Philosophie der Religion oder religiöse Philosophie?

 

 Philosophie der Religion und in gewissem Sinne auch religiöse Philosophie gibt es offenkundig, jene als etablierte Disziplin, diese wenigstens in der Grauzone zwischen strenger Wissenschaft und Weltanschauung. Fraglich kann nicht die Tatsache sein, sondern nur das Recht der einen und der anderen. Die Rechtsfrage berührt beide. Philosophie der Religion ist von der Rechtsfrage aus verschiedenen Gründen betroffen: Agnostische Vertreter des Faches, in das man sie einordnet, bestreiten ihre Zugehörigkeit zu philosophischen Disziplinen, kirchliche Theologie mag sie aus Sorge um die Reinheit der Lehre beargwöhnen, philosophische Theologie Ansprüche auf den ihr eingeräumten Platz anmelden. Tiefer jedoch erschüttert die Rechtsfrage religiöse Philosophie. Trifft zu, dass sie ihr Unwesen in der Grauzone zwischen Wissenschaft und Weltanschauung treibt, dann unterhöhlt der Zweifel an ihrer Legitimität auch ihre Existenz. Dies ist eines der Motive dafür, dass ich vornehmlich nach der Möglichkeit religiöser Philosophie fragen möchte. Mich interessiert, ob sie aus dem Dunstkreis weltanschaulichen Geredes treten kann.

 Ein anderes Motiv, den Schwerpunkt auf sie zu setzen, ist persönlicher Art. Im Rückblick stellen sich mir frühere Denkversuche als Beiträge zu einer religiösen Philosophie dar. Zurückblickend fällt mir allerdings ebenso auf, dass sie ihr Ziel nur instinktiv verfolgen. Ich erhoffe mir deshalb Klarheit darüber, worauf ich mich einlassen würde, wenn ich auf dem eingeschlagenen Wege weiterginge.

 Die Option für das zweite Glied der im Titel aufgestellten Alternative nötigt zum Verzicht darauf, das erste auszubuchstabieren. Es scheint ökonomisch sinnvoll, sich auf die vorherrschende Art von Philosophie der Religion zu beschränken und auch sie nur als Folie für die mit ihr konkurrierende zu verwenden. Ein solcher Umgang mit ihr setzt ihre kritische Einschätzung voraus. Von der Kritik an ihr kann sich aber dieser Text entlasten. Denn schon die seit Anfang des 19. Jahrhunderts an der Religion geübte Kritik galt zugleich ihr. Aus der beim frühen Schleiermacher noch beiläufigen, bei Feuerbach ins Zentrum rückenden Religionskritik braucht hier nur herausgeschält zu werden, was Religionsphilosophie sich zurechnen muss. Im Kern stellen sich drei Probleme.

 Das erste Problem steckt im Anspruch einer Philosophie der Religion. Schleiermacher hat es aufgedeckt, aber auch wieder zugedeckt. Die Meinung, von der Religion reden zu dürfen, weil im Grunde nur eine einzige existiere, durchschaut er als eitles Wunschdenken, und die Selbstrechtfertigung dieser Art zu reden durch Rückführung aller positiven Religionen auf eine natürliche entlarvt er als Flucht in die Abstraktion. Zur Lösung des Problems verhilft ihm freilich nicht, dass er die positiven Religionen platonisierend zu Erscheinungen einer in ihnen sich darstellenden Idee erklärt. Schwerlich scheint ja in vortheistischen und theistischen, in Pantheismus, Polytheismus und Monotheismus eine und dieselbe Idee durch.

 Ist das Problem im ersten Punkt ein Widerspruch von Einheit und Vielheit, so im zweiten, dem seit Ende der Hegel-Ära meistdiskutierten Punkt ein Widerspruch von Transzendenz und Immanenz, von Religion als Gabe und Religion als Gemächte. Dass Religion vom Menschen gemacht sei, ist die Grundannahme, in der alle Vertreter ihrer    atheistischen Kritik übereinstimmen. Die Aussage Feuerbachs, Religion bete den Menschen an, kehrt bei Marx in Form des Satzes wieder: „Der Mensch macht die Religion“. Die Aussage bleibt aber auch für die theistische Religionskritik gültig. Weil menschliche Religion als solche von Gott „eigensinnig und ohnmächtig“ ein Bild entwirft, ist sie in den Augen Karl Barths „Unglaube“, „eine Angelegenheit, man muss geradezu sagen: die Angelegenheit des gottlosen Menschen“. Philosophie der Religion hat daran gerade deshalb ihren Anteil, weil sie den in der Sache selbst aufbrechenden Widerspruch von Gabe und Gemächte verschleiert, nicht anders als den von Einheit und Vielheit.

