Was zeichnet Nazi-Philosopen aus?

Der Nationalsozialismus war der Philosophie gegenüber im wesentlichen indifferent. Niemanden haben seine philosophische Lehrmeinungen ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager gebracht. Das unterscheiden det Nationalsozialismus vom anderen blutigen Totalitarismus unseres Jahrhunderts, dem Stalinismus. Wie der Konstanzer Philosoph Gereon Wolters in seinem Artikel

Wolters, Gereon: Der "Führer" und seine Denker. Zur Philosophie des Dritten Reiches, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 2/1999

darlegt, hat es eine nationalsozialistische Philosophie im Sinne grundlegender philosophischer Vorgaben nicht gegeben. Auch in Hitlers Mein Kampf findet man keine im traditionellen Sinne philosophischen Positionen. Hitlers Weltanschauung besteht Wolters zufolge im Wesentlichen aus drei Basisüberzeugungen und daraus abgeleiteten Imperativen:

die erste drückt eine Reduktion von Individuation auf Ethnizität aus. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk bzw. einer bestimmten "Rasse" wird zur zentralen Dimension der Identität einer Person;

die zweite drückt die nicht weiter begründete Annahme aus, die arische sei die kulturell wertvollste und damit überlegenste Rasse, und diese habe im deutschen Volk ihren Kulminationspunkt gefunden;

die dritte besteht im Verständnis der Weltgeschichte als eines auf Vernichtung bzw. Versklavung zielenden Kampfes der Rassen gegeneinander um Lebensraum.

Aus diesen Basisüberzeugungen leitet Hitler drei Imperative ab: Erstens eine Verpflichtung der Deutschen zur Reinhaltung der Rasse, da eine Rassenmischung einen biologisch-kulturellen Qualitätsverlust darstelle; zweitens den Kampf gegen Marxismus und Sozialdemokratie, und drittens ist für den Deutschen Antiparlamentarismus geboten. Der Kommunismus widerspricht Hitler zufolge einem angeblichen "aristokratischen Prinzip der Natur".

Dies macht klar, dass der Nationalsozialismus bereits über ein eigenständiges Werte- und Orientierungssystem verfügte, das nicht der traditionellen Philosophie entnommen war. Dem widerspricht auch nicht, dass mit Alfred Rosenbergs Der Mythos des 20. Jahrhunderts eine Art philosophische Ausarbeitung der Hitlerschen Weltanschauung vorlag und dass sich Rosenberg selbst auf Grund dieser Affinität und seiner Beziehung zur Partei als genuin philosophischer Interpret des Nationalsozialismus verstand. Rosenbergs Position wurde noch gestärkt, als Hitler ihn 1934 zum "Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung der NSDAP" ernannte. Freilich bildete diese Hervorhebung kein Monopol. Rosenberg und sein Amt bildeten nur einen, wenn auch wichtigen der miteinander konkurrierenden intellektuellen Machtpole des "Dritten Reiches".

Unmittelbar nach der Machtergreifung setzte ein Gerangel darum ein, wer mit welchen Ideen dazu bestimmt war, die gewissermaßen authentische und offizielle Philosophie des Regimes, den offiziellen philosophischen Diskurs, zu repräsentieren. Typisch dafür ist der Satz des Naziphilosophen Alfred Bäumler: "Ich hielt die nähere Bestimmung des geistigen Gehaltes des Nationalsozialismus für eine Aufgabe der besten Geister der Nation". Freilich hatten manche von denen, die zu des Führers Denker zu avancieren dachten, übersehen, dass dieser ein ausgesprochener Intellektuellen- und Professorenverächter war. Dazu gehörte vor allem auch Martin Heidegger, der nach einem Wort von Karl Jaspers "den Führer führen" wollte. Zu nennen ist aber auch der Bonner Erich Rothacker, später Lehrer von K.-O. Apel und J. Habermas, sowie der eigenwillige Wissenschaftsphilosoph Hugo Dingler.

Wolters zeigt sich erstaunt darüber, wie wenig die Philosophie in der Zeit des Nationalsozialismus bislang erforscht worden ist. Allerdings: wer noch vor zwanzig Jahren in der Philosophie in diese Richtung recherchieren wollte, wurde schnell unter Druck gesetzt. Man kann sich dies heute, da die meisten Betroffenen gestorben sind, kaum noch vorstellen.

