Wittgensteins Tractatus lesen

Wittgensteins Logisch-philosophische Abhandlung ist einer der wenigen modernen philosophischen Texte, die über den Bereich der Philosophie hinaus gewirkt haben. Dabei ist das Buch schwer zugänglich und von den Philosophen so unterschiedlich wie kaum ein anderes philosophisches Werk dieses Jahrhunderts interpretiert worden. Lakonisch kurze Sätze, ein kompliziertes Numerierungssystem, das Fehlen von sichtbaren Argumentstrukturen und andere Merkmale machen die Arbeit mit dem Tractatus oft mühselig und verwirrend. Die Themenvielfalt, die von Ontologie, Sprache und Logik bis zu Ethik, Ästhetik und Mystik reicht, lässt es schwierig erscheinen, einen gemeinsamen Leitgedanken zu verfolgen oder das Werk einer philosophischen Kategorie zuzuordnen. Darüber hinaus bezieht sich Wittgenstein kaum auf klassische Schriften der Philosophie, während manche der Texte, die er erwähnt, heute wenig bekannt sind. Durch solche Eigenheiten bietet der Text vor allem für den philosophischen Anfänger ein reiches Spekulationsfeld und zahlreiche Fallen.

Wittgenstein weist in seinem Vorwort selbst darauf hin, dass das Buch wahrscheinlich nur der verstehen wird, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind, selbst schon einmal gedacht hat. Nur dieser wird nämlich die Lücken im Text selbst ausfüllen und die fehlenden Argumente ergänzen können. Es wird also bei der Lektüre mehr als bei an-deren philosophischen Texten darauf ankommen, im Sinne des Autors denken zu lernen und sich seine Sprache zu eigen zu machen. Erst dann kann eintreten, was Witt-genstein als den Zweck des Buches bezeichnet hat, nämlich dass es "Einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete".

Die folgenden Ratschläge sind also dazu gedacht, tractarianisches Denken zu erleichtern. Dabei sollte man vor allem beachten, dass sich der Tractatus erst vom Ende aus ganz erschließt. Wer, wie es oft geschieht, die Sätze 4.1 bis 5.3 (die Einführung der allgemeinen Wahrheitsfunktion) überspringt, kurz in die Sätze 5.4 und 5.5 eintaucht (Solipsismus) und dann erst wieder bei 6.3 weiterliest (Naturwissenschaft, Ethik, Mystik), hat die Pointe des Buchs verfehlt. Tatsächlich steht und fällt der Tractatus mit der allgemeinen Wahrheitsoperation N, mit der die Logik auf die Form der Welt zurückgeführt wird. Der "formale" Teil des Buchs in den Sätzen 4 und 5 bildet deshalb das Rückgrat des Ganzen und sollte sorgfältig erarbeitet werden.

Angesichts der Vielfalt von Themen, die der Tractatus berührt, fällt es oft schwer, Motiv und Leitgedanken des ganzen Textes zu ent-decken. Manche Interpreten, wie Max Black, leugnen geradezu, dass es einen solchen Leitgedanken gebe und betrachten das Buch als Zusammenstellung von Aphorismen zu logisch voneinander unabhängigen Themen. Wittgenstein hat jedoch an verschiedenen Stellen betont, dass es einen thematischen Zusammenhang des Textes gibt. Im Vorwort schreibt er, das Buch solle "dem Denken eine Grenze ziehen" und zeigen, dass die philosophischen Probleme "auf dem Missverständnis der Logik unserer Sprache" beruhen. Die Unterscheidung zwischen dem, was sinnvoll gesagt werden kann und was nicht gesagt, sondern nur "gezeigt" werden kann, hat Wittgenstein auch in Briefen als Grundgedanken des Tractatus bezeichnet. Im Satz 4.0312 drückt er seine Hauptthese so aus: "Mein Grundgedanke ist, dass die 'logischen Konstanten' nicht vertreten, dass sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten lässt." Am Ende des Buchs kommt er zu dem Ergebnis, dass die Sätze des Tractatus zu den unsinnigen Sätzen gehören, da sie über die Logik der Tatsachen zu sprechen versuchen.

