Als Ritterschule wird in der Literatur ein Kreis von Philosophen bezeichnet, die als "Schüler" von Joachim Ritter (1903 - 1974) dessen bildungspolitisches & philosophiegeschichtliches Engagement unterstützten.
Joachim Ritter gehört zu den einflussreichsten Philosophen in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg und trug maßgeblich zur so genannten Rehabilitierung der praktischen Philosophie in Deutschland bei. Von 1946 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1968 war er ordentlicher Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, unterbrochen von einer Gastprofessur in Istanbul (1953–1955).
Der Ritter-Schule (gelegentlich auch Münsteraner Schule) werden insbesondere die folgenden Denker zugeordnet:
- Günther Bien (1936–2023)
- Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019)
- Wilhelm Goerdt (1921–2014)
- Karlfried Gründer (1928–2011)
- Max Imdahl (1925–1988)
- Martin Kriele (1931–2020)
- Hermann Lübbe (* 1926)
- Odo Marquard (1928–2015)
- Reinhart Maurer (* 1935)
- Ludger Oeing-Hanhoff (1923–1986)
- Willi Oelmüller (1930–1999)
- Günter Rohrmoser (1927–2008)
- Wilhelm Schmidt-Biggemann (* 1946)
- Robert Spaemann (1927–2018)
- Bernard Willms (1931–1991)
Collegium Philosophicum
Seit 1947 hielt Joachim Ritter in Münster ein Aufbauseminar ab, das unter dem Namen Collegium Philosophicum bekannt war, zunächst in einer Baracke vor dem Münsteraner Schloss mit etwa 10 bis 12 Teilnehmern. In der späteren Entwicklung zeigte sich, das der Begriff "Schule" insofern problematisch ist, dass „die Ritterschüler“ hinsichtlich der konkreten Positionierung eher heterogen waren.
"Weniger durch charismatische Qualitäten als vielmehr durch vertrauensvolle persönliche Beziehungen und Fürsorge seinen Schülern gegenüber bewerkstelligte Ritter den Zusammenhalt seines Collegium Philosophicum. Seine weitläufigen Verbindungen zu anderen einflussreichen Intellektuellen der 1950/60er Jahre wie Helmut Schelsky, Carl Schmitt, Hans Freyer oder Arnold Gehlen, aber auch seine Bereitschaft, die Meisterschüler eigene Wege gehen zu lassen, unterstreichen die Offenheit des Kreises. Es gab aber durchaus auch Spannungen, etwa als im Sommer 1949 Lübbe, Gründer und Marquard Münster Richtung Freiburg, wo Heidegger lehrte, verließen.
„Der Kreis war kein unverbindlicher Diskussionsclub. Was ihn zusammenhielt, war … die Gemeinsamkeit von Fragestellungen“ beschrieb Spaemann rückblickend das Collegium. Mit der aktuellen Diskussion vertraut war man schon dadurch, dass im Ritterschen Oberseminar wichtige Neuerscheinungen diskutiert wurden. Geprägt waren diese Rezeptions und Diskussionsprozesse von Ritters praxisbezogenem Fragestil, der mit der Frage „Was geschieht hier?“ die Erfahrung der Geschichte in den Mittelpunkt stellte. In dieser Herangehensweise war „Einsicht nicht ein Akt der Subsumtion, sondern: das Allgemeine wird in diesem Bestimmten hier erfahren“ beschrieb Karlfried Gründer die Methode Ritters. Diese historischhermeneutische Methode verbot eine Konzentration auf einseitiges systematisches Philosophieren und beförderte vielmehr eine historische Herangehensweise, die zunächst ein „Einfühlen“ in das jeweils Intendierte verlangte, bevor es zu einer Urteilsbildung kam. Dahinter stand das Bewusstsein von der Historizität jeder Semantik, die naivunreflektierten Sprachgebrauch ausschließt." [Quelle: www.information-philosophie.de]
Positionen
Die Ritter-Schule (u.a. Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann, Günter Rohrmoser, Ludger Oeing-Hanhoff und Hans Schrimpf) vertritt keine gemeinsame kohärente philosophische Lehre; sie kann allerdings als Versuch verstanden werden, an eine hermeneutische Tradition anzuknüpfen, die sich von Hegels Maxime leitet, wonach es in der Philosophie darauf ankommt, zu sehen, was die Wirklichkeit ist, und die in der Wirklichkeit enthaltene Vernunft darzustellen und auszudrücken. Die „Ritter-Schule“ wurde oft als „neokonservativ“, „wertkonservativ“ sowie „modernekonservativ“ bezeichnet.
In der Philosophie der DDR wurde die Marxismuskritik von Ritter, Rohrmoser und anderen bisweilen als „ Kreuzzug [...] gegen den Marxismus“ empfunden. Ritter und viele seiner Schüler distanzierten sich etwa von Vertretern der „Frankfurter Schule“, deren Ideen sie als „Sozialismus-Romantik“ bezeichneten.
Neben Odo Marquard war Karlfried Gründer einer der wenigen, auf den die ‚kritische Theorie‘ und insbesondere das Werk Theodor W. Adornos nicht ohne Einfluss geblieben war.
Als liberal-konservative Alternative zur „Frankfurter Schule“ strebte die politische Philosophie der Ritter-Schule eine Bejahung des Staates und seiner Institutionen an, die die faktische Legitimität der demokratisch verfassten Bundesrepublik auf Grundlage des Grundgesetzes betonte. Somit kann sie auch als philosophisches Rückgrat und Teil der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik betrachtet werden.
In der praktischen Philosophie sind Joachim Ritter und viele seiner Schüler für den Neoaristotelismus bekannt, zu dem etwa auch Ritters Verteidigung des klassischen Naturrechtsbegriffs gehört. Diese Position wurde sowohl als systematische These z. B. von Habermas angegriffen, als auch etwa von Karl-Otto Apel als ungenaue Interpretation der Leheren des Aristoteles kritisiert.
Entwicklung
Die „Ritter-Schule“ etwa wird als „Hegel-konformistisch“ bezeichnet. Unter Ritters Schülern befürworten manche abschwächende, manche verstärkende Modifikationen. Maurer und Rohrmoser etwa haben Ritters „schulbildende“ Interpretation des politischen Denkens Hegels, die etwa das bekannte Theorem einer „Doppelstruktur der Moderne“ enthält, „theologisch und politisch modifiziert“.
Am bekanntesten ist vielleicht das sogenannte Kompensationsmodell: Kultur kompensiert die moderne Rationalisierung und Objektivierung der Lebenswelt, etwa durch Ästhetisierung.
Odo Marquard hat die „Ritter-Schule“ als den „Flügel des hermeneutischen Denkens […] bezeichnet, der die praktische Philosophie rehabilitierte “.
"Eine Vielzahl der Collegiaten wurde in der Zeit expansiver Hochschulreformen der 1960er Jahre zu Hochschulprofessoren. Ritters Engagement als Universitätsreformer kam ihnen dabei ebenso zugute wie die Tatsache, dass der mindestens ebenso einflussreiche Helmut Schelsky seit 1960 auch in Münster lehrte. Viele der RitterSchüler wirkten in bedeutenden Projekten und Gesprächskreisen. So spielten bei der Konferenzserie „Poetik und Hermeneutik“, 1963 in Gießen ins Leben gerufen und durch zahlreiche profilierte Tagungsbände bekannt, immer wieder RitterSchüler wie Marquard, Lübbe, Kriele, Gründer oder Spaemann eine wichtige Rolle.
In den Evangelischen Akademien und anderen Tagungsrunden waren sie zugegen; für die großen wissenschaftlich engagierten Stiftungen waren sie als Gutachter tätig und den renommierten wissenschaftlichen Akademien der Bundesländer gehörten auch einige von ihnen an. Überdies waren Lübbe (1975-1978) und Marquard (1985-1987) jeweils Präsidenten der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland. Der umtriebigste unter den RitterSchülern, Hermann Lübbe, wurde nicht nur frühzeitig Staatssekretär in der nordrheinwestfälischen Landesregierung (1966-1970), sondern beriet – ebenso wie Spaemann – Landes und Bundesregierungen. Lübbes Einfluss war bis in die Reden von Helmut Kohl zu spüren, der Regierung Späth in BadenWürttemberg diente er jahrelang als Berater. Ernst Wolfgang Böckenförde stieg auf bis zum Bundesverfassungsrichter; Martin Kriele war Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes NordrheinWestfalen. Was Bestand hatte, war die Verbundenheit der ehemaligen Mitglieder des Collegium Philosophicum gegenüber ihrem Lehrer und auch untereinander." [Quelle: www.information-philosophie.de]
Literatur
- Ulrich Dierse: Joachim Ritter und seine Schüler. In: Anton Hügli, Paul Lübcke (Hrsg.): Philosophie im 20. Jahrhundert. Band 1: Phänomenologie, Hermeneutik, Existenzphilosophie und kritische Theorie. Rowohlt, Reinbek 1992, ISBN 3-499-55455-0, S. 237–278 (Rowohlts Enzyklopädie 455)
- Jens Thiel: Akademische „Zinnsoldaten“? Karrieren deutscher Geisteswissenschaftler zwischen Beruf und Berufung (1933/1945). In: Rüdiger vom Bruch, Uta Gerhardt, Aleksandra Pawliczek (Hrsg.): Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Steiner, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-515-08965-4, S. 167–194
- Henning Ottmann: Joachim Ritter. In: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Von Adorno bis v. Wright (= Kröners Taschenausgabe. Band 423). Kröner, Stuttgart 1991, ISBN 3-520-42301-4
- Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 3-525-36842-9 (Bürgertum Neue Folge, Studien zur Zivilgesellschaft Band 3); Zugleich: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 2004
- Georg Lohmann: Neokonservative Antworten auf moderne Sinnverlusterfahrungen. Über Odo Marquard, Hermann Lübbe und Robert Spaemann. In: Richard Faber (Hrsg.): Konservatismus in Geschichte und Gegenwart. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1991, ISBN 3-88479-592-9