Wolters empfiehlt eine Dreiteilung der Denker im Reich des Führers, eine Unterteilung in "Nazis", "Opportunisten" und "Aufrechte". Falsch wäre es allerdings, alle Mitglieder der NSDAP als Nazi-Philosophen zu kennzeichnen, denn nicht alle von ihnen können als des Führers Denker gelten. Von Parteigenossen wie Heinz Heimsoeth, Gottfried Martin, Joachim Ritter oder Vinzenz Rüfner gibt es, wenn überhaupt, nur unbedeutende Beiträge zu einer Naziphilosophie. Andererseits muss nach Wolters der Husserl-Schüler Oskar Becker zu den Naziphilosophen gezählt werden, obwohl er auf der Liste der Parteigenossen fehlt. Wolters schlägt deshalb zwei andere Kriterien vor, die einen Philosophen als Nazi-Philosophen kennzeichnen: 1.) Politische Aktivität (und nicht bloße Mitgliedschaft) in wichtigen Nazi-Organisationen bzw. parteikonforme Aktivität in Regierungs- und Verwaltungsstellen, 2.) Publikationen oder sonstige Äußerungen, die sich als Beiträge zur Naziphilosophie verstehen lassen. Danach gehören, um nur einige der Prominentesten zu nennen, Alfred Bäumler, Oskar Becker, Arnold Gehlen, Martin Heidegger, Ernst Krieck, Erich Rothacker und - zumindest zeitweise - Helmut Schelski zu den Naziphilosophen.

"Aufrechte" sind dagegen solche, denen es gelang, ihre Diskurse gegen den Diskurs des Führers oder verwandte, offiziell anerkannte Diskurse abzuschirmen, die also in keiner Weise bereit waren, mitzumachen. Diese Gruppe ist nicht groß. Sie reicht von dem Sozialdemokraten Ernst von Aster in Gießen, der gleich 1933 entlassen wurde, und Theodor Litt in Leipzig, der sich 1937 emeritieren ließ, über den Katholiken und Pazifisten Aloys Wenzl zu dem ebenfalls katholischen Hans Pfeil in Würzburg. In Wien nennt Wolters den logischen Empiristen Viktor Kraft, in Münster Heinrich Scholz, der als Theologieordinarius zur mathematischen Logik übergewechselt war. In Heidelberg war Karl Jaspers ein Mann ohne Kompromisse. Zur Gruppe der Aufrechten zählt Wolters aber auch nicht-jüdische Emigranten wie den 1997 in Princeton verstorbenen Carl Gustav Hempel. Und ein einziger Philosoph hat seinen Widerstand mit dem Leben bezahlt: Kurt Huber, der Spiritus rector der Münchener studentischen Widerstandsgruppe "Weiße Rose".

Die "Opportunisten" bildeten zweifellos die größte Gruppe. Sie schlossen wegen bestimmter Vorteile gegen ihre wirklichen Überzeugungen Kompromisse mit dem Regime. Als Paradebeispiel dafür kann Hans-Georg Gadamer gelten.

Wolters untersucht in seinem Beitrag den Fall von Oskar Becker näher. 1935 umfassen dessen Arbeitsgebiete "Philosophie und Geschichte der Mathematik". 1940/41 nennt er "Philosophie, logische Grundlagen und Geschichte der Mathematik" sowie "Rassenseelenkunde" als seine Forschungsthemen. Dazu führt er als Veröffentlichung "Nordische Metaphysik (Rasse 5/3)" auf. Zugleich nennt er aber auch den Aufsatz "Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers (Husserl-Festschrift, Erg. Bd. zu HussJb)". Ohne Not wird hier gleich zweimal der Name des jüdischen Lehrers genannt, dem sein Professorentitel aberkannt worden war. Was aber steht in der Nordischen Metaphysik? Man liest dort, dass "die nordische Metaphysik keineswegs Deutung, sondern selbständiger, leibhafter Ausdruck nordischer Welthabe" sei. Und welche Kennzeichen besitzt sie?