Der Tractatus lässt sich nach diesem Motiv grob in drei Teile aufteilen: In den Sätzen 1 bis 3 entwickelt Wittgenstein die begrifflichen Grundlagen des "Grundgedankens", in den Sätzen 4 und 5 führt er ihn aus, in den Sätzen 6 und 7 zieht er Folgerungen aus ihm. Da es eine Hauptthese des Buchs ist, dass seine eigenen Behauptungen im Grunde zum "Unsagbaren" zählen, ist es ratsam, sich zunächst nicht zu lange bei einzelnen Thesen aufzuhalten, sondern mehr darauf zu achten, den ganzen Gedankengang zu erfassen. Besonders die "ontologischen" Thesen in den Sätzen 1 und 2 sollte man vorläufig akzeptieren und dann im Nachhinein vom ganzen Kontext aus neu bewerten.

Man kann von einer unvorbereiteten Lektüre des Tractatus durchaus profitieren und die Entwicklung der Hauptgedanken auch ohne umfangreiche Vorkenntnisse nachvollziehen. Eine gewisse Kenntnis des philosophischen Umfelds ist jedoch auf jeden Fall empfehlenswert und für eine intensive Lektüre notwendig. Wittgenstein nennt in seinem Vorwort zwei Denker, denen er einen großen Teil an Anregungen verdankt: Gottlob Frege und Bertrand Russell. Viele Gedankengänge im Tractatus werden durchsichtiger, wenn man mit einigen ihrer zentralen Texte vertraut ist, manche Sätze lassen sich überhaupt nur dann verstehen. Beschäftigung mit den Hauptschriften Freges ist als Vorbereitung für die Lektüre ohnehin geboten, da die Logik eine entscheidende Rolle im Tractatus spielt und Wittgenstein sie zuerst durch Freges Schriften kennengelernt hatte. Frege hatte nicht nur den Unterschied von Funktion und Gegenstand in die Logik eingeführt, sondern auch eine von der Oberflächenstruktur der natürlichen Sprache unterschiedene Tiefenstruktur, in der logische Konstanten wie die Negation, der Allquantor oder das Zeichen für das Konditional auftauchen. Da Frege gleichzeitig eine Semantik für die nichtlogischen Ausdrücke entwickelt hatte, lag die Frage nahe, wofür die logischen Konstanten, die diese Ausdrücke verbinden, stehen. Dies ist eben die Frage, die der Grundgedanke des Tractatus in gewisser Hinsicht beantwortet, der das Buch aber eine viel größere Dimension als im Rahmen von Freges Denken zuweist. Zum Verständnis des Tractatus tragen die Definitionen in Freges Begriffsschrift und seine sog. semantischen Aufsätze (in Frege 1974) bei. Man sollte die Ähnlichkeiten des Denkens von Frege und Wittgenstein jedoch auch nicht überschätzen. In einem Brief an Engelmann schrieb Wittgenstein, Frege verstehe kein Wort von seiner Arbeit und er sei schon ganz erschöpft vor lauter Erklärungen. Das Missverständnis lag wohl darin, dass Wittgenstein nicht offene Probleme Freges weiter bearbeitet, sondern Freges ganzen Ansatz in eine neue Richtung gewendet hat.

Dasselbe gilt für Russells Philosophie. Russell glaubte zwar, den Tractatus verstanden zu haben, aber Wittgenstein fand in seinem Vorwort zum Tractatus nur "Oberflächlichkeit und Missverständnis". Da sich der Grundgedanke des Buchs jedoch aus dem intensiven Kontakt zwischen beiden entwickelt hatte, ist Kenntnis von Russells Philosophie vor 1913 nutzbringend und in mancher Hinsicht notwendig für die Lektüre. In Satz 4.0031 heißt es, Russells Verdienst sei es, gezeigt zu haben, dass die scheinbare logische Form des Satzes nicht seine wirkliche sein muss. Wittgenstein bezieht sich hier auf den Aufsatz On Denoting aus dem Jahr 1908, in dem Russell darstellt, wie Kennzeichnungen in Sätzen durch logische Analyse eliminiert werden und wie da-durch scheinbare philosophische Probleme sprachanalytisch aufgelöst werden können. Wittgenstein wendet diesen Gedanken auf die "logischen Konstanten" an, indem er zeigt, dass sie nicht referieren, dass man über sie also nicht sprechen kann. Ebenso wie Freges Philosophie hat Wittgenstein also auch Gedanken Russells in einer ganz neuen Weise verwendet. Um Wittgensteins Hinweise auf Komplexe, auf die Typentheorie, die logische Syntax, die Darstellung von logischen Kategorien, den Gebrauch des Identitätszeichens und viele weitere Andeutungen und Bemerkungen richtig einordnen zu können, sind neben Russells Aufsatz On Denoting auch Grundkenntnisse der Principia Mathematica empfehlenswert.

