Die Natur ist in der jüngeren Vergangenheit in einem für die menschlichen Geschichte präzedenzlosen Maße technisch verfügbar geworden. Dies gilt für die äußere Natur, in der wir leben; und es gilt zunehmend für unsere eigene, die menschliche Natur. Millionen von Menschen (in den wohlhabenden Ländern) unterziehen sich kleineren oder größeren Operationen, beeinflussen ihre Körperfunktionen mit chemischen Mitteln, besitzen künstliche Implantate oder kompensieren organische Dysfunktionen mit Prothesen.
Für die Zukunft ist mit einer dramatischen Steigerung dieser Tendenz zur biotechnischen Manipulation der menschlichen Natur zu rechnen; in der amerikanischen Literatur ist bereits von „posthuman bodies“ die Rede. Die Idee einer Rekonstruktion des Menschen ist nicht mehr vollkommen utopisch. Man kann sich eine solche Rekonstruktion auf zwei (keineswegs alternativen) Wegen vorstellen: Zum einen durch genetische Manipulation, zum zweiten durch die schrittweise Ersetzung von Organen durch technische Module. Der erste Weg wäre der eher konservative, weil er den Menschen als ein Wesen von ‚Fleisch und Blut‘ erhält; der zweite Weg würde die Bindung an organische Materie durchbrechen und auf eine „Denaturalisierung“ des Menschen hinauslaufen, wie Stanislaw Lem sie bereits in den 60er Jahren beschrieben hat.
Ob dies alles tatsächlich machbar sein wird, kann bezweifelt werden. Zumindest so viel wird man nicht bestreiten können: Was der
Mensch ist, was er kann und wie er aussieht, wird in Zukunft immer weniger von
den vorgegebenen biologischen Tatsachen abhängen und immer mehr vom
Fortschritt der Medizin und Biotechnologie. Mit einem Wort: die menschliche
Natur wird technologisch kontingent.
Viele Menschen beobachten
diesen Prozess mit großem Unbehagen. Obwohl einzelne schwere Eingriffe von den
meisten für legitim gehalten werden, wenn sie der Bewahrung von Leben und
Gesundheit dienen, erscheint ihnen die gesamte Perspektive einer wachsenden
Technisierung der menschlichen Natur – mit dem Fluchtpunkt einer Rekonstruktion
des Menschen - als beunruhigend und bedrohlich. Und es kann nicht überraschen,
dass dies zu der Überlegung geführt hat, ob der menschlichen Natur nicht ein
spezifischer moralischer Status
zugebilligt werden müsse, um dem Trend zur Technologisierung und Künstlichkeit
ethisch etwas entgegensetzen zu können. So sorgt sich Jürgen Habermas in seinem neuen Buch um
Die Zukunft der menschlichen Natur und plädiert (vorsichtig) für
ihre Moralisierung. Ähnlich wie die Bedrohung der äußeren Natur durch die
globale ökologische Krise zu der Forderung nach einer Rückkehr zu einem
vormodernen Verständnis der Natur als etwas inhärent Wertvollem geführt
hat, so soll auch der menschlichen
Natur (wieder) ein inhärenter Wert zugeschrieben werden.
Diese Idee eines
spezifischen moralischen Status der menschlichen Natur hat tiefe Wurzeln in der
Geschichte der europäischen Philosophie, die bis in die Antike zurückreichen.
Und obwohl die Moderne durch einen starken Trend zur Neutralisierung, Entzauberung
und Entmoralisierung der äußeren Natur gekennzeichnet ist, blieb die
menschliche Natur von diesem Trend zwar nicht vollständig ausgespart, doch
wurde ihr besonderer moralischer Status nur selten frontal und grundsätzlich
in Frage gestellt: sie hat ihren inhärenten Wert weitgehend erhalten. Und dies
gilt nicht nur für das philosophische Denken, sondern auch für das moralische
Alltagsbewusstsein. Allen antinaturalistischen Trends der modernen Philosophie
zum Trotz wird ‚Natürlichkeit‘ von den meisten Menschen intuitiv als ein Wert
angesehen. Viele, die bereit sind, die äußere Natur der Formung und
Manipulation preiszugeben, werden dies nicht in derselben Freizügigkeit für
die menschliche Natur zulassen wollen. Dieser besondere moralische Status der
menschlichen Natur findet – in durchaus widersprüchlicher Weise - seinen
Ausdruck auch im Recht. So überlässt das deutsche Recht einerseits dem
jeweiligen Individuum die Entscheidung über das, was mit seinem Körper
geschieht und akzeptiert beispielsweise auch die Verweigerung einer lebensrettenden
Operation; andererseits bewertet das Strafgesetzbuch in §228 (früher §226a)
Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit auch bei Einwilligung der
Betroffenen als eine strafbare Körperverletzung, sofern die Einwilligung „gegen
die guten Sitten verstößt“.
Der erste Schritt auf dem Weg zu einem solchen normativen Konzept menschlicher Natur muss in einer möglichst präzisen Festlegung dessen bestehen, was wir unter diesem Begriff zu verstehen haben. Selbst wenn man keine absolute Trennschärfe wird erwarten können, so liegt doch auf der Hand, dass der Begriff seine praktische Funktion – ein Kriterium für die Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen biotechnologischen Interventionen zu liefern – nur erfüllen kann, wenn er eine hinreichend klare Abgrenzung zwischen dem erlaubt, was am Menschen ‚natürlich‘ und dem, was an ihm ‚nicht natürlich‘ ist.