 Als Negativfolie bietet sie sich vor allem wegen eines dritten Widerspruchs an. Martin Buber stützt seine These, die „Urgefahr des Menschen“ sei die Religion, auf die Beobachtung, dass sie den Gottesdienst auf das „sakrale Gebiet“ beschränkt. In einen Widerspruch verstrickt sie sich damit insofern, als der Dienst an einem Gott, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, herabgesetzt zu einem regionalisierten Geschäft, nicht sein kann, was er ist. Eine Religionsphilosophie, die zu einer Disziplin neben anderen gerät, reproduziert den praktischen Widerspruch eines ins Sakrale abgeschobenen Gottesdienstes in der Theorie. Und auch dann, wenn man den Gottesdienst anders auffassen wollte als Buber, bliebe der Widerspruch als einer der Religion selbst bestehen. Beansprucht doch Religion eine Absolutheit, welche die Partikularität alles regional Eingeschränkten ausschließt.

 Von hier aus kommt die anvisierte Alternative in den Blick. Religiöse Philosophie durchdringt die Philosophie im Ganzen. Wie dies möglich sein soll, ist eine Frage, für die wir noch nicht gerüstet sind. Wir können uns aber auf sie vorbereiten, indem wir das größere Ganze ins Auge fassen, zu dem Philosophie vielleicht noch ursprünglicher gehört als zum Verband der Wissenschaften. Wie mit Religion, so berührt Philosophie sich mit Kunst. Nun sehen wir in allen Kunstgattungen religiöse Gestalten: bildende Kunst religiösen Ursprungs, religiöse Musik und religiöse Dichtung. Schon diese Tatsache lässt erwarten, dass auch Philosophie zu einer religiösen werden kann, ohne sich wie die in der Grauzone zwischen Wissenschaft und Weltanschauung angesiedelte zu verlieren. Als Äußerung des Geistes im Medium der Sprache würde sie sich dann besonders eng an die religiöse Sprachkunst, die Dichtung, anschließen.

 Auf das sie und die religiöse Dichtung Übergreifende leitet eine Bemerkung Goethes. Für Goethe war der von religiösem Gefühl durchdrungene Barockdichter Johann Christian Günther trotz chaotischer Züge ein Dichter im Vollsinn. Habe er doch vermocht, durch Poesie im alltäglichen Leben ein zweites Leben hervorzubringen. Hölderlin begreift das zweite, potenzierte Leben in seinem Brief über Religion als ein sich über die Notdurft erhebendes, welches „das wirkliche Leben … im Geist wiederholt“. Auf die Hervorbringung eines das wirkliche Leben wiederholenden Lebens zielt auch religiöse Philosophie. Und eben vermöge ihrer Ausrichtung darauf durchdringt sie die Philosophie im Ganzen. Diejenige Philosophie, die überhaupt dazu disponiert ist, eine religiöse zu werden, wiederholt das wirkliche Leben von Anfang an, weil sie die Erinnerung, zu der Hölderlin die Wiederholung fortbestimmt, schon in Form einer Metaphysik stiftet, die nach Hegel die Bewegung des Er-Innerns ist, ein Weg in das Innere des Seins.

 Jetzt wird es aber Zeit, ein Wort über die Religiosität zu sagen, in der die spezifische Differenz religiöser Philosophie zu suchen ist. Wir dürfen voraussetzen, dass sie nicht umstandslos mit der zusammenfällt, von der man gewöhnlich redet. Wie aber verhält sie sich zu unserem Vorurteil über sie? Vor allem: wodurch hebt religiöse Philosophie sich gegen eine nicht religiöse ab? Auf welche Weise schließlich ist ihre Religiosität gegen die der Kunst und speziell der Dichtung abzugrenzen? Es scheint ratsam, zunächst einen Vorbegriff von Religiosität überhaupt zu umreißen und erst in einem zweiten Gang nach der eigentümlich philosophischen zu fahnden.