Zu den wenigen Autoren, die Wittgenstein außerdem erwähnt, gehört Heinrich Hertz. Seine Prinzipien der Mechanik von 1894 enthalten in der Einleitung einen Vorläufer der Bildtheorie und im Kapitel "Über dynamische Modelle" (2. Buch) Definitionen, die Wittgensteins Begriff des Bildes als Modell der Wirklichkeit erhellen. Auch auf den Bezug des Tractatus zu Schopenhauer wird oft hingewiesen. Voraussetzung für das Ver-ständnis des Gesamtsystems ist die Kenntnis von Hertz und Schopenhauer aber nicht. Nützlich für eine intensive Beschäftigung mit dem Tractatus kann eine gewisse Vertrautheit mit kulturellen und geistigen Kon-textbedingungen in Wien nach der Jahrhundertwende sein, wie sie etwa Janik und Toulmin (1973) dargestellt haben. Die bei Karl Kraus und Adolf Loos sichtbare Ab-neigung gegen nichtfunktionale, ornamentale Elemente in Sprache, Architektur und Kunst hat auch ihren Niederschlag in den ästhetischen und ethischen Prinzipien und im Stil des Tractatus gefunden.

Das Numerierungssystem des Tractatus hat in der Sekundärliteratur oft Verwirrung gestiftet und viele Spekulationen ausgelöst. Wittgenstein selbst schreibt in einer Fußnote, dass die Satznummern "das logische Gewicht der Sätze" andeuten, was von den Interpreten oft angezweifelt worden ist. Ein Faksimile des Prototractatus, 1971 herausgegeben von McGuinness, Nyberg und von Wright, ist eine unschätzbare Quelle, um das Geheimnis des Numerierungssystems zu lüften. Hier zeigt sich, dass Wittgenstein den Tractatus nicht in der Reihenfolge der Satznummern niederschrieb, sondern zuerst die "Hauptsätze" zusammenstellte, denen er im Text Nummern wie 1, 2, 2.1, 3, 3.1 etc. gab. Anschließend fügte er in beliebiger Reihenfolge Kommentare und Erweiterungen zu diesen Sätzen ein, indem er ihnen Nummern wie 1.11, 3.0 oder 3.12 zuwies. Ein Kommentar zu Satz 3.14 erhielt die Nummer 3.141, ein Kommentar zu 3.143 die Nummer 3.1431, ein nach 4.1 geschriebener Kommentar zu Satz 4 die Nummer 4.01, und ein nach 4.01 geschriebener Kommentar zu 4 die Nummer 4.001. Kommentare oder Einfügungen stammen dabei oft aus früheren Schriften, etwa den Tagebüchern und den Aufzeichnungen über Logik. Anschließend hat Wittgenstein die Sätze in der Reihenfolge der Nummern angeordnet und dabei noch etwas überarbeitet. Die Satznummern, also eigentlich Produkt einer be-stimmten Arbeitsmethode, ließ er stehen, um das logische Gewicht der Sätze zu verdeutlichen. Man kann die Hauptsätze (Sätze der Form n und n.m) also als das Gerüst des Textes auffassen, während Sätze mit mehr als einer Stelle hinter dem Punkt Erläuterungen, Abschweifungen, Kommentare oder Umformulierungen darstellen. Welche von ihnen gemeinsam entstanden sind, zeigt sich oft nur am Faksimile. Wegen dieser Arbeitstechnik kann man grundsätzlich nicht davon ausgehen, dass es einen logischen Übergang von Sätzen mit langen zu Sätzen mit kürzeren Nummern gibt, auch wenn sie im Tractatus aufeinander folgen.

