PhilosophiePhilosophie

05 2008

Christian Dries:
Vorfahrt für Tätigkeit

Reflexionen zu einer philosophisch inspirierten Reform der Arbeitsgesellschaft

Trotz aller Arbeitsmarktreformen und trotz (noch) guter Konjunktur ist das Schreckgespenst der Arbeitslosigkeit nicht gebannt. Und diese hat viele Gesichter. Sie kaschiert sich im Niedriglohnsektor, in Teilzeit, prekärer Beschäftigung und verlängerten Ausbildungszeiten. Sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeit wird für den Lebensunterhalt der Bevölkerungsmehrheit immer unwichtiger. Hannah Arendt hat eine solche Entwicklung, die nicht auf die Bundesrepublik beschränkt ist, in Vita activa vor 50 Jahren prognostiziert und befürchtet: „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist.“ (S. 13)

Für Deutschland lässt sich das statistisch eindrucksvoll belegen: Seit 1882 hat sich die Arbeitszeit, die eine Gesellschaft pro Jahr insgesamt für ihre Erhaltung, Sicherheit, Bildung und Unterhaltung abzüglich privater Haus- und Heimarbeit aufwendet, mehr als halbiert – bei gleichzeitig steigendem Bruttosozialprodukt. Die Binsenwahrheit der Volks wirte, Arbeit sei immer vorhanden, ist falsch – übrigens auch auf der kulturellen Ebene der Gesellschaft: Nicht alles, was für abstrakte makroökonomische Modelle und Statistiken noch „Arbeit“ ist, wird von der Bevölkerung auch als solche akzeptiert. Der Arbeitsbegriff ist immer schon normativ aufgeladen, was an der deutschen Mindestlohndebatte deutlich wird. Kurzum: Hannah Arendt hat Recht behalten. Und zwar mehr, als uns lieb sein kann.

Gegen produktivitätsbedingten Arbeitsplatzabbau spricht aus volks- und betriebswirtschaftlicher Sicht wenig. Auch Arendt hätte dem womöglich nicht widersprochen. Ihr berühmtes Diktum verweist jedoch auf ein viel tiefer liegendes Problem: Dass nach dem Ende der (Erwerbs-)Arbeit immer noch die Arbeitsgesellschaft da ist. Seit die Neuzeit im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen hat, „theoretisch die Arbeit zu verherrlichen“ (Arendt), sie zum Ausgangspunkt methodischer Lebensführung und letztlich gar einer protestantischen Arbeitsethik (Max Weber) zu machen, leben wir in paradoxen Verhältnissen: Obwohl die (Erwerbs-)Arbeit immer weniger wird, arbeiten wir alle immer mehr.

Der Wiener Philosoph Konrad Liessmann spricht von einer regelrechten „Laborisierung“ menschlicher Tätigkeiten. Die Arbeit, so Liessmann, habe sich zum universellen Ausdruck jeglicher Lebenstätigkeit entwickelt, weil wir zunehmend alle Tätigkeiten, die wir wertschätzen, als Arbeit klassifizieren müssen. Daher arbeiten wir, sofern wir für unsere Tätigkeit Lohn bekommen, aber auch, wenn wir für Freunde unentgeltlich den Rasen mähen. Wir verrichten Hausarbeit, Beziehungs- und Erziehungsarbeit, nach Feierabend wartet der Workout auf uns, unsere Freundschaften pflegen wir mittels Networking, während wir seelische Erschütterungen in Trauerarbeit abwickeln. Fazit: Die (Erwerbs )Arbeit ist mit ihren „dahinterstehenden Leistungs- und Messbarkeitsansprüchen zum impliziten und expliziten Paradigma unseres Daseins selbst geworden.“ (Liessmann) Auf allen gesellschaftlichen Ebenen hat sie die Rolle eines Generalschlüssels übernommen. Sie ist nicht nur Grundlage der Wertschöpfung und Wohlstandsmehrung, sondern auch des persönlichen Lebenssinns. Sie strukturiert den Alltag, vermittelt soziale Beziehungen, gesellschaftliche Teilhabe und Status, über den sich persönliche Identität konstruieren bzw. stabilisieren lässt.

Die (Erwerbs-)Arbeit erfüllt damit in modernen kapitalistischen Gesellschaften zwei fundamentale Funktionen: Erstens ist und bleibt sie, auch bei sinkendem Arbeitsvolumen, die Basis dessen, was Karl Marx das „Reich der Notwendigkeit“ genannt hat. In Deutschland finanziert Erwerbsarbeit zudem die solidarischen Versicherungssysteme. Zweitens ist sie zugleich der tragende Teil des gesellschaftlichen wie individuellen Selbstverständnisses und damit omnipräsent – auf der strukturellen und kulturellen Ebene der Gesellschaft.
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