Die Schwierigkeiten einer Bestimmung des allgemeinen Begriffs ‚Natur‘ in der Philosophie sind notorisch. Obwohl wir intuitiv alle sehr genau zu wissen glauben, was ‚natürlich‘ ist und was nicht, ergeben sich bei genauerem Hinsehen erhebliche Schwierigkeiten. Diese beginnen damit, dass wir geneigt sind, die Natur als konstant und unveränderlich anzusehen, obwohl uns die Wissenschaften längst darüber aufgeklärt haben, dass dieser Eindruck nur das Resultat einer zeitlich verengten Beobachtungsperspektive ist; ‚ökologische Gleichgewichte‘ beispielsweise sind – in evolutionären Zeiträumen betrachtet – ein eher flüchtiges Phänomen. Auch auf der semantischen Ebene stoßen wir auf Schwierigkeiten. Von verschiedenen Theoretikern ist auf die Mehrdeutigkeit des Naturbegriffs hingewiesen worden, so etwa von John Stuart Mill. Bereits ein gutes Jahrhundert zuvor hatte David Hume hervorgehoben, dass sich der Inhalt des Naturbegriffs in Abhängigkeit von dem jeweils vorschwebenden Gegenbegriff verändert: ‚Natur‘ bedeutet etwas anderes, wenn der Begriff als Gegensatz zu „Wunder“, als Gegensatz zu „what is unusual“ oder zu „what is artificial“ gebraucht wird. Weitere Gegenbegriffe lassen sich leicht finden, und jedes Mal ändert sich mit ihnen die Bedeutung von ‚Natur‘. Schließlich ist die Abgrenzung zwischen dem, was ‚natürlich‘ und dem, was ‚künstlich‘ ist, auch auf der ‚ontologischen‘ Ebene problematisch. Jacques Monod hat mit einfachen Überlegungen deutlich gemacht, dass man zwischen natürlichen und künstlichen Objekten auf der Basis ihrer Eigenschaften, insbesondere ihrer strukturellen oder funktionellen Merkmale, nicht unterscheiden kann. Nur wenn wir die Geschichte eines Objekts kennen, können wir es als entweder ‚natürlich‘ oder ‚künstlich‘ klassifizieren: Wir müssen wissen, ob es von Menschen hergestellt wurde oder nicht.
Man mag glauben, dass sich
diese Schwierigkeiten im Hinblick auf die menschliche
Natur ohne weiteres lösen lassen. Auf der semantischen Ebene werden wir uns
hier für ‚natürlich‘ als Gegenbegriff zu ‚künstlich‘ entscheiden und die
menschliche Natur mithin als die Gesamtheit der Eigenschaften definieren, die
dem Menschen ohne sein eigenes Zutun zukommen. Dass er eine Haut hat, ist ihm
demnach natürlich, Färbungen der Haut (durch Kosmetik oder Tätowierung) sind
demgegenüber künstlich; dass wir ein Herz haben, ist Teil unserer Natur, Herzschrittmacher
hingegen sind nicht natürlich. Mit einem Wort: die ‚Natur des Menschen‘ ist
identisch mit seinem Körper, d.h. mit
der äußeren Gestalt und dem inneren Funktionsgefüge der biologischen Art homo
sapiens. Nahe liegt diese Deutung aus mehreren Gründen:
Sie
entspricht unseren Intuitionen, da wir mit dem Begriff „Mensch“ ein
körperliches Wesen verbinden. Wenn wir uns fragen, was alle Menschen
miteinander verbindet, so kommt die Körperlichkeit viel eher in Frage als ihre
Denk- und Lebensweise, die sich historisch und kulturell sehr stark unterscheidet.
Der menschliche Körper ist Teil der Natur
insgesamt: historisch ist er das Produkt der Evolution; er unterliegt den
Naturgesetzen und ist im Hinblick auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse an
die äußere Natur gebunden.
Im vorliegenden Zusammenhang geht es um die
ethische Bewertung und Begrenzung biotechnologischer Handlungen; diese richten
sich unmittelbar auf den menschlichen Körper (selbst wenn sie - indirekt - auf
den Geist zielen).
Von dieser Bestimmung
ausgehend, erscheint dann auch die zweite Schwierigkeit leicht lösbar zu sein,
denn wir wissen ja, welche Veränderungen wir oder andere an uns vornehmen. Und
das heißt: Indem wir wissen, wie unser Körper ohne unser Zutun beschaffen ist,
kennen wir unsere ‚Natur‘.
Doch dieser letzte Punkt ist nicht so eindeutig, wie er erscheinen mag. Betrachten wir zunächst einzelne Individuen. Es bedarf keiner langen Überlegung um zu erkennen, dass die Existenz jedes einzelnen von ihnen natürlich nicht ‚ohne Zutun‘ von Menschen zustande kam; der Sexualverkehr ist eine menschliche Handlung, und ohne sie würde niemand von uns existieren. Wenn wir uns hinsichtlich der menschlichen Gattung insgesamt nicht auf einen zeitlich punktuellen Blick beschränken, sondern längere Entwicklungsphasen der Gattung ins Auge fassen, so stellen sich auch die Eigenschaften des Menschen als - zumindest teilweise - das Produkt menschlichen Handelns heraus. So ist die aktuelle Zusammensetzung des Genpools durch vielfältige Handlungen beeinflusst.
Hier kommt ein zentrales Problem der Unterscheidung zwischen dem ‚Natürlichen‘ und dem ‚Künstlichen‘ zum Ausdruck, das auch Monod nicht gesehen hatte. Wenn wir äußere Objekte aufgrund der Kenntnis ihrer Geschichte als entweder natürlich oder künstlich klassifizieren, so tun wir dies unter der Voraussetzung, dass wir den Menschen und sein Handeln nicht als Teil der Natur betrachten. Nur wenn wir zwischen Mensch und Natur strikt trennen, können wir sagen: ‚Was ohne menschliches Zutun geschieht, ist natürlich; was durch menschliches Zutun geschieht, ist künstlich!‘. Genau diese Trennung ist aber keineswegs zwingend; sie ergibt sich aus einer bestimmten Perspektive und verschwindet, wenn wir eine andere Perspektive einnehmen.
Aus der beschränkten Sicht eines bestimmten Individuums oder einer bestimmten Generation von Individuen stellt sich der menschliche Körper als ein vorgegebenes Faktum dar; er ist ‚Natur‘ im Sinne der klassischen natura naturata. Betrachten wir die Natur hingegen aus der Perspektive eines entfernten Beobachters, so erscheint die Natur als ein evolvierendes System und der Mensch als ein – in besonderem Maße aktiver - Teil dieses Systems; er wirkt mit seinem Handeln auf viele Elemente des Systems ein, darunter auch auf seinen eigenen Körper. Es gibt nun keinen Grund, die Veränderungen, die er an diesem Körper vornimmt, für weniger ‚natürlich‘ zu halten als die Veränderungen, die beispielsweise Vögel durch Nestbau an ihrer Umwelt bewirken. Geht man von einem solchen (‚holistischen‘) Bild der Natur als einem den Menschen einschließenden, sich historisch entwickelnden System aus, so legen wir das klassische Konzept von ‚Natur‘ als einer natura naturans zugrunde. Innerhalb dieses Konzepts macht die Unterscheidung zwischen ‚natürlich‘ und‚künstlich‘ offensichtlich keinerlei Sinn.
Diese Überlegung zeigt, dass die Unterscheidung zwischen ‚natürlich‘ und ‚künstlich‘ perspektivenabhängig ist. Darin liegt der entscheidende Grund für das notwendige Mißlingen jeder prinzipiellen und universellen Unterscheidung zwischen beiden.
Kritiker werden sagen, das
Argument beruhe auf einer Zweideutigkeit in den von mir verwandten Begriffen
„Zutun“, „Handeln“ bzw. „Produkt des Handelns“. Unbestreitbar sei jedes
Individuum das Produkt des (sexuellen) „Handelns“ seiner Eltern; aber nicht in
demselben Sinne wie ein Haus das Produkt des Handelns der Bauleute ist. Während
die Subjekte im letzteren Fall jede Etappe des Hausbaus durch ihr Handeln
einzeln
bewirken, geben sie im ersteren Fall lediglich den Anstoß zu einer Entwicklung,
die dann selbständig erfolgt: Das Wachstum eines Embryos zum Kind und zum
Erwachsenen ist kein „Herstellen“ und hängt nicht vom Willen und den Intentionen
der Eltern ab. Ähnlich verhalte es sich bei der Beeinflussung des Genpools.
Hier haben wir es zwar nicht mit einem organischen Wachstum zu tun, aber auch
hier wird das Resultat des Handelns nicht intentional herbeigeführt, sondern ergibt
sich aus Handlungen, mit denen die Akteure ganz andere Ziele verfolgt hatten.
Die Veränderungen des Genpool sind daher zwar anthropogen, aber doch in einem
bestimmten Sinne ‚natürlich‘: als Nebenfolgen ergeben sie sich nicht aus
menschlichen Intentionen, sondern auch aus kausalen Naturgesetzen.
Diese Replik unterstellt
einen eindeutigen Unterschied zwischen dem Herstellen oder Produzieren
(beispielsweise eines Hauses) einerseits und dem bloßem In-Gang-setzen eines
dann spontan weiterverlaufenden Prozesses. Tatsächlich aber haben wir es – einmal
mehr - mit einem bloß graduellen Unterschied zu tun: Auf der einen Seite stehen
Prozesse, die vom Menschen im Detail gesteuert werden können (und müssen, wenn
sie zum gewünschten Erfolg führen sollen); auf der anderen Seite Prozesse die
relativ ‚autonom‘ verlaufen, wenn sie einmal in Gang gebracht wurden. In
beiden Fällen haben wir es mit einer – graduell abgestuften – Mischung von
Elementen menschlicher Intention, Planung, Steuerung einerseits und
naturgesetzlichen, spontanen, autonomen Mechanismen andererseits zu tun. ‚Natürlich‘
und ‚künstlich‘ sind daher nicht durch eine Grenze voneinander geschieden, sondern
durch ein Spektrum miteinander verbunden.
Wichtiger ist der ein
zweiter Punkt. Die Replik reduziert das Begriffspaar ‚natürlich‘ - ‚künstlich‘
auf das Begriffspaar ‚spontan‘ - ‚intentional‘. Abgesehen davon, dass dies den
vieldeutigen, schillernden Charakter des Naturbegriffs noch einmal bestätigt,
ist diese Bedeutungsverschiebung nicht unplausibel. Mit ihr würde zumindest
ein Problem gelöst: Wir können auf dieser Basis die unbeabsichtigten Rückwirkungen, die das menschliche
Handeln auf
die menschliche Natur hat, als ‚Natur‘ oder ‚natürlich‘ ansehen und das
Prädikat ‚künstlich‘ auf solche Veränderungen beschränken, die Menschen
intentional an ihrer Natur vornehmen. Die Veränderungen am menschlichen Genpool
etwa, die sich als Nebeneffekte aus sozialen Institutionen ergeben, würden dann
an der ‚Natürlichkeit‘ des Genpools nichts ändern, wohl aber etwaige gezielte
Eingriffe in die Keimbahn. Doch dieser Gewinn reicht nicht sehr weit.
In grober Vereinfachung
können wir zwei verschiedene Arten von Eigenschaften oder Fähigkeiten des
Menschen unterscheiden. Die einen sind solche, die er mit anderen Teilen der
Natur oder mit anderen lebenden Wesen gemeinsam hat; die anderen sind diejenigen
Eigenschaften und Fähigkeiten, die nur ihm zu eigen sind und die ihn daher als ein
spezifisches Wesen auszeichnen. Zu diesen letzteren rechnet man gewöhnlich vor
allem seine Vernunft- und Sprachfähigkeit, sowie die sich daraus ergebenden
Fähigkeiten etwa zu intentionalem Handeln oder zur Übernahme von
Verantwortung. Gerade weil die zu dieser zweiten Gruppe von Fähigkeiten
insgesamt genommen dasjenige ausmachen, was den Menschen als ein spezifisches Wesen
auszeichnet, sind sie in der Geschichte der Philosophie oft mit den ‚menschlichen
Natur‘ identifiziert worden.
Um aber nicht in eine totale
begriffliche Verwirrung zu geraten, tun wir vielleicht gut daran, hier von
‚menschlichem Wesen‘ anstatt von
‚menschlicher Natur‘ zu sprechen. Sinnvoll ist diese Unterscheidung vor allem
deshalb, weil es mit ihrer Hilfe möglich wird, eine für den Menschen
charakteristische dialektische Spannung begrifflich zum Ausdruck zu bringen:
Einerseits ist der Mensch unauflöslich mit seinem Körper verbunden, andererseits
aber ist er mit seinem Körper nicht identisch, sondern unterscheidet sich von
ihm. Während wir vom Tier sagen können, dass es sein Körper ist, müssen wir vom Menschen sagen, dass
er einen Körper hat. Dies zeigt sich
daran, dass Menschen sich unter bestimmten Bedingungen von ihrem Körper distanzieren
können.
Auch lassen sich zahllose
Beispiele dafür finden, dass die menschliche Natur nicht nur die Bedingung
aller menschlichen Subjektivität ist, sondern auch ihre Grenze.
Wenn wir zwischen der
‚menschlichen Natur‘ einerseits und dem ‚menschlichen Wesen‘ (als Inbegriff
aller für den Menschen spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten) andererseits
unterscheiden, dann stehen wir vor der Frage nach dem Verhältnis beider zueinander:
Können oder sollen wir das ‚menschliche Wesen‘ als Teil seiner ‚Natur‘ ansehen
oder nicht. Zwei Möglichkeiten kommen in Betracht:
Wir trennen das ‚menschliche Wesen‘ von
seiner ‚Natur‘. In der Geschichte des philosophischen Denkens galten und gelten
Vernunft, Sprache und Moral als das, was den Menschen vom Tier und von der
Natur unterscheidet; und als solches können sie nicht ihrerseits ‚natürlich‘
sein. - Doch so sinnvoll diese Auffassung in mancher Hinsicht ist, so unangenehm sind ihre Konsequenzen in anderer
Hinsicht. Wir müssen dann sagen, dass vernünftiges Überlegen und Handeln oder
sprachliche Kommunikation ‚künstlich‘ bzw. ‚unnatürlich‘ sind; dies ist nicht
nur sprachlich irritierend, sondern auch sachlich problematisch. Daraus
ergibt sich die Versuchung, diese Eigenschaften und Fähigkeiten einer höheren,
transzendenten Welt zuzurechnen und ihre Verknüpfung mit der menschlichen
‚Natur‘ als eine Verunreinigung anzusehen, derer man sich möglichst entledigen
muss: Erst wenn wir uns vom Körper gelöst haben, werden wir mit unserem ‚Wesen‘
identisch. Es bedarf keines sonderlichen Scharfsinns, um zu erkennen, dass eine
solche Betrachtungsweise keine gute Basis dafür bietet, der menschlichen Natur
einen moralischen Status zuzubilligen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Der
anthropologische Dualismus, der dem philosophischen und religiösen Denken
Europas so gern vorgeworfen wird, hat in genau dieser Betrachtungsweise seinen
Ursprung.
Wir sehen das menschliche ‚Wesen‘ als Teil der menschlichen Natur an;
rationales Denken, intentionales Handeln und Moral sind dann gerade das, was
die spezifisch menschliche ‚Natur‘ ausmacht.
Die sich aus dem rationalen Denken und intentionalen Handeln ergebenden Resultate
wird man nun nicht als
‚unnatürlich‘ qualifizieren können; die Veränderungen, die Menschen sowohl an
der äußeren, als auch an ihrer eigenen Natur vornehmen, wären als Konsequenzen
eben seiner Natur anzusehen. Tatsächlich beobachten wir ja, dass Menschen
ihren Körper nicht unangetastet lassen, sondern ihn in vielfältiger Weise
bearbeiten, verändern und kultivieren. Ausschlaggebend dafür waren und sind
ästhetische Motive (Haare schneiden, Tätowieren), religiöse Gebote
(Beschneidung)
und medizinische Bedürfnisse (Medikamente, Amputationen). Daraus, dass solche
Eingriffe nicht als moralisch illegitim, sondern teilweise sogar als geboten galten
und gelten, lässt sich schließen, dass der menschliche Körper nicht nur als Natur, sondern stets auch als
Kultur wahrgenommen wird. Die
Unterscheidung zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ scheint im Hinblick auf den
Menschen und seinen Körper nicht nur pragmatisch schwierig festzulegen, sondern
grundsätzlich unklar zu sein.
Man muss im Ergebnis dieser Überlegungen nicht bestreiten, dass die Rede von einer „Natur des Menschen“ in mancher Hinsicht und unter bestimmten Bedingungen sinnvoll ist. Doch auf einer grundsätzlichen philosophischen Ebene ist sie irreführend: Es ist ein Charakteristikum der ‚Natur‘ des Menschen, dass er nicht nur (wie Tiere) einer evolutionären Veränderung unterliegt, sondern sich verändert; in diesem Sinne ist er „von Natur aus künstlich“.
Im folgenden werde ich jedoch unterstellen, wir hätten eine hinreichend genaue Bestimmung des Begriffs gefunden. Das Ziel ist damit aber noch nicht erreicht, geht es doch um die Frage, ob der menschlichen Natur ein normativer Status zugeschrieben werden kann (oder gar muss). Wir haben also zu fragen, mit welchen Argumenten ein solcher Status begründet werden kann.
Eine erste Möglichkeit
besteht darin, den normativen Status der menschlichen Natur aus ihrer engen
Verbindung mit der menschlichen Person herzuleiten. In diese Richtung geht die
Argumentation Immanuel Kants.
Daraus, dass der Körper nicht nur zufälligerweise zum menschlichen Leben
gehört, sondern seine conditio sine qua non ist; dass wir uns keinen Begriff
von einem Leben ohne Körper machen können; dass der Gebrauch der Freiheit nur
durch den Körper möglich ist; dass der Körper also ein Teil unserer selbst ist;
- daraus zog Kant den Schluss, dass unser Körper nicht unserer freien Willkür
unterworfen ist; er ist nicht unser Eigentum, und wir haben daher kein Recht,
über ihn zu disponieren. In ähnlicher Weise leitet auch Hegel den moralischen Status des menschlichen Körpers von seinem
untrennbaren Zusammenhang mit der menschlichen Person her. Der Wert der
menschlichen Natur ist hier ein indirekter oder abgeleiteter Wert, der sich aus zwei Annahmen ergibt: (a) die
menschliche Person hat inhärenten Wert; (b) die menschliche Person hat ihre
Basis in der menschlichen Natur.