"Keine anderen als die entscheidenden Züge der nordischen Seele selbst! Unendliche Blicktiefe, Ausgriff ins endlos Weite und unergründliche Tiefe. Verabscheuung der platten und glatten Übersichtlichkeit endlich vor uns liegender Gestaltung, Misstrauen gegen die ‘endgültig erledigten Fragen’. Liebe zum freien Luftraum, dem abgestuften Blau der Ferne, zu Sturm und Sturmflut.....".

Weiter heißt es:

"In allen Zuständen der ‘Mischung’ rafft sich die bedrohte nordische Rasse auf und schäumt der Woge gleich ‘am harten Fels des Schicksals’ hoch empor. Das geschieht gleichermaßen, ob Rassen oder geistige Einflüsse (aus der Umwelt) sich mischen; ob das Gift, das den lebenden Volkskörper zur Erzeugung eines Gegengifts in seinem Innern zwingt, artfremdes Blut oder artfremder Geist ist."

Der Text endet so:

"Der heldenhafte Versuch der letzten Germanen von heute, sich dawesend in letzter Stunde zu bewahren und als Volk zu verjüngen, ihr Schicksal, unser Schicksal, noch einmal zu wenden - der nordische Gedanke als geistige Bewegung und politische Macht - das ist eine Weise des unentstiegenen Wesens der nordischen Rasse selbst".

Wolters sieht darin eine metaphysisch inspirierte Zustimmung zu den Nürnberger Gesetzen und der daraus resultierenden Verfolgung der Juden in Deutschland. Deswegen habe Becker als authentischer Nazi-Philosoph zu gelten. Gadamer hat das nicht so gesehen. In den Philosophischen Lehrjahren urteilt er über Beckers Lehrverbot nach dem Krieg: "Aber ohne Zweifel verdient er das Lehrverbot nicht, und seine spätere Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit in Bonn, zu der ich mithelfen konnte, indem ich ihn an die erste Stelle der Berufungsliste für die andere Heidelberger Professur brachte, bildete später ein wichtiges Moment in der Heranbildung einer neuen philosophischen Generation." Demgegenüber kann man Löwiths 1940 geschriebenem Bericht Mein Leben vor und nach 1933 entnehmen, dass sich Becker sogar seinen jüdischen Freunden gegenüber als Nazi geoutet hat. So habe sich Löwith ihm gegenüber geäußert, es lasse sich nicht vermeiden, dass bei einem solchen Umschwung "Porzellan zerschlagen werde", wobei mit Porzellan die deutschen Juden gemeint waren. Er, Becker, habe persönlich keinen besonderen Hass gegen die Juden, halte sie aber für eine "objektive Gefahr", und es sei nötig gewesen, den "ungeheuren Einfluß des Judentums in der deutschen Kultur zu beseitigen".

Wolters fragt sich, ob es philosophische Konzeptionen gab bzw. gibt, die eher verhinderten, dass Philosophen Naziphilosophen wurden, und er findet auch welche. Je geringer das Streben nach Intersubjektivität und Objektivität, desto leichter ist die Ausbeutung einer Philosophie in einem totalitären Sinne. So findet man etwa unter den Logischen Empiristen keinen einzigen Nazi-Philosophen oder Stalinisten. Einen Schutz gegen den Nationalsozialismus boten aber auch konkurrierende Weltanschauungen mit einem totalitären Anspruch, insbesondere der Marxismus. Und auch die katholische Weltanschauung mit vielen, wenn auch nicht allen, dezidiert katholischen Philosophen war gegen den Nationalsozialismus mehr oder weniger immunisiert.

Weiter bot die Philosophie Kants mit dem kategorischen Imperativ einen Schutz gegen nationalsozialistische Gedanken. So fragte Hans Jonas 1945 seinen Lehrer, den bekannten Kantianer Julius Ebbinghaus, der sich nie von den Nationalsozialisten vereinnahmen ließ, wie er das geschafft habe. Dessen Antwort: "Aber wissen Sie, Jonas, ohne Kant hätte ich es nie gekonnt." Und Kurt Huber führte in seinem Schlusswort vor dem Volksgerichtshof u.a. aus: "Ich habe mich im Sinne von Kants kategorischem Imperativ gefragt, was geschähe, wenn diese subjektive Maxime meines Handelns allgemeines Gesetz würde."

[Widerruf]

Autor

Peter Moser, Redakteur "Information Philosophie", Mitherausgeber "Information Philosophie im Internet"