Suchtethik

Auf dem Weg zu einer Suchtethik

Auf dem Schulgelände der Angewandten Ethik ist noch viel Platz frei für Neubauten. Der Düsseldorfer Utilitarist, der diese Einladung an bauwillige Nachwuchskräfte ausgesprochen hat (vgl. die Information Philosophie 5/2000, S. 140), sollte getrost ein Areal für eine Suchtethik einplanen. Ist doch die Produktion von Phänomenen, die zu einer suchtethischen Betrachtung Anlass geben, eine zuverlässige Wachstumsbranche.

Suchtkranke sind zwangsrekrutierte Existenzialisten. Denn sie kommen kaum darum herum, sich ganz bewusst mit ihrer menschlichen Selbstverantworungs-Aufgabe - bei ihnen im doppelten Sinne des Ausdrucks ‘Aufgabe’ - zu konfrontieren. Süchtige sind ernsthaft krank. Zum existenziellen Ernst ihrer Krankheit gehört es, dass diese nicht selten eine Krankheit zum Tode ist. So hat ein Ahnherr der Existenzphilosophie die ‘Verzweiflung’ genannt. Eine Sucht ist aber nicht nur eine Krankheit, welche die daran Erkrankten, ihre Mitmenschen und ihre The- rapeuten zum Verzweifeln bringen kann. Sie ist auch in dem wörtlichen Sinne eine "Krankheit zum Tode", dass es bei ihr häufig um Tod oder Leben des Patienten geht; in dem Sinne auch, dass z.B. viele Alkoholkranke den therapeutischen Bemühungen zu ihrer Heilung durch Selbsttötung zuvorkommen. Auch das Suchtgeschehen selbst ist in vielen fortgeschrittenen Fällen als Versuch aufzufassen, sich um sein Leben zu bringen. Suchterkrankungen sind also Anlässe zur existenziellen Reflexion.

Süchte sind auch ein Untersuchungsgegenstand für eine Ethik, die sich darum bemüht, Bedingungen eines besser gelingenden Lebens herauszufinden. Die vielfältigen Erscheinungsformen der Sucht sind Symptome eines misslingenden individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass an ihnen ex negativo Einsichten für ein besseres Meistern von unser aller Lebensaufgabe ablesbar sind. Eine so verstandene Ethik mag sich belehren lassen von der angedeuteten Ausdeutung der existentiellen Situation von Süchtigen und dem darin enthaltenen Lebenswissen.

Zum "existenziellen" Ernst einer Suchterkrankung kommt hinzu, was man früher ihren "sittlichen Ernst" genannt hätte. Sucht ist auch ein moralisches Problem. Die Erfahrung des Süchtig(gewesen)seins und die häufig prekäre Situation von Süchtigen wirft für die Kranken nicht nur "ethische" Fragen auf: Wie sollen sie sich in der Sucht und nach ihrer ‘Überwindung’ zu ihrer Krankheit, zu sich, zu ihrer Suchtbiografie stellen? Süchtige - in der Sucht häufig hochgradig verantwortungs- und rücksichtslos geworden - haben zudem das "moralische" Problem, wie sie sich nachträglich zu ihren in Mitleidenschaft gezogenen Mitmenschen verhalten sollen. Diese, in der Rolle von Partnern, Eltern, Kindern, Freunden, aber auch als Ärzte, Pflegekräfte usw., haben ebenfalls Schwierigkeiten damit, wie sie sich z.B. zu dem "nassen", dem zeitweilig oder dauerhaft trockenen Trinker, zu seinem (aktuellen und früheren) Verhalten stellen sollen - und wie mit ihm angemessen umzugehen ist. Auch ein Teil dieser Probleme ist moralischer Natur.

Das kooperative philosophische und interdisziplinäre Nachdenken über die ethisch-existenzielle und die moralische Dimension könnte eine Suchtethik ins Leben rufen. Diese wäre, anders als die bekannten Sparten der ‘Angewandten Ethik’, nicht bloß angewandte Moralphilosophie.