In diese Richtung gehen auch
die Überlegungen von J. Habermas, wenn er in seinem neuen Buch Die Zukunft der menschlichen Natur auf
„das unscheinbare normative Zusammenspiel zwischen der moralisch gebotenen und
rechtlich garantierten Unantastbarkeit der Person und der Unverfügbarkeit des
naturwüchsigen Modus ihrer leiblichen Verkörperung” spricht (S. 41). Nicht die
menschliche Natur ‚an sich‘ ist es, die wir nach Habermas zu schützen haben;
ausdrücklich wendet er sich gegen ihre „Resakralisierung“; sondern die
menschliche Natur als Basis eines bestimmten Selbstverständnisses der menschlichen
Gattung insgesamt. Er befürchtet, dass genmanipulierte Individuen sich
gegenüber ihren Mitmenschen
Diese Überlegungen beruhen
erstens auf empirischen Annahmen über die Folgen von gentechnischen
Manipulationen,
die zutreffend sein können, aber nicht sein müssen. Es ist zumindest offen, ob
diese Folgen tatsächlich eintreten werden, und manches könnte gesagt werden,
das Zweifel daran weckt. Zweitens transponiert Habermas die Fragestellung von
der individuellen auf eine kollektive, von ihm „gattungsethisch“ genannte
Ebene. Dies ist auf der analytischen
Ebene durchaus plausibel, da es einem Wunder gleichkäme, wenn die Möglichkeit
einer genetischen Selbstveränderung der Menschheit ohne Auswirkungen auf das
kollektive Selbstverständnis hätte. Auf der normativen Ebene ist diese Verschiebung jedoch problematisch; denn
sie impliziert eine Unterordnung der konkreten Individuen und ihrer Wünsche und
Interessen unter abstrakte Ideen und Theorien, die überdies niemals von allen
Individuen gleichermaßen akzeptiert werden.
Welche Konsequenzen ergeben
sich, wenn wir der menschlichen Natur einen abgeleiteten moralischen Wert
zusprechen? Wir haben bei der Antwort auf diese Frage zwei verschiedene Fälle
zu beachten. Der erste betrifft die Manipulation der Natur anderer Personen. Es dürfte unstrittig sein, dass ein solcher
abgeleiteter Wert hinreichend ist, um die körperliche Integrität der
Individuen gegenüber Eingriffen anderer
zu schützen. „Meinem Körper von
anderen angetane Gewalt ist Mir
angetane Gewalt“, wie Hegel knapp und treffend sagt. Dies gilt nicht nur für direkte und intendierte Schädigungen,
sondern auch für Risiken, denen wir – beispielsweise durch medizinische oder biotechnologische
Interventionen – ausgesetzt sind. An derartige Interventionen beim Menschen
sind grundsätzlich höhere Anforderungen im Hinblick auf ihre Sicherheit zu
stellen als an andere Eingriffe in die Natur. Alle Manipulationen, die einem
Individuum einen Schaden zufügen oder dem Risiko eines solchen Schadens aussetzen,
sind daher unzulässig. Doch wie verhält es sich mit (künftig vielleicht
möglichen) Manipulationen, die risikofrei sind und dem manipulierten Individuum
keine solche Schäden zufügen? Zu denken ist dabei an ‚Verbesserungen‘ der
menschlichen Natur, beispielsweise durch Eingriffe in die Keimbahn. Da solche Eingriffe ohne den informed consent
der betroffenen Individuen durchgeführt werden müssen, sind sie nur dann
legitim, wenn sie im unzweifelhaften Interesse dieser Individuen erfolgen, so
dass mit ihrer späteren nachträglichen Zustimmung gerechnet werden kann. Die
einzigen Eingriffe, für die das mit Sicherheit angenommen werden kann, sind
solche mit therapeutischen (oder präventiven) Zielen. Das heißt aber: Sofern
durch die entsprechenden Eingriffe nicht die Autonomie der manipulierten
Individuen eingeschränkt oder gar unmöglich gemacht wird, würde ein
abgeleiteter Wert nicht gegen Veränderungen der menschlichen Natur sprechen.
Ein abgeleiteter Wert der menschlichen Natur würde den legitimen Spielraum eugenischer
Strategien drastisch einschränken, aber nicht alle eugenischen Strategien verbieten.
Der zweite Fall betrifft
Selbstmanipulationen von Individuen, d. h. Manipulationen der menschlichen Natur,
die mit Einwilligung oder im Auftrag der betreffenden Person durchgeführt
werden. Kant hatte es als selbstverständlich angenommen, dass niemand
berechtigt ist, mit seinem Körper nach Belieben zu verfahren. Heute sind wir im
Hinblick auf „Pflichten gegen sich selbst“ viel zurückhaltender. Möglicherweise
lässt sich mit dem (abgeleiteten) Wert der menschlichen Natur ein gewisser
Paternalismus im Hinblick auf risikoreiche medizinische Interventionen
rechtfertigen, vor allem dann, wenn die entsprechenden Risiken leichtfertig und
ohne hinreichende Aufklärung eingegangen werden. Ein solcher Paternalismus
müsste aber aus zwei Gründen eng begrenzt bleiben. Erstens wäre es widersprüchlich,
risikoreiches Verhalten allgemein
zuzulassen, aber dort einzuschränken, wo es im medizinischen Kontext erfolgt:
Wer seine Gesundheit und sein Leben durch Rauchen oder Motorradfahren auf
Spiel setzen darf, muss dies auch durch Operationen, Amputationen oder
Transplantationen tun dürfen. Der zweite
Grund ergibt sich daraus, dass wir der menschlichen Natur bisher nur einen abgeleiteten
Wert zugesprochen haben: Ihr Wert ergibt sich aus ihrer Verbindung mit der
betreffenden Person. Es wäre nun aber nicht konsistent, den Wert der
menschlichen Natur gegen genau jene
Person zu verteidigen, aus der sich dieser Wert überhaupt erst ergibt. Wenn
Personen in sich wertvoll sind, dann sind grundsätzlich auch die Bedürfnisse
und Wünsche dieser Personen wertvoll und zu respektieren. Der Körper ist Bedingung
sowohl des Lebens der Person, als
auch ihres guten Lebens. Bereits Aristoteles hatte darauf hingewiesen,
dass zu einem guten Leben nicht nur äußere Güter wie Nahrung oder Bekleidung
gehören, sondern auch verschiedene körperliche Güter wie Schönheit oder
Gesundheit. Tatsächlich wird die Qualität des individuellen Lebens zu einem
nicht unerheblichen Maße von Faktoren bestimmt, die direkt oder indirekt von
der natürlichen Konstitution des jeweiligen Individuums abhängen. Und daraus
ergibt sich, einerseits dass diese Konstitution für das jeweilige Subjekt eine
evaluative Dimension besitzt. Andererseits aber kann diese Konstitution, wie
wir oben gesehen haben, in nicht wenigen Situationen zur Ursache für Unzufriedenheit
und Unglück der Person werden. Für diese Situationen müssen wir es als legitim
ansehen, dass die betreffende Person, ihre Natur ihren Bedürfnissen und Wünschen
anzupassen versucht: Auch wenn dies aus einer Außenperspektive als
‚unvernünftig‘ erscheint. Wer heute durch Piercing oder Tätowierung sein Wohlbefinden
zu befördern sucht, wird dies in Zukunft vielleicht mit Trans- oder Implantationen
versuchen. Kurzum: Sofern aus dem abgeleiteten Wert der menschlichen Natur
überhaupt Restriktionen für das Handeln der betreffenden Person abgeleitet
werden können, dürfen diese nur sehr schwach sein.
Wer mit diesem Resultat
nicht zufrieden ist, wem es also gerade darum zu tun ist, starke Grenzen der
individuellen Verfügung über die eigene Natur zu errichten, der wird sich daher
nicht mit einem abgeleiteten Wert zufrieden geben, sondern einen inhärenten Wert der menschlichen Natur nachzuweisen suchen. Ein solcher Wert
wäre dadurch charakterisiert, dass er der menschlichen Natur ‚an sich‘, d.h.
unabhängig von der Wertschätzung der betreffenden Individuums, möglicherweise
sogar unabhängig von menschlicher Wertschätzung überhaupt, innewohnt. Es ist
klar, dass man mit der Behauptung eines solchen inhärenten Wertes eine
erhebliche Beweislast übernimmt: Nicht nur weil derartige Behauptungen immer begründungsbedürftig
sind; sondern vor allem auch, weil dieser Wert ja dazu dienen soll, die
Handlungsfreiheit der Individuen gegenüber ihrem eigenen Körper
einzuschränken.
Ich werde im Folgenden fünf mögliche Argumente zugunsten eines inhärenten
Wertes der menschlichen Natur unterscheiden und kurz diskutieren. Dabei sollten
diese fünf Argumente nicht als sich gegenseitig ausschließend angesehen werden;
in der Regel werden mehrere von ihnen miteinander gekoppelt.
(1) Das
religiöse
Argument. Eine erste Möglichkeit besteht darin, die menschliche Natur als
von Gott erschaffen anzusehen und ihren inhärenten Wert daraus abzuleiten. Man
kann dann auch von einer ‚Heiligkeit‘ der menschlichen Natur sprechen. – Dieses
Argument stößt auf mehrere Schwierigkeiten, von denen ich hier nur eine
erwähnen möchte. Es beruht auf Voraussetzungen, die in pluralistischen
Gesellschaften nicht allgemein anerkannt werden und kann daher zwar durchaus
das Fundament einer privaten oder einer Gruppenmoral bilden; es ist aber nicht
geeignet als Basis einer öffentlichen, allgemein verbindlichen Moral.
(2) Das
realistische
Argument. Man kann von einem inhärenten Wert der menschlichen Natur als
einer gegebenen Tatsache ausgehen, die keiner weiteren Begründung bedarf oder
fähig ist: Wer die menschliche Natur mit den richtigen Augen ‚sieht‘, wird
diesen Wert erkennen. – Aus der Geschichte des ethischen Denkens ist diese
Auffassung durchaus bekannt. Samuel
Clarke, Richard Price und Ralph Cudworth haben sie (allerdings
nicht speziell im Hinblick auf die menschliche Natur) im 17. und 18. Jahrhundert
vertreten, die britischen Intuitionisten und die deutschen Wertethiker im 20.
Jahrhundert. Wie Christine Koorsgaard gezeigt hat, liegt dieser Position der
Versuch zugrunde, den möglichen Regress des ethischen Fragens auf immer weitere
und immer ‚tiefere‘ Gründe „by fiat“ zu beenden: „Having discovered that he
needs an unconditional answer, the realist straightaway concludes that he has
found one.“ (Korsgaard, The Sources of
Normativity, S. 33). Mit einem Wort: Es handelt sich gar nicht um ein Argument, sondern lediglich um eine Behauptung.
(3) Das
intuitionistische
Argument. Da eine solche Behauptung nicht ausreicht, kann man sie durch den
Verweis auf weit verbreitete Intuitionen zu stützen versuchen. Die menschliche
Natur gilt im moralischen common sense nicht in der selben Weise als normativ
neutral wie die äußere Natur. Bestimmte körperliche Eigenschaften (vor allem
Gesundheit und Schönheit) werden von jeher als eigenständige Werte
angesehen. Das generelle Problem mit
Intuitionen ist, dass sie stark divergieren. Einige mögen die menschliche Natur
in ihrer gegenwärtigen Gestalt als geradezu ‚heilig‘ empfinden; andere
empfinden diese Ehrfurcht nicht und können von der Idee ihrer technischen Rekonstruktion
fasziniert sein und von „posthuman bodies“ träumen. Welche dieser Intuitionen
‚richtig‘ ist, kann nicht selbst wiederum auf der Basis von Intuitionen entschieden
werden. Es wird vielfach übersehen, dass die Intuition, dass Veränderungen der
menschlichen Natur legitim seien, keineswegs bloß dem szientistisch
deformierten und technokratisch verkrüppelten Bewusstsein einzelner
Wissenschaftler,
Ingenieure oder SF-Liebhaber entspringt, sondern auf eine lange Denktradition
zurückgeführt werden kann, nach der der Mensch geradezu verpflichtet ist, „an
sich zu arbeiten“ und sich zu vervollkommnen. In der Vergangenheit hat man dabei
natürlich nicht in erster Linie an technische Maßnahmen zur Vervollkommnung gedacht,
sondern an ideelle und verhaltensorientierte Maßnahmen (Askese, Zölibat,
Selbstbeherrschung, Lernen etc.). Dies lag aber vor allem daran, dass die
entsprechenden technischen Optionen nicht zur Verfügung standen; dies ist heute
jedoch der Fall. Man kann daher sowohl intuitiv, als auch unter Berufung auf
eine ehrwürdige Tradition des kulturellen, theologischen und philosophischen
Denkens die Auffassung vertreten, dass die Pflicht des Menschen bezüglich seiner
eigenen Natur dieselbe ist wie seine Pflicht bezüglich der Natur aller übrigen
Dinge, nämlich nicht, ihr zu folgen, sondern sie zu verbessern.” (Mill)
Darüber hinaus ist unklar,
ob die Intuition einen abgeleiteten oder einen inhärenten Wert begründet.
Vieles spricht für die erstere Variante; Gesundheit und Schönheit werden als
Werte angesehen, weil sie die Chancen auf ein gutes Leben der jeweiligen Person
erhöhen; so waren die körperlichen Güter auch von Aristoteles verstanden worden. - Aber selbst wenn wir
unterstellen, dass sich mit dem Verweis auf die intuitive Wertschätzung der
menschlichen Natur deren inhärenter Wert begründen ließe, wäre noch nicht viel
über die normative Kraft dieses Wertes ausgemacht. Der moralische common sense
hält die menschliche Natur zwar für wertvoll, aber keineswegs für sakrosankt
und unantastbar. Wir halten sehr tiefe Eingriffe in die menschliche Natur –
Amputationen, Herztransplantationen,
Gehirnchirurgie, Geschlechtsumwandlungen – für moralisch legitim, sofern sie
dazu dienen, menschliches Leiden zu vermindern. Das heißt: Auch dann, wenn wir
bereit sind, der menschlichen Natur einen (inhärenten?) Wert zuzubilligen, implizierte
dies durchaus nicht, dass dieser Wert der einzige
ist, den wir akzeptieren. Es gibt Situationen, in denen wir es für gerechtfertigt
halten, den Wert der Integrität der menschlichen Natur dem Wert der Leidensverminderung
unterzuordnen. Auch ein inhärenter Wert der menschlichen Natur würde daher
keine absolute Schranke legitimen medizinischen
Handelns begründen können, denn er könnte jederzeit durch andere Werte
übertrumpft werden.
(4) Das metaphysische Argument. Die Idee eines der Natur inhärenten Wertes ist keine neue Erfindung, sondern war in vielen vormodernen Weltbildern anerkannt; darunter auch in der antiken Philosophie. Nahezu alle neueren Konzepte einer Revalidierung der – sei es äußeren, sei es menschlichen – Natur orientieren sich am Vorbild der Antike. Diese war von der Idee eines Kosmos ausgegangen, d.h. der Vorstellung einer endlichen, geschlossenen und geordneten Welt, in der jeder Prozess sein vorbestimmtes Ziel und jedes Ding seinen vorbestimmten Ort hatte. In Platons spätem Dialog Timaios beispielsweise wird die ganze Welt als ein einziges und einheitliches lebendes Wesen betrachtet, das eine vernünftige Seele besitzt. In einem solchen Weltorganismus existieren die einzelnen Teile natürlich nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden ein funktionales, hierarchisches System. Der Begriff „Kosmos“ bezeichnet daher eine sinnhafte Ordnung, in der Tatsachen und Werte nicht strikt voneinander zu trennen waren: Jeder Teil hat einen Bezug auf das Ganze und insofern auch einen Wert. Das gilt auch für den Menschen. Wie jedes andere Wesen nimmt auch der Mensch einen bestimmten Platz im Kosmos ein, und aus diesem Platz ergibt sich das Ziel seines Lebens. Die in den verschiedenen antiken Ethiken entworfenen Modelle gelungenen menschlichen Lebens haben allesamt ihren Rückhalt in einer metaphysischen Anthropologie, die wiederum Teil einer Kosmologie war. In den ‚klassischen‘ Theorien von Platon und Aristoteles wird der Zusammenhang zwischen Kosmologie, Anthropologie und Ethik durch das berühmte ergon-Argument hergestellt, nach dem der Mensch ein gutes Leben nur führen kann, wenn er die für ihn spezifischen Potenzen – seine Rationalität – in bestmöglicher Weise realisiert und kultiviert. Die Einsicht, die der Mensch in seine eigene Natur (und ihren Platz in der Gesamtnatur) gewinnt, ist daher gleichbedeutend mit der Erkenntnis, wie man leben soll.
Von diesem Bild grenzt sich
die moderne Auffassung vom Menschen, wie sie sich seit der Renaissance
herausgebildet hat, scharf ab. Diese Auffassung besagt auf der kosmologischen
Ebene, dass die Natur kein geordneter Kosmos, sondern ein unendliches Aggregat
von Tatsachen und Prozessen ohne inhärenten Sinn ist; und auf der anthropologischen
Ebene, dass der Mensch in einem ethisch relevanten Sinne kein Teil dieser Natur
ist: Während alle übrigen Lebewesen durch äußere Tatsachen und innere Determinanten
in ihrem Verhalten festgelegt sind, ist der Mensch nicht fixiert. In Pico della Mirandolas
berühmter Rede
über die Würde des Menschen (1496) wird dies unmißverständlich zum Ausdruck
gebracht und nahezu die gesamte nachfolgende Anthropologie ist ihm darin
gefolgt. Auf dieser anthropologischen Grundlage haben sich nun verschiedene
Ideen und Ideale entwickelt, die als konstitutiv für das neuzeitliche Bewusstsein
angesehen werden können. Im Mittelpunkt steht dabei die Idee der Freiheit. Insofern der Mensch nicht von
Natur aus auf einen bestimmten Platz in der Welt oder auf einen bestimmte Lebensform
festgelegt ist, kann (und muss) er darüber selbst entscheiden. Der emphatische
Freiheitsbegriff der Neuzeit kommt in der Überzeugung zum Ausdruck, dass der
Mensch selbst darüber entscheiden kann, wer und was er ist. Dieser Gedanke
einer Selbstschöpfung des Menschen
bezieht sich auf zwei Ebenen:
(a) Zum einen auf die
individuelle Ebene. Nicht nur der Mensch im allgemeinen, sondern jedes
Individuum hat die grundsätzliche Möglichkeit verschiedenes aus sich zu machen.
Und diese Möglichkeit ist ein Wert – vielleicht der höchste überhaupt – und verdient
als solcher nicht nur Respekt, sondern Schutz.
(b) Zum anderen bezieht er
sich auf die Gattungsebene. Wenn der Mensch auch als Gattung etwas aus sich
machen kann, so heißt das: Er befindet sich (zumindest der Möglichkeit nach) in
einem Prozess des Fortschritts und der Vervollkommnung. Dies schließt ein, dass
der Mensch auch der Schöpfer seiner Moral ist. In einer Welt, in der dem
Menschen kein Platz und kein Plan vorgegebenen ist, kann und muss er sich die
moralischen Gesetze seines Handelns selbst geben. Es war bekanntlich Immanuel Kant, der diese Idee der
Autonomie zur Grundlage seiner Ethik gemacht
hat.
Die Schlüsselbegriffe der Moderne und ebenso die sich daraus ergebenden Konzepte von Individualität und Menschenwürde haben also ihre Basis in einem Verständnis von äußerer Natur als einem bloß faktischen, nicht sinn- und werthaft strukturierten Zusammenhang. Um es pointiert zu sagen: Ohne ein ‚materialistisches‘ Weltbild keine Freiheit, keine Selbsterzeugung, keine Autonomie, keine Individualität und keine Menschenwürde. Es ist schwer zu sehen, wie diese Ideen - nicht nur im Hinblick auf die technische Manipulation des menschlichen Körpers - aufrecht erhalten werden können, wenn die zugrundeliegende Naturkonzeption aufgegeben wird. Die Rückkehr zu einer starken Normativität der menschlichen Natur würde einschneidende Restriktionen des menschlichen Handlungsspielraums in allen Handlungsbereichen mit sich bringen. Wenn die obersten Lebensziele aus der Naturordnung abgelesen werden können, stehen sie nicht mehr für eine rationale Wahl zur Verfügung. Wer diesen objektiven Zielen nicht folgt, handelt irrational und (moralisch) falsch. Es bleibt dann nur noch die Wahl zwischen der einen richtigen Lebensweise und den vielen falschen Lebensweisen; eine Wahl zwischen verschiedenen richtigen Lebensweisen hätten wir nicht mehr. Das war auch die Auffassung von Platon gewesen (Pol. 445 und 544). Mit einem Wort: Ein starker Begriff von Freiheit und Individualität ist mit einem starken Begriff einer ‚Natur des Menschen‘ nicht vereinbar.
(5) Das
funktionalistische
Argument. Ein wichtiges Argument besteht in dem Hinweis, dass nur die
Anerkennung eines solchen inhärenten Wertes und der sich aus ihm ergebenden
kategorischen Handlungsbegrenzungen einen hinreichend sicheren Schutz für die
Integrität der menschlichen Person bietet. Werde diese Integrität immer wieder
als ein Problem der punktuellen Güterabwägung behandelt, so laufe dies auf ihre
Schritt um Schritt fortschreitende Aushöhlung hinaus; denn in jedem einzelnen
Fall ließen sich immer irgendwelche punktuell plausiblen Gründe dafür finden,
diesen oder jenen Teil der menschlichen Natur durch technische Mittel zu ersetzen
oder zu verbessern. Durch eine Reihe von – einzeln genommen – vertretbaren
Eingriffen ergebe sich am Ende ein Effekt, den möglicherweise niemand intendiert
habe: Die Abschaffung der menschlichen Natur.
Die diesem Argument
zugrundeliegende Beschreibung könnte sich auf lange Sicht als empirisch
durchaus zutreffend erweisen. Doch ist es als ein ethisches Argument deshalb
bereits valide? Erstens fällt auf, dass dieses Argument voraussetzt, was es beweisen will: Dass diese Abschaffung der
menschlichen Natur moralisch falsch ist. Nur wenn man einen inhärenten Wert
dieser Natur bereits anerkannt hat oder intuitiv unterstellt, wird man zu einem
moralisch negativen Urteil über die schrittweise Ersetzung von Natur durch
Technik kommen. Dies sollte schon reichen, um das Argument als invalide zu erkennen.
Hinzu kommt aber noch zweitens, dass dieses Argument einen merkwürdigen Schluss
vom Sollen auf das Sein enthält. Daraus, dass die Integrität der menschlichen Natur
erhalten bleiben soll, wird
geschlossen, dass sie einen inhärenten Wert hat.
Hier wird der naturalistische Fehlschluss rückwärts gezogen.
Solche moralischen Grenzen
ergeben sich allerdings dort, wo die Natur anderer Menschen manipuliert wird. Dies ist bei allen Arten technischer Eingriffe in
die menschliche Fortpflanzung unausweichlich der Fall. Das moralische Problem besteht
hier aber nicht darin, dass die ‚Natur‘ dieser künftigen Menschen verändert
wird, sondern dass diese Veränderungen mit ihrer Autonomie schwer vereinbar sind. Die Idee einer Selbstveränderung
der Menschheit auf genetischem Wege stößt daher auf viel engere moralische Grenzen
als etwa die Erzeugung von Mensch-Maschine-Hybriden (sofern diese Erzeugung dem
autonomen Wunsch einer kompetenten Person entspricht).
Kurt Bayertz ist Professor für Philosophie an der Universität Münster.