Das Numerierungssystem rechtfertigt einen nichtsequentiellen Umgang mit dem Text. In der Arbeit mit dem Tractatus hat es sich als hilfreich erwiesen, Wittgensteins Anmerkung zu folgen und etwa alle Sätze mit gleichem "logischem Gewicht" herauszufiltern, also Sätze, deren Nummern bis zu einer (n), bis zu zwei (n.m), bis zu drei Stellen (n.mo) etc. aufweisen. Meist kommt man damit dem Gedankengang Wittgen- steins näher als mit der oft praktizierten Zusammenstellung von Sätzen, die sinnge-mäß über Ähnliches zu sprechen scheinen. Wendet man etwa (n.m) auf Satz 3 an, dann ergibt sich die folgende Satzreihe:

3 Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke.

3.1 Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus.

3.2 Im Satz kann der Gedanke so ausge-drückt sein, dass den Gegenständen des

Gedankens Elemente des Satzzeichens entsprechen.

3.3 Nur der Satz hat Sinn, nur im Zusammenhange des Satzes hat ein Name Bedeutung.

3.4 Der Satz bestimmt einen Ort im logischen Raum. [...]

3.5 Das angewandte, gedachte Satzzeichen ist der Gedanke.

Darauf folgt:

4 Der Gedanke ist der sinnvolle Satz.

Wie Kapitelüberschriften oder Leitthesen sind hier die wesentlichen tractarianischen

Merkmale eines Satzes zusammengestellt. In dieser Übersicht zeigt sich unter anderem,

welchen Nachdruck Wittgenstein auf die Anwendung sprachlicher Zeichen (3.5) legt, eine Tatsache, die in den üblichen Darstellungen der Bildtheorie des Satzes oft gar nicht erwähnt wird. Man sollte deshalb, wie in diesem Beispiel, den Tractatus nicht als Sequenz lesen, sondern im Text innerhalb einer Numerierungsebene von Satz zu Satz springen. Die Herstellung einer gedanklichen Verbindung zwischen den Sätzen einer solchen Ebene wird dann manchmal, aber nicht immer, durch Zwischensätze einer höheren Ebene (d.h. durch Sätze mit mehr Stellen in der Numerierung) erleichtert.

Für den inneren Zusammenhang des Textes sind die "Definitionen" des Tractatus

wesentlich, d.h. Sätze der Form "x ist y" ("Das Satzzeichen ist eine Tatsache", "Der

Gedanke ist der sinnvolle Satz"). Man kann solche Definitionen in entsprechend geeignete Kontexte einsetzen, um sich so seine eigene Tractatus-Erläuterung zusammenzustellen. Aus den Sätzen 3, 3.5 und 4 oben (als Definitionen von "Gedanke") entstehen etwa folgende Varianten:

3' Das angewandte, gedachte Satzzeichen ist das logische Bild der Tatsachen. (3, 3.5)

4' Das logische Bild der Tatsachen ist der sinnvolle Satz. (3, 4)

3.5' Der sinnvolle Satz ist das angewandte, gedachte Satzzeichen. (3.5, 4)

Sätze des Tractatus, vor allem solche höherer Ebenen sind oft selbst Ergebnis solcher

Ersetzungen, deren Prämissen in der Endfassung des Textes zum Teil unterschlagen

werden. Der Satz

3.11 [...] Die Projektionsmethode ist das Denken des Satzsinnes,

bestand im Prototractatus noch aus zwei Sätzen:

PT 3.12 Die Projektionsmethode ist die Art und Weise der Anwendung des Satzzeichens.

PT 3.13 Die Anwendung des Satzzeichens ist das Denken seines Sinnes.

Auch explizite Definitionen der Form "Ich nenne X Y" (etwa 3.31) sollte man zur Konstruktion von erläuternden Hilfssätzen verwenden.