Der scheinbar paradoxe Charakter von Suchtphänomenen

Suchtforscher, Suchttherapeuten und Mitglieder von Selbsthilfegruppen sprechen über Suchtverhalten bisweilen auf inkohärente Weise und sinnen aufgrund dessen in sinnwidriger Manier auf Abhilfe. Damit ist zumal intelligenten Süchtigen nicht zu helfen. Zur Sucht gehört eine Findigkeit in Ausreden, Ausflüchten, Rationalisierungen, Selbstbelügungen. Unausgegorene Beschreibungen und schlecht gezielte Ratschläge zur "Besserung" leisten der elaborierten Sophistik vieler Suchtkranker zusätzlich Vorschub.

Süchtige werden einerseits als "unfrei", "fremdbestimmt", "zwanghaft", "willens-schwach", "unbeherrscht" und "irrational" beschrieben. Sie gelten als "Kranke", die infolge einer erworbenen physischen und/oder psychischen Abhängigkeit die Kontrolle über mehr oder weniger große Handlungs- und Persönlichkeitsbereiche verloren haben: und insoweit auch die Selbstkontrolle. Deshalb gelten Süchtige als "unverantwortlich" für mindestens einen Teil ihrer Leistungen und Fehlleistungen. Für letztere werden sie deshalb moralisch und rechtlich mehr oder weniger exkulpiert. Suchtverhalten scheint kein angemessener oder doch kein vollwertiger Gegenstand für moralische und rechtliche Reaktionen, für Vorhaltungen, Vorwürfe, Empörung und Indignation, für Verurteilungen, Bestrafungen usw. zu sein.

Andererseits sind Suchthandlungen Fälle willentlichen, absichtlichen Verhaltens. Sie sind, gemäß einem elementaren Freiheitsbegriff, insofern frei, als auch der Süchtige sich aufgrund dessen verhält, was er tun will und weil er es tun will: indem er z.B. zielgerichtet Mittel zur Erfüllung seiner Suchtwünsche ergreift. Diese Mittelwahl kann wohlüberlegt und raffiniert kalkuliert sein. Insoweit kann ein Süchtiger auch als "rational" gelten. Nicht sein Wille ist schwach, oft zeigen Süchtige bis in ein spätes Krankheitsstadium eine erstaunliche Arbeits- und Leistungsfähigkeit und vollbringen Kraftakte, nicht zuletzt zur Beschaffung ihres Suchtmittels. Nicht der Wille des Süchtigen ist also schwach, es ist der Wille zur Abstinenz vom jeweiligen Suchtmittel oder Suchtverhalten, der bei ihm angekränkelt sein kann bis zur Ohnmächtigkeit. Der zugegebenermaßen eingeschränkten Verantwortungsfähigkeit vieler Süchtiger steht eine gesellschaftliche Sanktionspraxis gegenüber, die sie für ihr Verhalten verantwortlich macht. Die Einsicht in den Krankheits-Charakter einer Sucht hindert unsere Gesellschaft nicht daran, einzelne Kranke und ganze Klassen von Süchtigen moralisch zu ächten, zu deklassieren und sogar zu kriminalisieren. Moralische Vorwürfe und Verachtungsbezeugungen gegenüber Süchtigen gehen einher mit deren Selbstverurteilung, mit Nichtigkeits-, Scham- und Schuldgefühlen.

Das widersprüchliche Schillern mancher Suchtporträts lässt sich an der Auffassung manchen Suchtverhaltens als "Zwangshand-lung" sowie anhand geläufiger Appelle an den Willen der Kranken illustrieren. Erstens: Der Begriff einer "zwanghaften Handlung" tönt inkohärent. Denn einerseits scheinen Süchtige, insofern sie sich absichtsvoll verhalten, (verantwortlich) zu handeln. Denn Handeln wird gewöhnlich als absichtliches Verhalten definiert. Insoweit Süchtige, andererseits, einem Zwang unterliegen, scheinen sie (bar aller Verantwortlichkeit) gar nicht zu handeln. Zweitens scheint der Appell an den Willen des Süchtigen mit der Einsicht in den Charakter seiner Krankheit unvereinbar zu sein. Denn bei dieser handelt es sich - ähnlich wie bei der Depression - auch um eine Erkrankung des Willens.

Phänomene können nicht widersprüchlich sein, sondern höchstens ihre Beschreibung. Deshalb muss es uns darum gehen, bessere, kohärente Beschreibungen für Suchtphänomene zu finden. Bei der Formulierung widerspruchsfreier Suchtbeschreibungen kann die analytische Philosophie eine Hilfe bieten. Um solche Beschreibungsmittel in die Hand zu bekommen, unterscheide ich mehrere Freiheiten und Verantwortlichkeiten sowie zwei Instanzen des Wollens einer Person.

Freisein, Verantwortlichsein, Wollen

Süchtig zu sein ist ein Freiheitsproblem. Es liegt nahe, dieses Problem an den Anfang oder ins Zentrum einer philosophischen Suchtbehandlung zu stellen. Damit anzufangen hat zudem den folgenden heuristischen Sinn. Wenn eine Suchterkrankung immer einen Freiheitsverlust oder wenigstens eine Freiheitseinbuße bedeutet, dann erfasst man mit einer Darstellung aller Freiheits- und Unfreiheitsmöglichkeiten von Personen auch alle möglichen Suchtfälle.

Eine Handlung nennt man gewöhnlich frei, wenn der Handelnde tut, was er tun will, und es deshalb tut, weil er es tun will. Diese Handlungsfreiheit könnte jemandem hinsichtlich bestimmter Verhaltensepisoden dadurch abhanden kommen - oder sie könnte dadurch eingeschränkt sein - , dass physischer oder psychischer Zwang oder Druck auf ihn ausgeübt wird. Manche Süchtige mögen so beschrieben werden können, dass ein Teil ihres Verhaltens durch eigenpsychischen Zwang oder Druck verursacht ist. Wer derart unfrei ist, wird sich entweder anders verhalten, als er will; oder er mag sich zwar seinem Willen gemäß verhalten, aber ohne die "Täterschaft" seines Willens. Sein vom Willen entkoppeltes Verhalten wird man kaum ein "Handeln" nennen wollen.

Jemand kann diese Handlungsfreiheit besitzen, ohne auch willensfrei zu sein. Dass jemand Willensfreiheit besäße, würde heißen, dass das Ergebnis seiner Überlegungen seine Willensausrichtung bestimmt und gegebenenfalls ändern könnte. Unfrei in diesem Sinne wäre z.B. ein Süchtiger, dessen Abstinenz verlangendes Räsonnement keinen Einfluss auf die von ihm verfolgten Absichten hätte. Egal, wie er überlegt, er will immer nur das Eine.

Auch das Überlegen einer Person kann frei oder unfrei sein. "Frei" kann man jemandes Nachdenken nennen, der beim Nachprüfen einer Überlegung oder durch das Einbeziehen von Zusatzgründen zu einem anderen Überlegungsresultat zu kommen vermag. Solche Überlegungsfreiheit wird ein Süchtiger dann partiell verloren haben, wenn er, egal was seines Erachtens für oder gegen eine Therapie spricht, immer zum selben, abschlägigen Überlegungsergebnis gelangt.

Eine weitere, vielleicht die anspruchsvollste Freiheitsmöglichkeit von Menschen ist in einem prägnanten Sinne eine Freiheit der Person. Menschen sind Lebewesen, die ihr handlungsbezogenes, konkretes Wollen bewerten und sich darauf auf einer 2. Stufe noch einmal voluntativ zu beziehen vermögen. Sie können auf dieser 2. Stufe billigen und wollen, dass ihr Wollen 1. Stufe auf bestimmte Handlungen ausgerichtet bzw. nicht ausgerichtet ist. Und sie können wollen, wenn sie bestimmte handlungsbezogene Willensausrichtungen haben, dass diese handlungswirksam oder nicht wirksam werden. So hätte ein "widerwillig Süchtiger" am liebsten kein Bedürfnis mehr nach seinem Suchtmittel oder Suchtverhalten. Wenn er das Bedürfnis dennoch hat, wird er wollen, dass er ihm wenigstens nicht mehr folgt.

Die Freiheit, auf einer 2. Stufe sein handlungsbezogenes Wollen 1. Stufe kontrollieren zu können, kann man Selbstbestimmung oder Autonomie nennen. Dass wir dabei selber bestimmen, was wir tun und tun wollen, meint hierbei nicht, dass wir unser Tun und Wollen nicht von andern, sondern dass wir uns nicht von unseren unmittelbaren Handlungsantrieben bestimmen lassen. Es bedeutet auch nicht nur, dass wir, statt spontan auf Anreize zu reagieren, überlegt handeln. Es bedeutet überdies, dass wir aufgrund dessen handeln und handeln wollen, was für ein Mensch wir sein und was für ein Leben wir führen wollen; was wir aus uns und aus unserem Leben machen wollen; wie wir zu sein gut fänden und wie wir unseres Erachtens sein sollten. Solche umfassenden und grund-legenden Willensorientierungen machen das praktische Selbstverständnis einer Person aus. Insofern nur Personen als ganze ein Selbstverständnis besitzen, ist die Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung eine Freiheit der Person. Diese Freiheit ist unter den aufzählten Freiheiten die wichtigste, und ihr Verlust, etwa durch eine Sucht, wird wohl am schmerzlichsten sein.

Den unterschiedenen Freiheitsbegriffen entsprechen verschiedene Begriffe der Verantwortlichkeit einer Person für ihr Handeln, Wollen und Überlegen und für deren voraussichtliche Konsequenzen. Wir sind für diese Persönlichkeitsleistungen und ihre Produkte dadurch verantwortlich, dass wir durch Nachdenken und Wollen - und unser Wollen 2. Stufe - unser Handeln, unser konkretes Wollen, unsere prima-facie-Über-legungen und sogar unser höherstufiges Wollen beeinflussen, steuern, kontrollieren, hervorbringen können.

Zusätzlich zu dieser Verantwortlichkeit für eigene handlungsrelevante Leistungen gibt es eine Verantwortlichkeit gegenüber anderen Personen, denen man für eigene Leistungen und Fehlleistungen verantwortlich ist und die einen dafür verantwortlich machen, zur Verantwortung ziehen können. Diese Verantwortlichkeit zwischen Personen hat die Verantwortlichkeit der Einzelnen für ihre handlungsrelevanten Leistungen zur Voraussetzung. Anderen gegenüber verantwortlich zu sein, bedeutet auch, angemessenermaßen Gegenstand von deren sozialen Reaktionen zu sein: von moralischem Feedback und rechtlichen Sanktionen. Solche gegenseitige Verantwortlichkeit innerhalb einer Gemeinschaft von Verantwortungsträgern gibt jedem Gemeinschaftsmitglied und der Gesellschaft im Ganzen ein je nachdem moralisches oder juridisches Recht zu dergleichen Reaktionen.

Weil Süchtige, je nach Fall, für manche ihrer handlungsrelevanten Leistungen nicht oder nur eingeschränkt verantwortlich sind; und weil das Verantwortlichsein für eigene Leistungen die Voraussetzung für die Verantwortlichlichkeit gegenüber anderen ist: Deshalb scheinen Süchtige in manchen Fällen (oder generell?) auch der Verantwortlichkeit gegenüber anderen enthoben und deshalb auch kein angemessener oder kein vollwerti- ger Bezugspunkt für moralisch-rechtliche Reaktionen zu sein.

Den erzielten Distinktionsgewinn beim Thematisieren der Freiheit und des Wollens einer Person gilt es jetzt nutzbar zu machen für die Auflösung einiger der oben vorgeführten, paradox klingenden Suchtbeschreibungen. Das seither Entwickelte lässt uns sehen, wie ein Süchtiger frei und zugleich zwanghaft, leistungsstark und leistungsschwach sein kann: indem er mit Bezug auf eines seiner handlungsrelevanten Leistungsvermögen frei und leistungsfähig, und mit Bezug auf ein anderes unfrei und angekränkelt ist. So kann jemand z. B. handlungsfrei, aber unfrei, gezwungen in seinem Wollen sein, darin also unbeeinflussbar von seinem Überlegen. Eine Handlung unter der letzeren Beschreibung kann man auf kohärente Weise eine ‘Zwangshandlung’ nennen. Deren Verursacher handelt, insofern er tut, was er tun will. Aber er handelt gezwungener- maßen so, insofern er nicht Herr seines Willens ist. Es kann auch jemand Willens- und Handlungsfreiheit besitzen, also in seinen Zwecksetzungen seinen Überlegungen folgen und demgemäß handeln können, aber beim Überlegen zwanghaft sein. Jemand kann auch im eben beschrieben Sinne willensfrei sein, ohne sein handlungsbezogenes Wollen durch sein Wollen 2. Stufe, also durch sein praktisches Selbstverständnis, steuern zu können. In diesem Sinne kann man z. B. die paradox klingende Redeweise auflösen, jemand habe wider Willen wiederum getrunken, sich also gegen seinen Willen willentlich verhalten.

Mit Hilfe der getroffenen Unterscheidungen kann man auch den Eindruck eines Kranken, bei seinen Suchthandlungen fremdbestimmt und zwanghaft zu agieren, ernst nehmen, ohne ihm deshalb jegliche Willenskompetenzen, Freiheit und Verantwortlichkeit absprechen zu müssen. Wenn man demzufolge nicht einen jeden willensmäßigen Ansatzpunkt für therapeutische Bemühungen für illusorisch halten muss, ist auch der Appell an den Patientenwillen bei Süchtigen nicht allemal fehl am Platz. Man sollte nur wissen, an welche Willensinstanz man dabei appelliert. So mag man in manchen Fällen darauf hoffen dürfen, einer Zwanghaftigkeit auf der Ebene des Handelns oder des handlungsbezogenen Wollens eines Süchtigen durch die Bearbeitung seines Wollens 2. Stufe, also seines Selbstverständnisses, beikommen zu können.

Je nachdem, auf welcher Leistungsebene sei-nes Handelns, Wollens und Überlegens das Unvermögen eines Süchtigen liegt, wird man verschiedene Typen von Süchtigen beschreiben können. Den Praktikern in Sachen Sucht könnte damit insofern gedient sein, als die präzise Kategorisierung ihrer Klienten die Voraussetzung für deren punktgenaue Behandlung zu sein scheint. Damit solche Typisierungen in der Therapiepraxis relevant sein können, müssen freilich empirische Kriterien für das Vorliegen des jeweiligen Typus ausformuliert werden: Kriterien dafür z.B., wann jemand über eine bestimmte Freiheit verfügt und wann nicht. Beispielsweise wird man jemandem dann Überlegungsfreiheit, mithin die Fähigkeit zu einem für Alternativen offenen Nachdenken über eine bestimmte Handlungsmöglichkeit zubilligen, wenn er in ähnlichen Fällen ergebnisoffen überlegt hat.

Die Beschreibung und Beurteilung von Suchtfällen muss noch differenzierter geschehen, und sie ist komplexer, als hier dargestellt. Von "Freiheit" und "Verantwort-lichkeit" sollte eigentlich nur in relativen Termini gesprochen werden. Frei oder verantwortlich sind wir immer nur mehr oder weniger. Auch ist nicht jede Handlung eines Süchtigen ein Fall von Suchtverhalten, seine Verantwortlichkeit ist deshalb auch nicht bei jeder seiner Handlungen in Frage gestellt. Wir müssen Suchtverhalten überdies so beschreiben können, dass es sowohl vom Verhalten Nicht-Süchtiger als auch von nicht-süchtigem Verhalten Süchtiger unterscheidbar ist.

 

Sucht und menschliche Existenz

Widerwillig Süchtige möchten gewöhnlich nicht nur in bestimmten Situationen abstinent sein können. Sie möchten eine Person sein, die abstinent lebt. Abstinent sein zu wollen gehört zu ihrem praktischen Selbstverständnis, zu dem, was sie als Person sein wollen. Weil dies so ist, muss ihnen das Scheitern ihres Abstinenzwillens als Selbstverlust, als persönliche Katastrophe erscheinen. Auch der Verlust anderer Freiheitskompetenzen ist gewiss schmerzlich. Die Unfähigkeit aber, die Person zu sein, die man sein möchte; das Leben zu führen, das man leben möchte; das Unvermögen, für sich selber verantwortlich zu sein: dies alles ist demütigend und verletzt den eigenen Stolz. Dieses zerstörerische Leben eines Süchtigen gegen sich selbst - und gegen andere, oft gegen die, welche er liebt - ist eine Gestalt jener Verzweiflung, die eine "Krankheit zum Tode" ist. Für ein menschliches Leben ist es charakteristisch, dass es scheitern kann. Es ist die Angst vor diesem Scheitern und damit die Sorge um sich selbst, welche widerwillig Süchtige umtreibt.

Was hat die Philosophie zu bieten, um Süch-tigen dabei zu helfen, wieder die Verantwortung für sich übernehmen zu können? Ein Philosoph kann die sog. praktische Frage in Erinnerung rufen und die Angehörigen und Therapeuten des Süchtigen dazu anregen, ihn mit dieser Frage zu konfrontieren: auf dass er sie sich selber stelle. Unter der praktischen Frage verstehe ich die um Rat nachsuchende Frage: "Was soll ich tun?", "was ist ratsam?", "was zu tun ist am besten?" Sie betrifft oft nur die konkrete Handlungssituation, hier und jetzt. Man kann sie aber auch radikal und allgemein stellen. Radikal formuliert ist das die fremd- oder selbstadressierte Hamlet-Frage, "whether ‘tis nobler to be or not to be?" Allgemein verstanden ist die praktische Frage die sokratische Frage, was für ein Mensch man sein will und wie zu leben ratsam sei. Wir sind damit auf der Ebene des praktischen Selbstverständnisses einer Person und ihrer wichtigsten Lebensziele. Das praktische Selbstverständnis einer Person wurde oben auf einer 2. Stufe ihres Wollens angesiedelt. In dieser Redeweise besteht das Problem eines widerwillig Süchtigen in der Unwirksamkeit dieses Wollens 2. Stufe auf der Ebene seines konkreten, handlungsbezogenen Wollens. Wie könnte er (wieder) lernen, sein Wollen im Sinne seines Selbstverständnisses zu dirigieren?

Die Antworten auf die radikal und die allgemein verstandene praktische Frage stehen miteinander im Zusammenhang. Ein schwer Suchtkranker wird von der Hamlet-Frage nur dann zu beeindrucken sein, und sein Weiterleben dem Verenden vorziehen, wenn er noch vitale Lebensanliegen und Projekte hat, die ihm die Lebensmühe und die Anstrengung der Abstinenz als lohnend erscheinen lassen. Nur dann wird man ihm mit der trivial erscheinenden Erwägung kommen können, dass er seine Projekte nur lebend, mithin abstinent verwirklichen kann. Wer keine sinnvollen Lebensinhalte mehr zu sehen meint, den mag man dennoch durch das ausdrückliche Stellen der Hamlet-Frage das Grauen vor dem Nichtsein lehren und ihn so dazu anstoßen können, neue und lohnende Projekte zu ersinnen. Vermutlich ist es sinnvoll, wenn man im Gespräch mit Süchtigen zwischen dem Aufwerfen der radikalen Hamlet-Frage und Fragen nach tatsächlichen, ratsamen und realistischen Lebens-projekten des Betreffenden hin und her geht.

Für den erstrebenswerten Lernprozess eines abstinenzwilligen Süchtigen ist es häufig - wie auch bei vielen Depressiven - erforderlich, dass der Betreffende sein praktisches Selbstbild, mit dem er sich überfordert hat, überprüft und gegebenenfalls herabstimmt. Dazu gehört sicherlich die Überprüfung seines "theoretischen" Selbstverständnisses. Gemeint ist damit seine Auffassung von seiner Lebenssituation und davon, wer er ist und wie er so geworden ist, was er kann und was er nicht (mehr) kann, und was er (noch) erreichen kann. Auf der Basis einer realistischen und akzeptierten Selbst- und Weltauffassung ist es vermutlich die Anbindung des Abstinenzwillens an realistische Lebensziele und an seine wichtigsten Lebensanliegen, welche dem Süchtigen die Chance auf eine wiedererlangte Selbstverfügungskompetenz und Selbstverantwortungsübernahme eröffnet. Zusätzlich motivierend für den Abstinenzwilligen kann die Aussicht auf die Wiedergewinnung intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse und damit des Wieder-Ernst-Genommen-Werdens sein, ebenso wie die Aussicht auf neues Selbstbewusstsein, auf den berechtigten Stolz auf sich selber, der vielen "ehedem" Suchtkranken aus der Lebensleistung zuverlässiger Abstinenz erwächst.

Insofern jedenfalls genesungswillige Suchtkranke sich nicht nur um die Reparatur ihrer persönlichen Beziehungen und ihres gesamten Lebens-Settings, sondern um die Arbeit an ihrem Selbstbild und um das Problem der Selbstverantwortungs-Übernahme nicht herumdrücken können: Insofern sind Süchtige, wie eingangs formuliert, zwangsverpflichtete Existenzialisten. Sie sind in besonders drastischer Weise "zur Freiheit verurteilt", weil die Wiedererlangung ihrer Selbstverfügungskomptenz und ihrer Selbstverantwortung für sie das Problem darstellt.

Sucht und Moral

In einer Sucht auch ein moralisches Problem zu sehen, erscheint vielen als befremdlich. Sind Süchtige etwa moralische Versager? Sucht ist eine Krankheit. Suchtkranke scheinen aufgrund ihrer Krankheit, nicht über jene Freiheitskompetenzen zu verfügen, welche die Voraussetzung für moralische Verantwortlichkeit darstellen. Darum, so wird gesagt, sind Süchtige für ihre suchtbedingten Handlungen nicht verantwortlich. Deshalb, so glaubt man, seien Suchtkranke auch kein legitimer Gegenstand für moralische Reaktionen oder rechtliche Sanktionen seitens ihrer Mitmenschen oder von Seiten des Staates.

Für die "Opfer" von Süchtigen, von deren Taten und Untaten, ist diese Sicht der Dinge kaum zu akzeptieren. Schließlich geht es dabei nicht um "Bagatellschäden". Zu reden ist hierbei vielmehr von Totschlag und anderen Gewalttaten, wie etwa die alkoholisierte Totfahrerei auf unseren Straßen; von Betrügereien, Beschaffungsdiebstählen, Vergewaltigungen und Beziehungsdelikten aller Art; vom fortgesetzten Ausnutzen anderer, von jahre- oder jahrzehntelangen Quälereien, Lü-gereien, Täuschungen, Unwahrhaftigkeiten, Vertrauensbrüchen, Unzuverlässigkeiten in familiären und anderen persönlichen Beziehungen.

Sind vorwurfsvolle Reaktionen auf solche Suchttaten, seitens der Geschädigten oder anderer Mitmenschen und von Seiten des Süchtigen selber, wirklich gänzlich fehl am Platz - und lediglich "verständlich"? Es sind ja nicht allein die Fehlleistungen und Untaten mancher Süchtiger, auf welche andere enttäuscht bis empört reagieren. Menschen sind Treuhänder ihrer eigenen Fähigkeiten und Begabungen. Zu ihren Fähigkeiten gehört es, für sich selber und für andere Verantwortung tragen zu können. Diese Verantwortungsfähigkeit für sich und andere ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen ihren Mitmenschen vollwertige, kompetente, verlässliche Sozialpartner sein können. Demnach kündigen Süchtige eine wesentliche Voraussetzung für jede Partnerschaft auf. Nicht zuletzt darauf lässt sich die moralische Missbilligung Suchtkranker beziehen, die sie sich von Seiten der im Stich gelassenen Nächsten und seitens der Gesellschaft einhandeln.

Den moralischen Reaktionen gegenüber Süchtigen kann man auf folgende Weise einen guten Sinn geben und Legitimität zubilligen: wenigstens in vielen Fällen. Zwar ist Kranksein als solches nicht vorwerfbar. Inwieweit das aber auch für krankheitsbedingte Handlungen (und Unterlassungen) gilt, hängt von der Art der Erkrankung ab und von den Bedingungen ihres Erwerbs. Wer sich durch Fahrlässigkeit verkühlt und eine Lungenentzündung zuzieht und dadurch den Familienurlaub aufs Spiel setzt, zieht berechtigten Groll auf sich. Hingegen sind die Folgen epileptischer Anfälle dem Epileptiker zumeist nicht zurechenbar. Die Art der Erkrankung macht hier den moralischen Unterschied. Die moralische Differenz hinsichtlich des Krankheitserwerbs hängt von der Voraussehbarkeit des Krankwerdens ab. Die unter bekannten Umständen hohe Wahrscheinlichkeit eines vermeidbaren Erkrankens macht Unvorsichtigkeit vorwerfbar. In diesem Sinne ist es ein moralischer Unterschied, ob jemand sich eine HIV-Infektion durch ein unvorsichtiges Sexleben zuzieht oder bei einer Blutübertragung. Das Allgemeinwissen über Aids lässt einen Jeden die drohende Gefahr voraussehen. Zum Allgemeingut gehört auch das Wissen, dass die regelmäßige Einnahme zumal größerer Alkoholmengen zum Alkoholismus führen kann. Bekannt sind hierzulande auch die vielfältigen Therapieangebote. Auch wenn man sich vor generellen Aussagen hüten muss, so scheint doch auf der Basis der vorgetragenen Überlegungen in vielen Fällen der Vorwurf an Süchtige berechtigt, dass sie süchtig geworden sind - oder dass sie daraufhin keine Therapie in Anspruch nehmen. Die in manchen Fällen zuschreibbare Verantwortlichkeit für die Entstehung einer Sucht vermag auch eine mittelbare Verantwortlichkeit für suchtbedingte Vergehen zu begründen - und für das Versagen Süchtiger als Sozialpartner. Damit ist auch ein Grund für die Legitimität moralischer Reaktionen und rechtlicher Sanktionen gegeben. Jedenfalls in manchen, zu spezifizierenden Fällen.

Auch für den Süchtigen selber kann die Verantwortungsübernahme für den Erwerb der Sucht - und damit für die Sucht selber und für seine suchtbedingten Handlungen - eine Chance bedeuten. Dadurch können jene Phasen seines Lebens, in denen er nicht die (volle) Verantwortung für sich zu tragen vermochte, wieder Teile seines eigenen Lebens werden. So und vielleicht nur so vermag er wieder ein ganzes eigenes Leben zu haben statt eines Lebens, das er sich, suchtbedingt, teilweise hat enteignen lassen bzw. sich selber gestohlen hat. Diese nachträgliche, nachholende Verantwortungübernahme ist auch ein Stück der Wiedergutmachung, welche seine Opfer von einem Süchtigen erwarten dürfen. Nur wenn Letzterer sich nicht mit Verweis auf sein Krankgewesen-sein als verantwortungs- und schuldfrei deklariert, sondern sich mit moralischen Reaktionen als deren angemessener Adressat konfrontiert, wird er auf die (Wieder-) Herstellung von Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung hoffen dürfen. Nur so, vermutlich, wird er sich selber und die andern wieder, oder erstmals, ernst nehmen können, und darauf hoffen dürfen, von ihnen wieder, oder erstmals, ernst genommen zu werden.

Eine ausführlichere Fassung erscheint demnächst in dem von Matthias Kaufmann herausgegebenen Buch "Sucht und Selbstver- antwortung. Philosophische Ansätze zu einer Suchtethik" (Verlag Karl Alber, Freiburg).

Autor

Harald Köhl ist Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt.