen“ und hängt nicht vom Willen und den Intentionen der Eltern ab. Ähnlich verhalte es sich bei der Beeinflussung des Genpools. Hier haben wir es zwar nicht mit einem organischen Wachstum zu tun, aber auch hier wird das Resultat des Handelns nicht intentional herbeigeführt, sondern ergibt sich aus Handlungen, mit denen die Akteure ganz andere Ziele verfolgt hatten. Die Veränderungen des Genpool sind daher zwar anthropogen, aber doch in einem bestimmten Sinne ‚natürlich‘: als Nebenfolgen ergeben sie sich nicht aus menschlichen Intentionen, sondern auch aus kausalen Naturgesetzen.

 Diese Replik unterstellt einen eindeutigen Unterschied zwischen dem Herstellen oder Produzieren (beispielsweise eines Hauses) einerseits und dem bloßem In-Gang-setzen eines dann spontan weiterverlaufenden Prozesses. Tatsächlich aber haben wir es – einmal mehr - mit einem bloß graduellen Unterschied zu tun: Auf der einen Seite stehen Prozesse, die vom Menschen im Detail gesteuert werden können (und müssen, wenn sie zum gewünschten Erfolg führen sollen); auf der anderen Seite Prozesse die relativ ‚autonom‘ verlaufen, wenn sie einmal in Gang gebracht wurden. In beiden Fällen haben wir es mit einer – graduell abgestuften – Mischung von Elementen menschlicher Intention, Planung, Steuerung einerseits und naturgesetzlichen, spontanen, autonomen Mechanismen andererseits zu tun. ‚Natürlich‘ und ‚künstlich‘ sind daher nicht durch eine Grenze voneinander geschieden, sondern durch ein Spektrum miteinander verbunden.

 Wichtiger ist der ein zweiter Punkt. Die Replik reduziert das Begriffspaar ‚natürlich‘ - ‚künstlich‘ auf das Begriffspaar ‚spontan‘ - ‚intentional‘. Abgesehen davon, dass dies den vieldeutigen, schillernden Charakter des Naturbegriffs noch einmal bestätigt, ist diese Bedeutungsverschiebung nicht unplausibel. Mit ihr würde zumindest ein Problem gelöst: Wir können auf dieser Basis die unbeabsichtigten Rückwirkungen, die das menschliche Handeln auf die menschliche Natur hat, als ‚Natur‘ oder ‚natürlich‘ ansehen und das Prädikat ‚künstlich‘ auf solche Veränderungen beschränken, die Menschen intentional an ihrer Natur vornehmen. Die Veränderungen am menschlichen Genpool etwa, die sich als Nebeneffekte aus sozialen Institutionen ergeben, würden dann an der ‚Natürlichkeit‘ des Genpools nichts ändern, wohl aber etwaige gezielte Eingriffe in die Keimbahn. Doch dieser Gewinn reicht nicht  sehr weit.

 In grober Vereinfachung können wir zwei verschiedene Arten von Eigenschaften oder Fähigkeiten des Menschen unterscheiden. Die einen sind solche, die er mit anderen Teilen der Natur oder mit anderen lebenden Wesen gemeinsam hat; die anderen sind diejenigen Eigenschaften und Fähigkeiten, die nur ihm zu eigen sind und die ihn daher als ein spezifisches Wesen auszeichnen. Zu diesen letzteren rechnet man gewöhnlich vor allem seine Vernunft- und Sprachfähigkeit, sowie die sich daraus ergebenden Fähigkeiten etwa zu intentionalem Handeln oder zur Übernahme von Verantwortung. Gerade weil die zu dieser zweiten Gruppe von Fähigkeiten insgesamt genommen dasjenige ausmachen, was den Menschen als ein spezifisches Wesen auszeichnet, sind sie in der Geschichte der Philosophie oft mit den ‚menschlichen Natur‘ identifiziert worden.

 Um aber nicht in eine totale begriffliche Verwirrung zu geraten, tun wir vielleicht gut daran, hier von ‚menschlichem Wesen‘ anstatt von ‚menschlicher Natur‘ zu sprechen. Sinnvoll ist diese Unterscheidung vor allem deshalb, weil es mit ihrer Hilfe möglich wird, eine für den Menschen charakteristische dialektische Spannung begrifflich zum Ausdruck zu bringen: Einerseits ist der Mensch unauflöslich mit seinem Körper verbunden, andererseits aber ist er mit seinem Körper nicht identisch, sondern unterscheidet sich von ihm. Während wir vom Tier sagen können, dass es sein Körper ist, müssen wir vom Menschen sagen, dass er einen Körper hat. Dies zeigt sich daran, dass Menschen sich unter bestimmten Bedingungen von ihrem Körper distanzieren können.

Auch lassen sich zahllose Beispiele dafür finden, dass die menschliche Natur nicht nur die Bedingung aller menschlichen Subjektivität ist, sondern auch ihre Grenze.

 Wenn wir zwischen der ‚menschlichen Natur‘ einerseits und dem ‚menschlichen Wesen‘ (als Inbegriff aller für den Menschen spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten) andererseits unterscheiden, dann stehen wir vor der Frage nach dem Verhältnis beider zueinander: Können oder sollen wir das ‚menschliche Wesen‘ als Teil seiner ‚Natur‘ ansehen oder nicht. Zwei Möglichkeiten kommen in Betracht:

  Wir trennen das ‚menschliche Wesen‘ von seiner ‚Natur‘. In der Geschichte des philosophischen Denkens galten und gelten Vernunft, Sprache und Moral als das, was den Menschen vom Tier und von der Natur unterscheidet; und als solches können sie nicht ihrerseits ‚natürlich‘ sein. - Doch so sinnvoll diese Auffassung in mancher Hinsicht ist, so unangenehm sind ihre Konsequenzen in anderer Hinsicht. Wir müssen dann sagen, dass vernünftiges Überlegen und Handeln oder sprachliche Kommunikation ‚künstlich‘ bzw. ‚unnatürlich‘ sind; dies ist nicht nur sprachlich irritierend, sondern auch sachlich problematisch. Daraus ergibt sich die Versuchung, diese Eigenschaften und Fähigkeiten einer höheren, transzendenten Welt zuzurechnen und ihre Verknüpfung mit der menschlichen ‚Natur‘ als eine Verunreinigung anzusehen, derer man sich möglichst entledigen muss: Erst wenn wir uns vom Körper gelöst haben, werden wir mit unserem ‚Wesen‘ identisch. Es bedarf keines sonderlichen Scharfsinns, um zu erkennen, dass eine solche Betrachtungsweise keine gute Basis dafür bietet, der menschlichen Natur einen moralischen Status zuzubilligen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Der anthropologische Dualismus, der dem philosophischen und religiösen Denken Europas so gern vorgeworfen wird, hat in genau dieser Betrachtungsweise seinen Ursprung.

Wir sehen das menschliche ‚Wesen‘ als Teil der menschlichen Natur an; rationales Denken, intentionales Handeln und Moral sind dann gerade das, was die spezifisch menschliche ‚Natur‘ ausmacht. Die sich aus dem rationalen Denken und intentionalen Handeln ergebenden Resultate wird man nun nicht als ‚unnatürlich‘ qualifizieren können; die Veränderungen, die Menschen sowohl an der äußeren, als auch an ihrer eigenen Natur vornehmen, wären als Konsequenzen eben seiner Natur anzusehen. Tatsächlich beobachten wir ja, dass Menschen ihren Körper nicht unangetastet lassen, sondern ihn in vielfältiger Weise bearbeiten, verändern und kultivieren. Ausschlaggebend dafür waren und sind ästhetische Motive (Haare schneiden, Tätowieren), religiöse Gebote (Beschneidung) und medizinische Bedürfnisse (Medikamente, Amputationen). Daraus, dass solche Eingriffe nicht als moralisch illegitim, sondern teilweise sogar als geboten galten und gelten, lässt sich schließen, dass der menschliche Körper nicht nur als Natur, sondern stets auch als Kultur wahrgenommen wird. Die Unterscheidung zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ scheint im Hinblick auf den Menschen und seinen Körper nicht nur pragmatisch schwierig festzulegen, sondern grundsätzlich unklar zu sein.

 Die Rechtfertigung des moralischen Status der menschlichen Natur

 Man muss im Ergebnis dieser Überlegungen nicht bestreiten, dass die Rede von einer „Natur des Menschen“ in mancher Hinsicht und unter bestimmten Bedingungen sinnvoll ist. Doch auf einer grundsätzlichen philosophischen Ebene ist sie irreführend: Es ist ein Charakteristikum der ‚Natur‘ des Menschen, dass er nicht nur (wie Tiere) einer evolutionären Veränderung unterliegt, sondern sich verändert; in diesem Sinne ist er „von Natur aus künstlich“.

 Im folgenden werde ich jedoch unterstellen,  wir hätten eine hinreichend genaue Bestimmung des Begriffs gefunden. Das Ziel ist damit aber noch nicht erreicht, geht es doch um die Frage, ob der menschlichen Natur ein normativer Status zugeschrieben werden kann (oder gar muss). Wir haben also zu fragen, mit welchen Argumenten ein solcher Status begründet werden kann.

 a) Die menschliche Natur als Basis der Personalität

 Eine erste Möglichkeit besteht darin, den normativen Status der menschlichen Natur aus ihrer engen Verbindung mit der menschlichen Person herzuleiten. In diese Richtung geht die Argumentation Immanuel Kants. Daraus, dass der Körper nicht nur zufälligerweise zum menschlichen Leben gehört, sondern seine conditio sine qua non ist; dass wir uns keinen Begriff von einem Leben ohne Körper machen können; dass der Gebrauch der Freiheit nur durch den Körper möglich ist; dass der Körper also ein Teil unserer selbst ist; - daraus zog Kant den Schluss, dass unser Körper nicht unserer freien Willkür unterworfen ist; er ist nicht unser Eigentum, und wir haben daher kein Recht, über ihn zu disponieren. In ähnlicher Weise leitet auch Hegel den moralischen Status des menschlichen Körpers von seinem untrennbaren Zusammenhang mit der menschlichen Person her. Der Wert der menschlichen Natur ist hier ein indirekter oder abgeleiteter Wert, der sich aus zwei Annahmen ergibt: (a) die menschliche Person hat inhärenten Wert; (b) die menschliche Person hat ihre Basis in der menschlichen Natur.

 In diese Richtung gehen auch die Überlegungen von J. Habermas, wenn er in seinem neuen Buch Die Zukunft der menschlichen Natur auf „das unscheinbare normative Zusammenspiel zwischen der moralisch gebotenen und rechtlich garantierten Unantastbarkeit der Person und der Unverfügbarkeit des naturwüchsigen Modus ihrer leiblichen Verkörperung” spricht (S. 41). Nicht die menschliche Natur ‚an sich‘ ist es, die wir nach Habermas zu schützen haben; ausdrücklich wendet er sich gegen ihre „Resakralisierung“; sondern die menschliche Natur als Basis eines bestimmten Selbstverständnisses der menschlichen Gattung insgesamt. Er befürchtet, dass genmanipulierte Individuen sich gegenüber ihren Mitmenschen nicht mehr als prinzipiell gleichberechtigte Personen verstehen können und dass ihnen auch die Möglichkeit genommen ist, sich selbst als autonome Subjekte ihres eigenen Lebens zu verstehen. Damit wären die Fundamente angegriffen, auf denen die Idee vom Menschen als einem freien und verantwortlichen Wesen ebenso beruht wie die Ideale rechtlicher Gleichheit und politischer Freiheit. Die Realisierung eugenischer Strategien (auch wenn sie nicht autoritärer, sondern liberaler Art wären) könnte daher „die Gesamtstruktur unserer moralischen Erfahrung verändern“ (S. 54) und die Folge haben, „dass wir uns nicht länger als ethisch freie und moralische gleiche, an Normen und Gründen orientierte Lebewesen verstehen können“ (S. 74).

 Diese Überlegungen beruhen erstens auf empirischen Annahmen über die Folgen von gentechnischen Manipulationen, die zutreffend sein können, aber nicht sein müssen. Es ist zumindest offen, ob diese Folgen tatsächlich eintreten werden, und manches könnte gesagt werden, das Zweifel daran weckt. Zweitens transponiert Habermas die Fragestellung von der individuellen auf eine kollektive, von ihm „gattungsethisch“ genannte Ebene. Dies ist auf der analytischen Ebene durchaus plausibel, da es einem Wunder gleichkäme, wenn die Möglichkeit einer genetischen Selbstveränderung der Menschheit ohne Auswirkungen auf das kollektive Selbstverständnis hätte. Auf der normativen Ebene ist diese Verschiebung jedoch problematisch; denn sie impliziert eine Unterordnung der konkreten Individuen und ihrer Wünsche und Interessen unter abstrakte Ideen und Theorien, die überdies niemals von allen Individuen gleichermaßen akzeptiert werden.  

 Welche Konsequenzen ergeben sich, wenn wir der menschlichen Natur einen abgeleiteten moralischen Wert zusprechen? Wir haben bei der Antwort auf diese Frage zwei verschiedene Fälle zu beachten. Der erste betrifft die Manipulation der Natur anderer Personen. Es dürfte unstrittig sein, dass ein solcher abgeleiteter Wert hinreichend ist, um die körperliche Integrität der Individuen gegenüber Eingriffen anderer zu schützen. „Meinem Körper von anderen angetane Gewalt ist Mir angetane Gewalt“, wie Hegel  knapp und treffend sagt. Dies gilt nicht nur für direkte und intendierte Schädigungen, sondern auch für Risiken, denen wir – beispielsweise durch medizinische oder biotechnologische Interventionen – ausgesetzt sind. An derartige Interventionen beim Menschen sind grundsätzlich höhere Anforderungen im Hinblick auf ihre Sicherheit zu stellen als an andere Eingriffe in die Natur. Alle Manipulationen, die einem Individuum einen Schaden zufügen oder dem Risiko eines solchen Schadens aussetzen, sind daher unzulässig. Doch wie verhält es sich mit (künftig vielleicht möglichen) Manipulationen, die risikofrei sind und dem manipulierten Individuum keine solche Schäden zufügen? Zu denken ist dabei an ‚Verbesserungen‘ der menschlichen Natur, beispielsweise durch Eingriffe in die Keimbahn.  Da solche Eingriffe ohne den informed consent der betroffenen Individuen durchgeführt werden müssen, sind sie nur dann legitim, wenn sie im unzweifelhaften Interesse dieser Individuen erfolgen, so dass mit ihrer späteren nachträglichen Zustimmung gerechnet werden kann. Die einzigen Eingriffe, für die das mit Sicherheit angenommen werden kann, sind solche mit therapeutischen (oder präventiven) Zielen. Das heißt aber: Sofern durch die entsprechenden Eingriffe nicht die Autonomie der manipulierten Individuen eingeschränkt oder gar unmöglich gemacht wird, würde ein abgeleiteter Wert nicht gegen Veränderungen der menschlichen Natur sprechen. Ein abgeleiteter Wert der menschlichen Natur würde den legitimen Spielraum eugenischer Strategien drastisch einschränken, aber nicht alle eugenischen Strategien verbieten.

Der zweite Fall betrifft Selbstmanipulationen von Individuen, d. h. Manipulationen der menschlichen Natur, die mit Einwilligung oder im Auftrag der betreffenden Person durchgeführt werden. Kant hatte es als selbstverständlich angenommen, dass niemand berechtigt ist, mit seinem Körper nach Belieben zu verfahren. Heute sind wir im Hinblick auf „Pflichten gegen sich selbst“ viel zurückhaltender. Möglicherweise lässt sich mit dem (abgeleiteten) Wert der menschlichen Natur ein gewisser Paternalismus im Hinblick auf risikoreiche medizinische Interventionen rechtfertigen, vor allem dann, wenn die entsprechenden Risiken leichtfertig und ohne hinreichende Aufklärung eingegangen werden. Ein solcher Paternalismus müsste aber aus zwei Gründen eng begrenzt bleiben. Erstens wäre es widersprüchlich, risikoreiches Verhalten allgemein zuzulassen, aber dort einzuschränken, wo es im medizinischen Kontext erfolgt: Wer seine Gesundheit und sein Leben durch Rauchen oder Motorradfahren auf Spiel setzen darf, muss dies auch durch Operationen, Amputationen oder Transplantationen tun dürfen. Der zweite Grund ergibt sich daraus, dass wir der menschlichen Natur bisher nur einen abgeleiteten Wert zugesprochen haben: Ihr Wert ergibt sich aus ihrer Verbindung mit der betreffenden Person. Es wäre nun aber nicht konsistent, den Wert der menschlichen Natur gegen genau jene Person zu verteidigen, aus der sich dieser Wert überhaupt erst ergibt. Wenn Personen in sich wertvoll sind, dann sind grundsätzlich auch die Bedürfnisse und Wünsche dieser Personen wertvoll und zu respektieren. Der Körper ist Bedingung sowohl des Lebens der Person, als auch ihres guten Lebens. Bereits Aristoteles hatte darauf hingewiesen, dass zu einem guten Leben nicht nur äußere Güter wie Nahrung oder Bekleidung gehören, sondern auch verschiedene körperliche Güter wie Schönheit oder Gesundheit. Tatsächlich wird die Qualität des individuellen Lebens zu einem nicht unerheblichen Maße von Faktoren bestimmt, die direkt oder indirekt von der natürlichen Konstitution des jeweiligen Individuums abhängen. Und daraus ergibt sich, einerseits dass diese Konstitution für das jeweilige Subjekt eine evaluative Dimension besitzt. Andererseits aber kann diese Konstitution, wie wir oben gesehen haben, in nicht wenigen Situationen zur Ursache für Unzufriedenheit und Unglück der Person werden. Für diese Situationen müssen wir es als legitim ansehen, dass die betreffende Person, ihre Natur ihren Bedürfnissen und Wünschen anzupassen versucht: Auch wenn dies aus einer Außenperspektive als ‚unvernünftig‘ erscheint. Wer heute durch Piercing oder Tätowierung sein Wohlbefinden zu befördern sucht, wird dies in Zukunft vielleicht mit Trans- oder Implantationen versuchen. Kurzum: Sofern aus dem abgeleiteten Wert der menschlichen Natur überhaupt Restriktionen für das Handeln der betreffenden Person abgeleitet werden können, dürfen diese nur sehr schwach sein.

 b) Ein inhärenter Wert?

 Wer mit diesem Resultat nicht zufrieden ist, wem es also gerade darum zu tun ist, starke Grenzen der individuellen Verfügung über die eigene Natur zu errichten, der wird sich daher nicht mit einem abgeleiteten Wert zufrieden geben, sondern einen inhärenten Wert der menschlichen Natur nachzuweisen suchen. Ein solcher Wert wäre dadurch charakterisiert, dass er der menschlichen Natur ‚an sich‘, d.h. unabhängig von der Wertschätzung der betreffenden Individuums, möglicherweise sogar unabhängig von menschlicher Wertschätzung überhaupt, innewohnt. Es ist klar, dass man mit der Behauptung eines solchen inhärenten Wertes eine erhebliche Beweislast übernimmt: Nicht nur weil derartige Behauptungen immer begründungsbedürftig sind; sondern vor allem auch, weil dieser Wert ja dazu dienen soll, die Handlungsfreiheit der Individuen gegenüber ihrem eigenen Körper einzuschränken. Ich werde im Folgenden fünf mögliche Argumente zugunsten eines inhärenten Wertes der menschlichen Natur unterscheiden und kurz diskutieren. Dabei sollten diese fünf Argumente nicht als sich gegenseitig ausschließend angesehen werden; in der Regel werden mehrere von ihnen miteinander gekoppelt.

(1) Das religiöse Argument. Eine erste Möglichkeit besteht darin, die menschliche Natur als von Gott erschaffen anzusehen und ihren inhärenten Wert daraus abzuleiten. Man kann dann auch von einer ‚Heiligkeit‘ der menschlichen Natur sprechen. – Dieses Argument stößt auf mehrere Schwierigkeiten, von denen ich hier nur eine erwähnen möchte. Es beruht auf Voraussetzungen, die in pluralistischen Gesellschaften nicht allgemein anerkannt werden und kann daher zwar durchaus das Fundament einer privaten oder einer Gruppenmoral bilden; es ist aber nicht geeignet als Basis einer öffentlichen, allgemein verbindlichen Moral.

 (2) Das realistische Argument. Man kann von einem inhärenten Wert der menschlichen Natur als einer gegebenen Tatsache ausgehen, die keiner weiteren Begründung bedarf oder fähig ist: Wer die menschliche Natur mit den richtigen Augen ‚sieht‘, wird diesen Wert erkennen. – Aus der Geschichte des ethischen Denkens ist diese Auffassung durchaus bekannt. Samuel Clarke, Richard Price und Ralph Cudworth haben sie (allerdings nicht speziell im Hinblick auf die menschliche Natur) im 17. und 18. Jahrhundert vertreten, die britischen Intuitionisten und die deutschen Wertethiker im 20. Jahrhundert. Wie Christine Koorsgaard gezeigt hat, liegt dieser Position der Versuch zugrunde, den möglichen Regress des ethischen Fragens auf immer weitere und immer ‚tiefere‘ Gründe „by fiat“ zu beenden: „Having discovered that he needs an unconditional answer, the realist straightaway concludes that he has found one.“ (Korsgaard, The Sources of Normativity, S. 33). Mit einem Wort: Es handelt sich gar nicht um ein Argument, sondern lediglich um eine Behauptung.

 (3) Das intuitionistische Argument. Da eine solche Behauptung nicht ausreicht, kann man sie durch den Verweis auf weit verbreitete Intuitionen zu stützen versuchen. Die menschliche Natur gilt im moralischen common sense nicht in der selben Weise als normativ neutral wie die äußere Natur. Bestimmte körperliche Eigenschaften (vor allem Gesundheit und Schönheit) werden von jeher als eigenständige Werte angesehen.  Das generelle Problem mit Intuitionen ist, dass sie stark divergieren. Einige mögen die menschliche Natur in ihrer gegenwärtigen Gestalt als geradezu ‚heilig‘ empfinden; andere empfinden diese Ehrfurcht nicht und können von der Idee ihrer technischen Rekonstruktion fasziniert sein und von „posthuman bodies“ träumen. Welche dieser Intuitionen ‚richtig‘ ist, kann nicht selbst wiederum auf der Basis von Intuitionen entschieden werden. Es wird vielfach übersehen, dass die Intuition, dass Veränderungen der menschlichen Natur legitim seien, keineswegs bloß dem szientistisch deformierten und technokratisch verkrüppelten Bewusstsein einzelner Wissenschaftler, Ingenieure oder SF-Liebhaber entspringt, sondern auf eine lange Denktradition zurückgeführt werden kann, nach der der Mensch geradezu verpflichtet ist, „an sich zu arbeiten“ und sich zu vervollkommnen. In der Vergangenheit hat man dabei natürlich nicht in erster Linie an technische Maßnahmen zur Vervollkommnung gedacht, sondern an ideelle und verhaltensorientierte Maßnahmen (Askese, Zölibat, Selbstbeherrschung, Lernen etc.). Dies lag aber vor allem daran, dass die entsprechenden technischen Optionen nicht zur Verfügung standen; dies ist heute jedoch der Fall. Man kann daher sowohl intuitiv, als auch unter Berufung auf eine ehrwürdige Tradition des kulturellen, theologischen und philosophischen Denkens die Auffassung vertreten, dass die Pflicht des Menschen bezüglich seiner eigenen Natur dieselbe ist wie seine Pflicht bezüglich der Natur aller übrigen Dinge, nämlich nicht, ihr zu folgen, sondern sie zu verbessern.” (Mill)

 Darüber hinaus ist unklar, ob die Intuition einen abgeleiteten oder einen inhärenten Wert begründet. Vieles spricht für die erstere Variante; Gesundheit und Schönheit werden als Werte angesehen, weil sie die Chancen auf ein gutes Leben der jeweiligen Person erhöhen; so waren die körperlichen Güter auch von Aristoteles verstanden worden. - Aber selbst wenn wir unterstellen, dass sich mit dem Verweis auf die intuitive Wertschätzung der menschlichen Natur deren inhärenter Wert begründen ließe, wäre noch nicht viel über die normative Kraft dieses Wertes ausgemacht. Der moralische common sense hält die menschliche Natur zwar für wertvoll, aber keineswegs für sakrosankt und unantastbar. Wir halten sehr tiefe Eingriffe in die menschliche Natur – Amputationen, Herztransplantationen, Gehirnchirurgie, Geschlechtsumwandlungen – für moralisch legitim, sofern sie dazu dienen, menschliches Leiden zu vermindern. Das heißt: Auch dann, wenn wir bereit sind, der menschlichen Natur einen (inhärenten?) Wert zuzubilligen, implizierte dies durchaus nicht, dass dieser Wert der einzige ist, den wir akzeptieren. Es gibt Situationen, in denen wir es für gerechtfertigt halten, den Wert der Integrität der menschlichen Natur dem Wert der Leidensverminderung unterzuordnen. Auch ein inhärenter Wert der menschlichen Natur würde daher keine absolute Schranke legitimen medizinischen Handelns begründen können, denn er könnte jederzeit durch andere Werte übertrumpft werden.

 (4) Das metaphysische Argument. Die Idee eines der Natur inhärenten Wertes ist keine neue Erfindung, sondern war in vielen vormodernen Weltbildern anerkannt; darunter auch in der antiken Philosophie. Nahezu alle neueren Konzepte einer Revalidierung der – sei es äußeren, sei es menschlichen – Natur orientieren sich am Vorbild der Antike. Diese war von der Idee eines Kosmos ausgegangen, d.h. der Vorstellung einer endlichen, geschlossenen und geordneten Welt, in der jeder Prozess sein vorbestimmtes Ziel und jedes Ding seinen vorbestimmten Ort hatte. In Platons spätem Dialog Timaios beispielsweise wird die ganze Welt als ein einziges und einheitliches lebendes Wesen betrachtet, das eine vernünftige Seele besitzt. In einem solchen Weltorganismus existieren die einzelnen Teile natürlich nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden ein funktionales, hierarchisches System. Der Begriff „Kosmos“ bezeichnet daher eine sinnhafte Ordnung, in der Tatsachen und Werte nicht strikt voneinander zu trennen waren: Jeder Teil hat einen Bezug auf das Ganze und insofern auch einen Wert. Das gilt auch für den Menschen. Wie jedes andere Wesen nimmt auch der Mensch einen bestimmten Platz im Kosmos ein, und  aus diesem Platz ergibt sich das Ziel seines Lebens. Die in den verschiedenen antiken Ethiken entworfenen Modelle gelungenen menschlichen Lebens haben allesamt ihren Rückhalt in einer metaphysischen Anthropologie, die wiederum Teil einer Kosmologie war. In den ‚klassischen‘ Theorien von Platon und Aristoteles wird der Zusammenhang zwischen Kosmologie, Anthropologie und Ethik durch das berühmte ergon-Argument hergestellt, nach dem der Mensch ein gutes Leben nur führen kann, wenn er die für ihn spezifischen Potenzen – seine Rationalität – in bestmöglicher Weise realisiert und kultiviert. Die Einsicht, die der Mensch in seine eigene Natur (und ihren Platz in der Gesamtnatur) gewinnt, ist daher gleichbedeutend mit der Erkenntnis, wie man leben soll.

 Von diesem Bild grenzt sich die moderne Auffassung vom Menschen, wie sie sich seit der Renaissance herausgebildet hat, scharf ab. Diese Auffassung besagt auf der kosmologischen Ebene, dass die Natur kein geordneter Kosmos, sondern ein unendliches Aggregat von Tatsachen und Prozessen ohne inhärenten Sinn ist; und auf der anthropologischen Ebene, dass der Mensch in einem ethisch relevanten Sinne kein Teil dieser Natur ist: Während alle übrigen Lebewesen durch äußere Tatsachen und innere Determinanten in ihrem Verhalten festgelegt sind, ist der Mensch nicht fixiert. In Pico della Mirandolas berühmter Rede über die Würde des Menschen (1496) wird dies unmißverständlich zum Ausdruck gebracht und nahezu die gesamte nachfolgende Anthropologie ist ihm darin gefolgt. Auf dieser anthropologischen Grundlage haben sich nun verschiedene Ideen und Ideale entwickelt, die als konstitutiv für das neuzeitliche Bewusstsein angesehen werden können. Im Mittelpunkt steht dabei die Idee der Freiheit. Insofern der Mensch nicht von Natur aus auf einen bestimmten Platz in der Welt oder auf einen bestimmte Lebensform festgelegt ist, kann (und muss) er darüber selbst entscheiden. Der emphatische Freiheitsbegriff der Neuzeit kommt in der Überzeugung zum Ausdruck, dass der Mensch selbst darüber entscheiden kann, wer und was er ist. Dieser Gedanke einer Selbstschöpfung des Menschen bezieht sich auf zwei Ebenen:

 (a) Zum einen auf die individuelle Ebene. Nicht nur der Mensch im allgemeinen, sondern jedes Individuum hat die grundsätzliche Möglichkeit verschiedenes aus sich zu machen. Und diese Möglichkeit ist ein Wert – vielleicht der höchste überhaupt – und verdient als solcher nicht nur Respekt, sondern Schutz.

 (b) Zum anderen bezieht er sich auf die Gattungsebene. Wenn der Mensch auch als Gattung etwas aus sich machen kann, so heißt das: Er befindet sich (zumindest der Möglichkeit nach) in einem Prozess des Fortschritts und der Vervollkommnung. Dies schließt ein, dass der Mensch auch der Schöpfer seiner Moral ist. In einer Welt, in der dem Menschen kein Platz und kein Plan vorgegebenen ist, kann und muss er sich die moralischen Gesetze seines Handelns selbst geben. Es war bekanntlich Immanuel Kant, der diese Idee der Autonomie zur Grundlage seiner Ethik gemacht hat.

 Die Schlüsselbegriffe der Moderne und ebenso die sich daraus ergebenden Konzepte von Individualität und Menschenwürde haben also ihre Basis in einem Verständnis von äußerer Natur als einem bloß faktischen, nicht sinn- und werthaft strukturierten Zusammenhang. Um es pointiert zu sagen: Ohne ein ‚materialistisches‘ Weltbild keine Freiheit, keine Selbsterzeugung, keine Autonomie, keine Individualität und keine Menschenwürde. Es ist schwer zu sehen, wie diese Ideen  - nicht nur im Hinblick auf die technische Manipulation des menschlichen Körpers - aufrecht erhalten werden können, wenn die zugrundeliegende Naturkonzeption aufgegeben wird. Die Rückkehr zu einer starken Normativität der menschlichen Natur würde einschneidende Restriktionen des menschlichen Handlungsspielraums in allen Handlungsbereichen mit sich bringen. Wenn die obersten Lebensziele aus der Naturordnung abgelesen werden können, stehen sie nicht mehr für eine rationale Wahl zur Verfügung. Wer diesen objektiven Zielen nicht folgt, handelt irrational und (moralisch) falsch. Es bleibt dann nur noch die Wahl zwischen der einen richtigen Lebensweise und den vielen falschen Lebensweisen; eine Wahl zwischen verschiedenen richtigen Lebensweisen hätten wir nicht mehr. Das war auch die Auffassung von Platon gewesen (Pol. 445 und 544). Mit einem Wort: Ein starker Begriff von Freiheit und Individualität ist mit einem starken Begriff einer ‚Natur des Menschen‘ nicht vereinbar.

 (5) Das funktionalistische Argument. Ein wichtiges Argument besteht in dem Hinweis, dass nur die Anerkennung eines solchen inhärenten Wertes und der sich aus ihm ergebenden kategorischen Handlungsbegrenzungen einen hinreichend sicheren Schutz für die Integrität der menschlichen Person bietet. Werde diese Integrität immer wieder als ein Problem der punktuellen Güterabwägung behandelt, so laufe dies auf ihre Schritt um Schritt fortschreitende Aushöhlung hinaus; denn in jedem einzelnen Fall ließen sich immer irgendwelche punktuell plausiblen Gründe dafür finden, diesen oder jenen Teil der menschlichen Natur durch technische Mittel zu ersetzen oder zu verbessern. Durch eine Reihe von – einzeln genommen – vertretbaren Eingriffen ergebe sich am Ende ein Effekt, den möglicherweise niemand intendiert habe: Die Abschaffung der menschlichen Natur. 

 Die diesem Argument zugrundeliegende Beschreibung könnte sich auf lange Sicht als empirisch durchaus zutreffend erweisen. Doch ist es als ein ethisches Argument deshalb bereits valide? Erstens fällt auf, dass dieses Argument voraussetzt, was es beweisen will: Dass diese Abschaffung der menschlichen Natur moralisch falsch ist. Nur wenn man einen inhärenten Wert dieser Natur bereits anerkannt hat oder intuitiv unterstellt, wird man zu einem moralisch negativen Urteil über die schrittweise Ersetzung von Natur durch Technik kommen. Dies sollte schon reichen, um das Argument als invalide zu erkennen. Hinzu kommt aber noch zweitens, dass dieses Argument einen merkwürdigen Schluss vom Sollen auf das Sein enthält. Daraus, dass die Integrität der menschlichen Natur erhalten bleiben soll, wird geschlossen, dass sie einen inhärenten Wert hat. Hier wird der naturalistische Fehlschluss rückwärts gezogen.

 Man kann die Idee eines normativen Status der menschlichen Natur auch in einer schwachen Variante vertreten. Die menschliche Natur hat demnach einen prima-facie-Wert, der sich aus ihrer engen Verbundenheit mit der jeweiligen Person herleitet. Eine solche Deutung würde zu einem vorsichtigen und risikoscheuen Umgang mit den Möglichkeiten der modernen Biotechnologie anleiten und vielleicht sogar einen sanften Paternalismus gegenüber den jeweiligen Individuen rechtfertigen. Sie würde darüber hinaus bestimmte intuitiv begründete Ideale von ‚Natürlichkeit‘ als Elemente eines guten Lebens und als Bedingung menschlichen Wohlergehens ausweisen. Es ist vorstellbar, dass unter dem Eindruck der zunehmenden Künstlichkeit eine wachsende Zahl von Individuen zu einem normativ gehaltvollen Bild menschlicher Natur ‚konvertieren‘ und sich in den sie betreffenden medizinischen Entscheidungen an ihm orientieren. Fraglich ist allerdings, ob ein solcher Wertewandel (a) mit philosophischen Argumenten rational ‚erzwungen‘ und (b) legitimerweise für alle verbindlich gemacht werden kann. In jedem Fall begründet diese schwache Variante keine absolute Grenze biotechnologischen Handelns. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass divergierende Formen des Umgangs mit der Biotechnologie entstehen, die auf lange Sicht hin zu neuartigen Typen von Menschen führen, die nur noch von Ferne an den heutigen Typus von homo sapiens erinnern. Es ist nicht zu sehen, welche moralischen Argumente dagegen vorgebracht werden könnten.

 Solche moralischen Grenzen ergeben sich allerdings dort, wo die Natur anderer Menschen manipuliert wird. Dies ist bei allen Arten technischer Eingriffe in die menschliche Fortpflanzung unausweichlich der Fall. Das moralische Problem besteht hier aber nicht darin, dass die ‚Natur‘ dieser künftigen Menschen verändert wird, sondern dass diese Veränderungen mit ihrer Autonomie schwer vereinbar sind. Die Idee einer Selbstveränderung der Menschheit auf genetischem Wege stößt daher auf viel engere moralische Grenzen als etwa die Erzeugung von Mensch-Maschine-Hybriden (sofern diese Erzeugung dem autonomen Wunsch einer kompetenten Person entspricht).

Von der Redaktion gekürzter Text. Der englische Originaltext erscheint im „Journal of Medicine and Philosophy“, Heft 27 (6),im Dezember dieseses Jahres. Der Vorabdruck erfolgt mit Erlaubnis des „Journal of Medicine and Philosophy, Inc.“.

Autor

Kurt Bayertz ist Professor für Philosophie an der Universität Münster.