Durch die Definitionen zeigt sich ein strenger innerer Zusammenhang des Textes, der beim sequentiellen Lesen leicht verborgen bleibt. Wittgensteins Gebrauch seiner Hauptbegriffe ist dabei so eigentümlich, dass man von einer besonderen Sprache des Tractatus sprechen könnte, die durch die beschriebenen Definitionen im Lauf des Buchs allmählich konstituiert wird. Der schon zitierte Satz 3.5 - der Gedanke als angewandtes, gedachtes Satzzeichen - ist nur eines von vielen Beispielen. Nicht nur die Einsetzung der Definitionen fördert sehr spezifische Tractatus-Bedeutungen zu Tage. So bedeutet "Sachverhalt" wörtlich ein Ver-hältnis von Sachen (2.01), "Gegenstand" das "Feste, Bestehende" (was entgegensteht) im Unterschied zur wechselnden Konfiguration (2.0271), "Sinn" eines Bildes eine mögliche Sachlage im logischen Raum (2.202 und 2.221) und "Satz" eine Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen (5). Um Wittgensteins besondere Verwendungsweisen seiner Grundbegriffe richtig zu verstehen, sollte man sich die verschiedenen Zusammenhänge, in denen ein Wort vorkommt, vergegenwärtigen. Man kann cum grano salis davon ausgehen, dass ein und derselbe Ausdruck in verschiedenen Kontexten dasselbe bedeutet, wenn auch vielleicht mit unterschiedlichen Nuancen. Begriffe wie "Welt", "Satz" oder "Sinn (eines Bildes)" behalten ihre festgelegte Bedeutung auch im letzten Teil des Buchs, wo von Ethik, Ästhetik und My-stik die Rede ist. Dies ist gerade für zentrale Ausdrücke wie den des "Zeigens" oft bestritten worden, aber wenigstens als Arbeitshypothese von großem Nutzen. Umgekehrt kann man davon ausgehen, dass ähnliche Ausdrücke in verschiedener Bedeutung ge-lesen werden sollen, solange sie nicht durch eine Definition gleichgesetzt wurden. Sachlage und Sachverhalt, Gegenstand und Sache, Realität und Wirklichkeit, Negation und Verneinung sind im Tractatus jeweils verschiedene Begriffe. Die Suche nach den Satzkontexten von Ausdrücken erleichtert der Index von Plochmann und Lawson, der die Ausdrücke im Satzzusammenhang auflistet und durch ein deutsch-englisches Glossar auch für die Arbeit mit dem deutschen Original brauchbar ist (ersatzweise auch Börncke/Roser).

Die Rezeptionsgeschichte des Tractatus ist von mancherlei Missverständnissen geprägt, die zu einem Teil auf Russells Vorwort zu-rückgeführt werden können. Die Beziehung zwischen Russell und Wittgenstein war um 1913 wegen grundsätzlicher Einwände Witt-gensteins gegen Russells Philosophie abgebrochen. Russell lernte daher den Tractatus erst nach seiner Entstehung kennen, als er die Philosophie des logischen Atomismus entwickelt hatte, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Philosophie des Tractatus aufweist. Wittgensteins "Grundgedanke" ist Russell jedoch fremd; die Idee des Unsagbaren hat er, wie sein Vorwort zum Tractatus zeigt, nicht sonderlich ernst genommen. Russell glaubte, das Problem der Nichtreferentialität logischer Konstanten könne durch eine Sprachenhierarchie gelöst werden, während Wittgenstein im Tractatus zeigte, dass sich das Problem auf allen Sprachebenen wiederholt. Russells Missverständnis des Tractatus hat sich durch sein Vorwort auf viele Texte der Sekundärliteratur übertragen. Betrachtet man den Grundgedanken, wie es Russell tut, als eher nebensächliche Zusatzthese des Textes, dann fehlt die Verbindung zwischen den einzelnen Teilen, die von der Welt, der Bildtheorie, der Sprache, der Logik etc. handeln. So entstand die Auffassung, dass der Tractatus aus logisch unverbundenen Kapiteln über Ontologie, Sprache, Logik etc. bestünde. Interpretationen auf dieser Basis verfehlen nicht nur den Sinn des Buchs, sondern gehen auch im Verständnis einzelner Bemerkungen oft in die Irre. Trotzdem lassen sich viele von ihnen mit Gewinn lesen. So ist Max Blacks Satzkommentar, der in mancher Hinsicht von Russell geprägt ist, bis heute einer der nützlichsten Begleiter für die Tractatus-Lektüre, den man zu Anregung in Einzelfragen immer wieder konsultieren sollte.

Die Kommentare zum Tractatus kann man nach Schwierigkeitsgraden und Ausführlichkeit zu Rate ziehen. Für einen ersten Überblick über den Text dient am besten Oliver Scholz' kurzer und präziser Artikel im Lexikon der philosophischen Werke. Von den Interpreten, die den inneren Zusammenhang des Textes verfolgen und daher dem Wortlaut am nächsten bleiben, sind die Bücher von Mounce, Kenny, Fogelin und Finch empfehlenswert. Als Einführung in die einzelnen "Kapitel" ist dabei am besten Mounce (1981) geeignet. Mounce hält sich an die (von Tractatus-lnterpreten selten beherzigte) Regel, dass ein Kommentar nicht schwieriger sein sollte als der Text, den er kommentiert. Er hat die wichtigsten Ergebnisse der Sekundärliteratur in seiner Einführung berücksichtigt und ein nützliches Glossar zentraler Tractatus-Begriffe angefügt.

Anspruchsvoller, aber auch ausführlicher sind die Bücher von Kenny (1972), Fogelin (1976) und Finch (1971). Finch gibt ausführliche Erläuterungen zu einzelnen Begriffen des Tractatus und legt großen Wert auf sprachliche Genauigkeit bei der Interpretation. Fogelin ist einer der wenigen Tractatus-lnterpreten, die dem formalen Teil des Textes größere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Er hat nachzuweisen versucht, dass Wittgensteins Wahrheitsoperation N nicht alle prädikatenlogischen Sätze generieren kann und deshalb Satz 6 des Tractatus falsch ist, eine Behauptung, die erst von Varga (1991) widerlegt wurde.

Der "Grundgedanke" Wittgensteins ist nur selten Gegenstand von eigenen Untersuchungen geworden. Die beste Interpretation dazu ist die kaum bekannte Monographie von Niedermair, der die Unaussprechlichkeit der Logik als ein Problem der Selbstbezüglichkeit der Sprache behandelt.

Von einer gründlichen Lektüre des Tractatus ausgehend lohnt es sich, eine der Einführungen in das Gesamtwerk Wittgensteins zu lesen, um den Stellenwert des Buchs und die schwierige Beziehung zur "Spätphilosophie" einschätzen zu lernen. Zu der Frage, wie groß der Unterschied zwischen frühem und spätem Wittgenstein ist und worin er im Einzelnen besteht, gibt es fast so viele Meinungen wie Autoren. Allerdings lässt sich die frühere Lehrmeinung, nach der es eigentlich zwei Wittgensteins gab, auch auf Grund der Veröffentlichung der vielen Übergangsmanuskripte aus dem Nachlass, heute kaum noch aufrechterhalten. Neben Kenny und Fogelin sind auch die Einführungen von Schulte und Vossenkuhl für diesen Zweck nützlich.

Der Tractatus ist im Deutschen in drei Ausgaben bei Suhrkamp erschienen. Die einfache Textausgabe besitzt als Einzelband und in der Werkausgabe keinen Index und ist deshalb für den Vergleich von Satzkontexten schlecht geeignet. Die kritische Ausgabe enthält dagegen außer einem Index auch entsprechende Stellen aus den Frühschriften Wittgensteins, den Text des Prototractatus und als Anhang das Vorwort von Russell. Der Prototractatus ist dabei leider nicht in der Reihenfolge der Entstehung wiedergegeben, sondern nach den Nummern geordnet, so dass die Entstehenszusammenhänge der Sätze nicht mehr ersichtlich sind. Auch der Anhang ist nicht ganz unstrittig. Wittgenstein fand Russells Vorwort so un-zutreffend, dass er sein Buch lieber gar nicht als mit einer solchen Einführung veröffentlicht sehen wollte. Als historischer Text ist das Vorwort dennoch informativ, und als solchen sollte man es auch lesen.

Ein gutes Gegengewicht dazu ist Ramseys Rezension der englischen Erstausgabe des Tractatus (die schließlich doch mit Russells Vorwort erschienen war). Ramsey betrachtet im Gegensatz zu Russell die Lehre von der Nichtreferentialität der Logik als interessantesten Aspekt des Buchs, legt aber auch den Finger auf einige der wunden Stellen im System. Seine Kritik hat später zur Revision und Weiterentwicklung einiger Aspekte des Tractatus beigetragen.

 

Ausgaben

Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus Logico-philosophicus. Kritische Edition. Herausgegeben von Brian McGuinness und Joachim Schulte. 310 S., Ln., DM 98.-, 1989, als Taschenbuch: stw 1359, 310 S., kt., DM 30.--, 1998, Suhrkamp, Frankfurt.

Tractatus logico-philosophicus. 1963. 115 S., Edition Suhrkamp 12, kt., DM 10.80. Diesselbe Ausgabe als Bibliothek Suhrkamp, 120 S., Bibliothek Suhrkamp 1322, DM 19.80, beide Suhrkamp, Frankfurt.

Wittgenstein, Ludwig. Werkausgabe in 8 Bänden. Band 1: Tractatus logico-philoso- phicus. Tagebücher 1914-16. Philosophische Untersuchungen. 621 S., Ln., DM 68.--, als Taschenbuch: stw 501, kt., DM 32.80, 1984, Suhrkamp, Frankfurt

 

Ausgewählte Literatur

Black, Max: A Companion to Wittgenstein's Tractatus. £ 38.95, 1964, Cornell University Press.

Börncke, Frank/Roser, Andreas (Hrsg.): Konkordanz zu Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus. Mit einem Vorwort von Joachim Schulte. 216 S., DM 118.--, 1995, Georg Olms, Hildesheim.

Finch, H.L.: Wittgenstein - the Early Philosophy. 1971, Humanities Press, New York.

Fogelin, R.J.: Wittgenstein. £ 15.--, 1996, The Arguments of the Philosophers, Routledge, London.

Frege, Gottlob: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Herausgegeben von Günther Patzig, 7. Auflage 1994, Kleine Vandenhoeck-Reihe 1144, DM 12.80, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

Frege, Gottlob: Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formalsprache des reinen Denkens. Halle 1879, Neudruck Hrsg. I. Angelelli, Wissenschaftliche Buch- gesellschaft, Darmstadt.

Frongia, Guido / McGuinness, Brian: Wittgenstein - A Bibliographical Guide. 1990, Blackwell, Oxford.

Janik, Allan/Toulmin, Stephan: Wittgenstein's Vienna. Pbk., £ 12.--, Elephant Paperbacks. Deutsche Übersetzung: Wittgensteins Wien, 332 S., DM 51.80. 1998, Döcker, München/Wien.

Kenny, Anthony: Wittgenstein. London: Allan Lane 1972, deutsche Übersetzung: Wittgenstein. 1974, Suhrkamp, Frankfurt/ Main.

Mounce, H.O.: Wittgenstein's Tractatus. An Introduction. 1981, Blackwell, Oxford.

Niedermair, Klaus: Wittgensteins Tractatus und die Selbstbezüglichkeit der Sprache. 1987, Peter Lang, Frankfurt.

Plochmann, G.K./Lawson, J.B.: Terms in their Propositional Contexts in Wittgenstein's Tractatus. An Index. 1962, Southern lllinois University Press

Ramsey, F.: "Review of Tractatus", in I.M. Copi and R.W. Beard: Essays on Wittgenstein's Tractatus, 1966, Routledge and Kegan Paul, London, S. 9-25.

Russell, Bertrand: "On Denoting", in Mind Vol. 14,1905.

Scholz, Oliver: "Tractatus Logico-philosophicus", in: Lexikon der philosophischen Werke, Hrsg. Julian Nida-Rümelin, Kröner, Stuttgart 1988.

Schulte, Joachim: Wittgenstein. Eine Einführung. 248 S., kt., DM 11.--, 1989, Re- clam UB 8564, Reclam, Stuttgart.

Varga von Kibed, M.: "Zur formalen Rekonstruktion der allgemeinen Wahrheitsfunktion im Tractatus", in Akten des 14. Internationalen Wittgenstein-Symposiums,

Kirchberg, 1991, Hölder, Pichler, Tempski Wien, S.28-34.

Vossenkuhl, W.: Ludwig Wittgenstein. 368 S., kt., DM 29.80, Beck'sche Reihe Denker, 1995, C.H. Beck, München.

Vossenkuhl, Wilhelm (Hrg.): Ludwig Wittgenstein. Tractatus Logico-Philosophicus. Reihe: Klassiker auslegen. 260 S., DM 29.80, 2000, Akademie-Verlag, Berlin.

Autorin

Verena Mayer ist Privatdozentin für Philosophie an der Universität München. Von ihr erschien 1997: "Semantischer Holismus. Eine Einführung" (Akademie-Verlag, Berlin) und 1996 "Gottlob Frege" (Beck Verlag, Reihe Denker)