Der Entwurf eines Vorbegriffs von Religiosität überhaupt kann an das eingangs Gesagte anknüpfen. Hält man sich an landläufige Vorstellungen von Religiosität, so scheint man in Umkehrung des angewendeten Verfahrens statt der vorherrschenden Philosophie der Religion die religiöse zur Negativfolie machen zu müssen. In diesen Vorstellungen finden wir nämlich nur Vages. Religiosität verdankt eine gewisse Konjunktur eben dieser Vagheit. Religion dagegen ist stets bestimmt. Darum dünkt sich der im populären Sinne Religiöse über sie erheben zu dürfen. Oder er fühlt sich in die einer fremden Kultur ein, die fern genug ist, um ins Unbestimmte zu verschwimmen.

Indes ist die Vagheit unverbindlicher Religiosität nur die Verfallsform einer Weite, die es letztlich auch religiöser Philosophie ermöglicht, ein Ganzes zu durchdringen. Auf die Schrift hin, in der Freud Religion als Illusion behandelt, sprach ihm jemand – nach dem Urteil des Psychoanalytikers einer jener ausgezeichneten Männer, die nur von einer Minderheit anerkannt werden – sein Bedauern darüber aus, dass die Schrift nicht die „Quelle“ der Religion würdige, die Religiosität, die „ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, ‚Ozeanischem’“ sei. Solch ein Gefühl sollte nicht dem Verdikt über die alle Bestimmtheit scheuende Religiosität verfallen. Es verschafft uns Zugang zur Unendlichkeit Gottes. Auch die     Idee, die Schleiermacher aus der Mannigfaltigkeit vorhandener Religionen herausschauen wollte, ist im Grunde der entgegenständlichte Gegenstand einer sich der Unendlichkeit Gottes versichernden Religiosität. Sie kennzeichnet Schleiermacher so, dass sie „alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen“ hinnimmt. Nur delegiert er dessen Hinnahme ans Anschauen, an ein „Anschauen des Universums“.

 Allein, auch die Religiosität des Gefühls und der Anschauung ist noch nicht die gesuchte, die einer religiösen Philosophie. Näher an sie führt der Ansatz Wittgensteins bei Überzeugungen heran. Überzeugungen eröffnen eine Aussicht auf Philosophie, weil sie, so der Sprachanalytiker, ein Fall von Denken oder Wissen sind. Als beliefs bringen sie zugleich Religiosität in den Blick; von etwas überzeugt sein heißt: daran glauben. Ähnlich wie in der deutschen Tradition Jacobi geht Wittgenstein auf religiösen Glauben von einem präreligiösen her zu, dem Meinen dass p. Über bloße Meinungen reichen Überzeugungen aber dadurch hinaus, dass wir uns ihrer vergewissern können. Überzeugungen, die Gewissheit erlangt haben, lassen bloße Meinungen hinter sich, weil sie der Rechtfertigung, deren alle Meinungen ermangeln, nicht bedürfen.

 Die Griechen hätten Überzeugungen der Doxa zugerechnet. Auch in religiösen Überzeugungen steckt ein doxisches Element. Christliche Dogmatik gebietet für wahr zu halten, dass ein Gott da ist oder dass uns das Jüngste Gericht bevorsteht. Doch überführt die Praxis des Christen das Glauben im Sinne des Für-wahr-Haltens in ein Glauben anderer Art, ein Vertrauen. Die griechische Sprache hat auch für diese Art von Glauben ein eigenes, dem Neuen Testament vermachtes Wort: Pistis. Wittgenstein kennt zwar nicht das Wort, aber die Sache, wenn auch in abgewandelter Gestalt. Pistis ist für ihn nicht so sehr das Vertrauen als Selbstverpflichtung. Mit dem Glauben ans Dasein Gottes oder an ein letztes Gericht verpflichten wir uns auf ein Leben, das sich dem göttlichen Blick und Urteil aussetzt. Wittgensteins Pistis-Glaube ist des näheren Selbstverpflichtung auf „eine Lebensform“. Wiewohl nicht ausdrücklich auf eine eigene Lebensform zurückgeführt, empfangen doch religiöse Überzeugungen nach seinem Verständnis ihren Sinn aus der Stellung, die sie „in einer Lebensform einnehmen“.

 Wittgenstein trägt mit dieser Einsicht Wesentliches zur Aufklärung von Religiosität bei. Allerdings bringt er sie um ihre Früchte, indem er aus ihr folgert, dass religiöse Überzeugungen sich auf keine außer uns gegebene Wirklichkeit beziehen, weder auf eine empirische noch auf eine transzendente. Damit gefährdet er seinen eigenen Ansatz. Was lediglich eine Überformung der Doxa durch Pistis sein sollte, läuft auf ihre Preisgabe hinaus. Denn abzusehen von Wirklichkeit, ist unvereinbar mit doxischem Glauben. Heißt doch ‚meinen, dass p’: glauben, dass p existiert oder sich so und so verhält. Der Ausschluss von Wirklichkeit widerspricht sogar dem Begriff des Glaubens als Pistis. Sicherlich verpflichtet eine religiöse Überzeugung zu einem ihr gemäßen Leben. Aber dazu,   eine solche Verpflichtung einzugehen, bewegt den Religiösen das, wovon er überzeugt ist, die Wirklichkeit, der er sich anvertraut.

 Der Widerspruch, in den Wittgenstein mit sich selbst gerät, reicht noch über seine Analyse religiöser Überzeugungen hinaus. Ein oft zitierter Satz aus seinen Philosophischen Untersuchungen lautet: „Das Hinzunehmende, Gegebene – könnte man sagen – seien Lebensformen“, also alle Lebensformen, nicht nur die religiös getönten. Die Hinnahme aller Lebensformen als letzte Gegebenheiten ist die Kehrseite des Absehens von jeder empirischen oder transzendenten Wirklichkeit. Vor Wittgensteins eigener Erkenntnis, dass Lebensformen durch „bestimmte Erfahrungen“ entstehen, enthüllt sie sich aber als Reflexionsabbruch. Über diese Erfahrungen wäre zurückzugehen auf die in ihnen sich erschließende Wirklichkeit. Nur sie könnte, wenn überhaupt etwas, das Letztgegebene sein. Dass Wittgenstein sich dem Rückgang auf sie verweigert, ist einem defizitären Philosophiebegriff anzulasten, der Reduktion philosophischen Denkens auf eine therapeutische Praxis, welche die begrifflichen Verwirrungen auflösen soll, denen philosophische Probleme ihre Existenz verdanken. Wie diese Formulierung zeigt, bringt die Therapie mit den Verwirrungen auch die philosophischen Probleme selber zum Verschwinden. Kann eine bei Lebensformen stehen bleibende Sprachanalyse schon als Beitrag zur Aufklärung von Religiosität nicht befriedigen, so taugt sie noch weniger als Basis einer religiösen Philosophie.

Ein Denker von ganz anderer Statur, Franz von Baader, hat 1827 Vorlesungen über religiöse Philosophie gehalten. Das mit dem Titel angezeigte Thema ließ Baader nicht wieder los. Noch 1851 trug er ein Kolleg über Religions- und religiöse Philosophie vor. Das Thema hatte er bereits im Rahmen einer noch konkurrenzlosen Philosophie der Religion berührt, in seinen ab 1822 veröffentlichten Fermenta Cognitionis. Religion galt ihm da als Anerkenntnis eines Höhern, „sei es im Erkennen, Wollen oder Schaffen“. Unverkennbar hat ihre Definition einen Zug ins Universelle. Allerdings ist in ihr, anders als sonst im Umkreis der Romantik, von Fühlen und Anschauen keine Rede. Die erste Stelle nimmt stattdessen ein Erkennen ein. Daran kann ein Gedankengang anknüpfen, der die Grenzen des Überzeugungskonzepts Wittgensteins überschreitet. Baader selbst sagt über das Erkennen wenig, so wenig, dass wir nicht einmal sicher sein dürfen, ob es den passenden Namen trägt. Um den Anknüpfungspunkt nicht auf das Erkennen einzuengen, unter dem man sonst ein inhaltlich erfülltes versteht, sollten wir dafür Wittgensteins weiten Begriff von Denken oder Wissen einsetzen. Baaders Erkennen dürfte als primäres Definiens von Religion eher ein Grundwissen sein. Der zunächst geforderte Schritt auf dem weiteren Weg muss sein, die Art des Grundwissens herauszufinden. Auf inhaltliche Erkenntnis kann erst ein zweiter Schritt führen, ein Schritt vom Grundwissen zu einem Erfahrungswissen. Sich abstoßend von Baaders ausgearbeitetem Entwurf einer religiösen Philosophie, wird er zu der Erfahrung vorstoßen, vor der eine auf Lebensformen fixierte Sprachanalyse Halt macht. Steht am Anfang des schrittweise zu durchmessenden Weges die für eine religiöse Philosophie größtmögliche Allgemeinheit, so am Ende die größtmögliche Bestimmtheit.

Bei der Suche nach der Art des Grundwissens helfen uns Platon und Aristoteles auf die Sprünge. In Platons Dialog über die Unsterblichkeit ist ein Zwischenspiel eingeschaltet, in welchem Sokrates, nachdem seine Gesprächspartner Simmias und Kebes Zweifel am Fortleben der Seele angemeldet hatten, seine dadurch beunruhigten Zuhörer aufrichten möchte. Er tut dies, indem er sie zum Glauben an den Logos auffordert. Den Logosglauben beschreibt er als Vertrauen auf die Führungskraft einer dem Reden innewohnenden Vernunft. Nachdem Simmias und Kebes, wie es im Text heißt, in Apistia zurückgeworfen worden sind, muss Sokates sie und die anderen neu auf Pistis einschwören. Hier büßt die Unterscheidung von Denken und Glauben ihre Trennschärfe ein. Der dem Logos vertrauende Glaube wird zur Basis des Denkens selbst.

Eine ähnliche Rolle spielt bei Aristoteles, die, so sein Ausdruck, letzte Doxa, das Axiom aller Axiome, das den Widerspruch verbietet. Die letzte Doxa ist ein Glaube, der sich als Meinung argumentativ nicht ausweisen lässt, aber als Fundamentalmeinung auch nicht ausgewiesen zu werden braucht. Über Platon geht Aristoteles mit ihr noch hinaus. Denn er macht verständlich, wie und warum die letzte Doxa das Denken selbst fundiert. Mit ihr steht und fällt das auf die Rede angewiesene Denken, weil ohne sie alles Reden sich selbst aufhöbe.

Aristoteles selbst nennt die letzte Doxa nicht religiös, ebenso wenig wie Platon die Pistis. Als religiöse Überzeugung lässt sich ihr Gedanke nur aus einer Außenperspektive beschreiben. Insbesondere dem Verfasser des Phaidon dürfte der an den Gedanken herangetragene Religiositätsbegriff immerhin nicht fremd sein. Manches spricht dafür, dass das allgemein für mythisch gehaltene Ende des Dialogs den Anfang wiederholt, indem es dessen religiöse Implikationen freilegt. Religiös wäre dann der Pistisglaube, sofern das Denken, das am Ende den Logos übersteigt, ihn als Vertrauen auf dessen Führungskraft schon überstiegen hat. Allerdings weiß Platon, dass dieses Vertrauen als ein bloß menschliches, von Zweifeln heimgesuchtes – mit einer an anderer Stelle des Dialogs gebrauchten Wendung ausgedrückt – nur die zweitbeste Fahrt ist. Die Menschen schwimmen mit ihm – nach einem im Zwischenspiel selbst angestellten Vergleich – bloß wie auf einem Brett durchs Leben, nicht auf dem fest gefügten Schiff eines göttlichen Logos, der in dem Sinne göttlich wäre, dass darin ein Gott sich offenbarte. So sind wir denn genötigt, das Grundwissen hinter uns zu lassen und den angekündigten zweiten Schritt zu tun, den auf ein Erfahrungswissen hin, das uns vielleicht eine gottgegründete Religiosität erschließt.

Selbstverständlich besagt Erfahrung hier anderes als Kants kategoriale Formierung eines sinnlich gegebenen Materials. Sie meint aber auch mehr als die Erfahrung eines weltjenseitigen Gottes. Drei Jahre nach den Vorlesungen über religiöse Philosophie hielt Franz von Baader ein Kolleg, in welchem er genauer bestimmte, inwiefern diese Philosophie religiös sei. Dabei fasste er bereits die Alternative ins Auge, die Buber rund hundert Jahre später gegen eine abgesonderte Religion geltend machen wird. Er konzipierte einen Gott, dem wir in der Beziehung zur Welt und zu unseresgleichen begegnen. Gegen ein Verständnis von Religiosität, das sie auf ein Verhalten des Menschen zu Gott ein- schränkt, mobilisiert er einen Begriff von ihr, der das Gottesverhältnis in „einem untrennbar wechselseitigen Zusammenhange“ mit dem Verhalten zu sich selbst, zu den anderen und zur Natur situiert.

Hinter Buber, der Gott im Bild einer Mitte fasst, in der die verlängerten Linien aller Beziehungen sich treffen, bleibt Baader noch zurück, sofern er das Verhalten zu Gott nur neben das zu sich, zu den anderen und zur Natur stellt. Damit wird gerade die Art von Erfahrung, um die es ihm geht, obwohl er nicht von ihr spricht, verformt. In dem Leben, das jenen Zusammenhang untrennbarer Momente bildet, heißt erfahren des näheren: etwas zu erfahren bekommen. Das Explikans „bekommen“ bringt zum Ausdruck, dass lebendiges Erfahren ein Prozess ist, der in Neues vordringt. Zu erfahren bekommen wir aber etwas auf zweierlei Weise. Die Erfahrungsweisen lassen sich durch verschiedene Präpositionen von einander abgrenzen. Wir machen Erfahrungen mit und an diesem oder jenem. Das mit und das an haben Bezugspunkte auch von unterschiedlichem Gewicht. Der, die oder das, mit dem wir eine Erfahrung machen, ist die Person oder Sache, über die wir etwas zu erfahren bekommen. Das, an dem wir eine Erfahrung machen, ist nur Erfahrungsmaterial.

 In dieser Differenz ist begründet, dass man auch fragen muss, ob und inwieweit der Gott, das eigene Selbst, die soziale Welt und die natürliche Welt Bezugspunkte einerseits des mit, andererseits des an sein können. Sehen wir zunächst von Gott ab, so drängen sich vor allem unsere sozialen Erfahrungen auf, und zwar die, die wir mit anderen machen. An anderen hingegen machen wir nur in dem speziellen Sinn Erfahrungen, dass wir an ihnen etwas über uns lernen. Sie sind also Material für Erfahrungen, die wir mit uns selbst machen. Diese liegen auf einer tieferen Ebene. Sie reichen in den Grund unseres Daseins und begleiten uns bis in den Tod. Gottfried Benns „Spät erst erfahren Sie sich selbst“ spielt darauf an, dass wir ein ganzes Leben brauchen, um uns kennen zu lernen. Das Material hierfür stellt die Welt bereit. Zu sagen, dass wir umgekehrt an uns eine Erfahrung mit der Welt machen, wäre wiederum nur in einem speziellen Sinn möglich, in dem, dass wir uns als Beispiel dafür nehmen, wie es um die Welt steht.

Ist im Falle des eigenen Selbst, des vornehmsten Bezugspunkts einer Erfahrung mit …, immerhin noch auf eingeschränkte und vermittelte Weise auch eine Erfahrung an… möglich, so im Verhalten zu Gott gar nicht. Denn Gott ist in keiner Hinsicht Material. Er ist uns niemals gegenständlich gegeben. Dafür machen wir auf der Höhe religiösen Lebens Erfahrungen mit ihm. Wir machen sie, wann immer Gott auf unser Fragen antwortet oder schweigt, sich uns zuwendet oder sich uns verbirgt. Religiöses Leben erwacht allerdings nicht erst auf dieser Höhe. Es regt sich bereits in unserer Erfahrung mit uns selbst vor Gott – das heißt: in seinem Angesicht. Schon in der Erfahrung mit uns selbst, aber auch mit anderen, können wir in das Antlitz Gottes schauen. Das griechische Wort für Antlitz lautet im Lateinischen persona. Ob wir eine Erfahrung unmittelbar mit Gott, mit ihm als Partner, oder mit uns selbst vor Gott machen – so oder so haben wir mit ihm als Person zu tun.

Daraus folgt: Die aus dieser Erfahrung sich speisende Religiosität setzt den jüdischen oder christlichen Gott voraus, den einzigen, der, wenn er auch keine Person ist, doch eine personale Seite hat und sie uns zukehren kann. Insofern war konsequent, dass Wittgenstein seine Beispiele für religiöse Überzeugungen ausschließlich der jüdisch-christ- lichen Überlieferung entnahm. Wenig befriedigend ist nur die Unreflektiertheit, mit der er dies tat, indem er von der jüdischen oder christlichen Religiosität eine anderswo verwurzelte gar nicht unterschied. Jede Analyse von Religiosität, die mehr zu fassen bekommen will als das an Platon und Aristoteles demonstrierte Grundwissen, muss bei einer bestimmten Religion ansetzen. Die hier gegebene fußt auf einer Philosophie des Christentums. Mit der Anerkenntnis ihrer Abhängigkeit vom Christentum geht mein Text am Ende in seinen Anfang zurück. Die religiöse Philosophie, die sich von einer Philosophie der Religion abstoßen musste, kommt wieder bei ihr an. Nur ist die anfängliche Trennung überwunden. Philosophie der Religion ist nicht mehr das Andere der religiösen, sondern deren Grund, und deren Grund kann sie nur sein, weil sie sich aus der Abstraktion einer Religion überhaupt in die Bestimmtheit des Hier und Jetzt zurückgenommen hat.

 

Autor

Michael Theunissen ist emeritierter Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin.