PhilosophiePhilosophie

ESSAY

Wolfgang Welsch:
Welsch: Anthropologie im Umbruch

aus Heft 2/2011


Das Bild vom Menschen neu buchstabieren

Das herkömmliche Bild vom Menschen ist unhaltbar und sollte durch ein anderes ersetzt werden. In den Wissenschaften sind in den letzten Jahrzehnten Einsichten gewonnen worden, die Grundpunkte des herkömmlichen Selbstverständnisses umstürzen oder neu zu buchstabieren verlangen. So hat die Evolutionsbiologie gezeigt, dass vermeintlich mensch-exklusive Eigenschaften – Rationalität, Altruismus etc. – sich schon bei unseren entfernten und nahen Verwandten finden. Die Evolutionäre Anthropologie hat uns verstehen lassen, wie wir Menschen nicht durch göttliche Begabung, sondern infolge evolutionärer Veränderungen den Weg zur Kultur gefunden haben. Die Hirnforschung hat auf eine immense evolutionäre Kontinuität der Organisation des Gehirns bis zum Menschen hingewiesen. Die Kognitiven Neurowissenschaften und die Kognitionspsychologie haben uns zu verstehen gelehrt, auf welchem Weg die Abstraktionsleistungen, die beim Menschen gewiss immens sind, aus Strategien hervorgegangen sind, die sich schon bei anderen Tieren finden. Und die Philosophie – im allgemeinen eine eher konservative Disziplin - hat sich daran gemacht, solchen Befunden Rechnung zu tragen und eine Anthropologie zu entwerfen, die auf dem Stand des zeitgenössischen Wissens ist.

Das traditionelle Bild vom Menschen

Das Grundbild der konventionellen Anthropologie ist durch zwei Bestimmungen gekennzeichnet:

- Zunächst ist der Mensch ein Lebewesen unter anderen Lebewesen. Er ist ein Tier – lateinisch ein animal. Entsprechend drückt die Standarddefinition des Menschen – als animal rationale – zunächst einmal aus, dass der Mensch grundlegend ein Tier ist.

- Aber der Mensch ist zugleich jenes besondere Tier, das sich von allen anderen Tieren dadurch unterscheidet, dass er über Rationalität verfügt. Der Mensch ist nicht ein schlichtes animal, sondern ein animal rationale – und gar das einzige animal rationale. Rationalität soll ausschließlich uns Menschen, keinem anderen Tier zukommen. Die Rationalität soll der besondere Faktor sein, der das Menschentier zu einem Menschen macht.


Wir Menschen sind also durch Tierheit und Vernünftigkeit gekennzeichnet. Wobei für uns freilich die letztere Komponente, die Vernünftigkeit, die ausschlaggebende ist. Von ihr leitet sich all das her, was uns auszeichnet: unsere Lernfähigkeit, unser Wissen, unsere Kultur, unsere Kunst, unsere Technik. Und natürlich auch der Umstand, dass wir über Sprache verfügen. Das animal rationale – griechisch das zoon logon echon – hat Sprache zum eigentlichen Medium der Rationalität. Die Sprache erlaubt uns die reflexive Verständigung über Sachverhalte, über uns selbst, über die Welt und unsere Stellung in ihr – und in der Sprache bewegen natürlich auch wir uns, wenn wir uns hier über Grundfragen der Anthropologie und die Bedeutung der Rationalität austauschen, die uns über die Animalität hinaushebt und uns den Himmel betrachten oder über den Kosmos oder die Götter nachdenken lässt.

Die Götter erwähne ich nicht von ungefähr, denn bei den altgriechischen Philosophen bildeten, neben den Tieren, die Götter den zweiten Bezugspol für die Bestimmung des Menschen. Der Mensch galt als ein Mittelwesen zwischen Göttern und Tieren. In der tier-vergleichenden Perspektive ergab sich, dass wir Tiere sind – aber doch allen anderen Tieren durch unsere Rationalität überlegene Tiere. In der der gott-vergleichenden Perspektive hingegen ergab sich, dass wir, an der vollkommenen Seinsweise der Götter gemessen, noch immer höchst unvollkommene Wesen sind – trotz unserer Rationalität, denn die Götter besitzen vollkommenes Wissen, während unser Wissen nur Stückwerk ist.

Unsere Doppelnatur ist mit einer eindeutigen Bewertung und Zielstellung verbunden. Für uns kommt alles darauf an, uns nicht an unserer niedrigen, tierischen Natur (der animalitas), sondern an unserer höheren, geistigen Natur (der rationalitas) auszurichten. Zu unserer Doppelnatur gehört ein elevatorischer Imperativ. Der Mensch soll sich vom Irdischen lösen und dem Überirdischen zuwenden.

Auf die Frage, woher wir Menschen das uns Auszeichnende, die Rationalität haben, kennt die traditionelle Anthropologie nur eine Antwort: Die Rationalität kann nicht aus der Tierheit erwachsen, sondern muss uns von außen, von oben, aus der Sphäre des Göttlichen zugekommen sein. Aus der Tierheit kann sie schon deshalb nicht entstanden sein,
weil dann gar nicht zu verstehen wäre, warum sie sich nicht auch bei anderen Tieren entwickelt hätte, sondern sich ausschließlich beim Menschen findet. Sie muss also einen nicht-animalischen, einen überirdischen Ursprung haben.

Wie aber kann man sich die Begabung des irdischen Wesens Mensch mit einer überirdischen Rationalität vorstellen? Die einfachste Erklärung war die des Pythagoras, der meinte, dass wir Menschen gar nicht auf der Erde, sondern im Himmel – im Umkreis der Götter – entstanden und erst von dort aus ins irdische Leben gelangt seien. Später lautete durch die Jahrhunderte, ja Jahrtausende die Formel: unser Körper ist irdischer, unsere Seele aber überirdischer Natur. Das letztere gilt zumindest für unseren höchsten Seelenteil, für die rationale Seele. Und in der Folgezeit lehrt der Hauptstrom der traditionellen Anthropologie: unsere körperliche Natur ist irdischen, unsere geistige Natur hingegen ist überirdischen Ursprungs.

Die begriffliche Inkonsistenz dieses Dualismus

Wenn nun die Animalität als solche keine rationalen, die Rationalität als solche keine animalischen Züge in sich tragen kann, dann stellt sich allerdings die Frage, wie diese beiden heterogenen Komponenten verbindbar sein können. Und verbindbar müssen sie sein, wenn wir Menschen nicht hoffnungslos schizophrene, sondern kohärente Wesen sein sollen. Aber so wie diese beiden Komponenten bestimmt sind, gehen sie unmöglich zusammen. Sie sollen ja gänzlich unterschiedlicher Natur, ganz heterogen sein. Unsere Animalität und unsere Rationalität sollen so weit voneinander entfernt sein wie Materielles und Immaterielles. Und sollen dann gleichwohl in uns eine schlüssige Verbindung eingehen. Das aber ist unmöglich. Das ist das Grundproblem der traditionellen Anthropologie, das innerhalb von deren Prämissen nicht zu lösen ist.

Aber nicht wir sind konstitutiv schizophren, sondern dieser traditionelle anthropologische Dualismus ist unhaltbar – auch wenn er sich über zweitausend Jahre lang perpetuiert hat und zum Gemeingut der abendländischen Philosophie geworden ist. Die begriffliche Inkonsistenz bot die schöne Möglichkeit, das Sein des Menschen zu einem großen "Mysterium" zu stilisieren, das allenfalls für Gott durchschaubar sein könnte.

Ein Beispiel dafür ist Pascal. Er rekapituliert zunächst den Topos, „dass wir aus zwei wesensverschiedenen und gegensätzlichen Naturen zusammengesetzt sind“, um dann auf die Unverständlichkeit dieser Auffassung hinzuweisen: „Der Mensch ist sich selbst das rätselhafteste Ding der Natur, denn er kann nicht begreifen, was Körper und noch weniger, was Geist ist und am wenigsten von allem, wie ein Körper mit einem Geist vereint sein könne.“ (Pensées, Fragment 72) Wohlgeredet, möchte man da sagen. Aber dann geht Pascal nicht etwa zur fälligen Kritik an der begrifflichen Inkonsistenz der herkömmlichen Auffassung über, sondern nobilitiert sie als Mysterium: „Das ist der Gipfel aller Schwierigkeiten, und indessen ist es unser eigenes Wesen.“ Die höchstgradige Schwierigkeit soll uns auf eine Grenze unserer Vernunft hinweisen – worauf dann bald die Empfehlung zur „Unterwerfung der Vernunft“ unter Gott folgt, der „die Schwierigkeit unseres Wesens für uns unlösbar haben wollte“.

Fragen wir noch einmal, warum man in das dargestellte Dilemma geriet und sich mit der offenkundigen Ungereimtheit abfand. Jedermann war klar, dass Rationalität für uns Menschen essentiell ist (erste Prämisse – und ich sehe keinen Grund, an dieser Prämisse zu zweifeln.). Für ebenso klar galt (zweite Prämisse), dass die Rationalität nicht aus der Animalität ableitbar ist. Also musste sie aus einer anderen Ordnung stammen. Die beiden Komponenten des Menschen – Animalität und Rationalität – mussten also heterogen sein. Das war die Grundkonstellation. Sie zog zwar das gravierende Problem nach sich, wie diese heterogenen Komponenten dann im Menschen verbunden sein können. Aber da die beiden Prämissen unumstößlich schienen, nahm man diese unliebsame Konsequenz hin und hat sie allenfalls kaschiert oder verklärt.

Eine Alternative hätte nur darin bestanden, auf einen möglichen Übergang von Animalität zu Rationalität hinauszudenken. Aber das war erstens unplausibel: warum sollte sich Rationalität dann ausschließlich beim Menschen entwickelt haben? Und es war zweitens und vor allem inakzeptabel, denn es wäre – jedenfalls dem Anschein nach – auf eine Degradierung des Menschen zu bloß einem Tier unter Tieren hinausgelaufen. Man fand sich also gezwungen, einen strikten Dualismus zu vertreten – auch wenn dieser jedem wirklich Denkenden Kopfschmerzen bereiten musste.

Herders Lösungsversuch

Johann Gottfried Herder hat die zweite Prämisse der traditionellen Anthropologie nicht mitgemacht. Er widersprach der Annahme, dass die Besonderheit des Menschen eine natur-externe Erklärung haben müsse. Er sah darin nur die „willkürliche"“Einführung einer „Qualitas occulta“. (Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 715 der Ausgabe des Deutschen Klassikerverlages, auf die sich auch die folgenden Seitenangaben beziehen). Herder zielte auf eine rein internalistische, eine evolutionäre Erklärung der Besonderheit des Menschen. Er wollte verstehen, wie aus einem Tier ein Mensch geworden sein konnte.
Herder zufolge sind wir Menschen von unseren Sinnesvermögen über unsere Handlungsformen bis hin zu unserer Rationalität durch die Verhältnisse auf der Erde geprägt. All unsere Fähigkeiten haben sich in Anpassung an terrestrische Bedingungen gebildet. Noch für unseren Verstand gilt, dass er „ein Verstand der Erde“ ist, "aus Sinnlichkeiten, die uns hier umgeben, allmählich gebildet"“(Ideen zur Geschichte der Menschheit, S. 23). Zudem nimmt Herder die Animalität sehr ernst. Eine seiner frühen Notizen lautet: „Ich bin ein Thier gewesen“. Und in den Ideen zur Geschichte der Menschheit heißt es: „Der Menschen ältere Brüder sind die Tiere.“ (S. 67) Daher galt ihm „jede Geschichte des Menschen“, welche diesen außerhalb seines Verhältnisses zu den Tieren betrachtet, als „mangelhaft“. Anthropologie und Kulturphilosophie müssen im Ansatz „zoologisch und geographisch“ (terrestrisch) sein. (S. 69)
Wie also – das ist Herders Frage – ist der Mensch von seinen terrestrischen und animalischen Vorbedingungen aus zu einem sprachbegabten und vernünftigen Wesen geworden?

Historische Gründe für das neue Desiderat einer evolutionistischen Betrachtung

Betrachten wir kurz einige damalige kulturelle Rahmenbedingungen von Herders neuartiger Fragestellung.
Im 17. Jahrhundert hatte die europäische Kultur erstmals Kenntnis von Menschenaffen erhalten. Deren Ähnlichkeit mit uns Menschen war nicht bloß irritierend, sondern wurde als verstörend empfunden. Bis dahin hatte das Abendland nur Makaken gekannt, deren Ähnlichkeit nicht beunruhigend ist, sondern noch immer genügend Distanz lässt. Erst Menschenaffen besitzen eine wirklich irritierende Nähe zum Menschen. Selbst die christlichen Forschungsreisenden konnten damals nicht umhin, in ihnen halbe Menschen zu sehen.

Zur gleichen Zeit wurde die Mensch-Tier-Schranke von der anderen, der menschlichen Seite her fraglich: Die damals in Südafrika entdeckten Hottentotten (die noch viel primitiver schienen als alle bis dahin bekannten Wilden) kamen den Europäern eher wie Tiere vor denn wie Menschen. Man sah sich außerstande, zwischen den Menschenaffen und den Hottentotten eine Grenze zu ziehen.

Die Abgrenzung wurde also von beiden Seiten her fraglich: von der Tierseite her durch die Menschenaffen, und von der Menschenseite her durch die Hottentotten. Es gab Affen, die Menschen glichen, und Menschen, die Affen glichen.

Im 18. Jahrhundert schlug sich dies schließlich auch in der biologischen Klassifikation nieder. Linné hat ab der zehnten Auflage seines Systema Naturae (1758) den Orang-Utan als eine Menschenart bestimmt, und zwar als „Homo nocturnus“, neben dem Homo sapiens nun als „Homo diurnus“ stand. Ferner wurde damals das alte Theorem von der Unveränderlichkeit und Selbständigkeit der Arten immer brüchiger. Ab der zwölften Ausgabe seines Systema naturae (1766) sah Linné sich gezwungen anzuerkennen, dass die Arten in zeitlicher Sukzession auseinander entstanden sind – der Weg zu einer evolutionistischen Sicht war frei.

Vor diesem Hintergrund wird Herders Projekt besser verständlich, das darauf abzielt, einen möglichen Hervorgang der sprachlichen und kulturellen Fähigkeiten des Menschen im Ausgang von seiner ursprünglich animalischen Natur zu konzipieren. Wobei es Herder, wohlgemerkt, ganz und gar fern lag, die Besonderheiten des Menschen zu minimieren oder die Eigenart des Menschlichen auf Tierisches zu reduzieren, etwa nach Art eines materialistischen Naturalismus. Sondern Herder wollte die menschlichen Besonderheiten als im Ausgang von unserer tierischen Natur entstanden verstehen.

Wie lautet Herders Lösung? Sie findet sich in seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ von 1772. Herder geht dort von einem ersten Sprachtyp aus, der Menschen und Tieren gemeinsam ist: die „Sprache der Empfindung“. (S. 698) Tiere artikulieren Freude oder Schmerz durch Ausrufe, und ebenso tun das die Menschen. Und wenngleich die Artikulationspalette dieser Sprache recht beschränkt ist (weil die „Hauptarten der Empfindung“ es ebenso sind), so handelt es sich doch schon um Sprache im kommunikativen Sinn: „’Ton der Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben Ton versetzen!'“ (S. 707). Diese „Sprache der Empfindung“ sieht Herder als unmittelbar natürlich an. Sie ist, wie er sich ausdrückt, „nicht bloß nicht übermenschlich: sondern offenbar tierisch: das Naturgesetz einer empfindsamen Maschine.“ (S. 708) Auf diese „Sprache der Empfindung“ gesehen, gilt also Herders Satz „Schon als Tier, hat der Mensch Sprache“. (S. 697)

Aber wie steht es mit der spezifisch menschlichen Sprache, mit der uns eigenen syntaktischen und propositionalen Sprache? Ist diese nicht von ganz anderer Art (wenngleich die ursprüngliche Sprache der Empfindung in ihr noch nachklingen mag)? Ja, sie ist auch für Herder von wesentlich anderer Art. Herder ist überzeugt, dass es unmöglich ist, die menschliche Sprache aus der Natursprache der Empfindung abzuleiten. „Alle Tiere, bis auf den stummen Fisch, tönen ihre Empfindung; deswegen aber hat doch kein Tier, selbst nicht das vollkommenste, den geringsten, eigentlichen Anfang zu einer menschlichen Sprache.“ (S. 708) Die menschliche Sprache nimmt also zwar von der Sprache der Empfindungen ihren Ausgang, stellt aber nicht einfach eine kontinuierliche Fortsetzung derselben dar.

Damit lautet Herders Frage: Wie konnte es geschehen, dass der Mensch von der allgemeinen Natursprache der Empfindung zur spezifisch menschlichen Sprache gelangte? Und warum ist keines der anderen Tiere dorthin vorgestoßen? Beim Menschen (und nur beim Menschen) muss offenbar eine grundlegende Veränderung eingetreten sein. Allein so lässt sich der Übergang zur spezifisch menschlichen Sprache erklären.

Die gängige Annahme lautet an dieser Stelle, dass beim Menschen zur tierischen Natur eben die Vernunft hinzugetreten sei. Eine Erklärung dieser Art weist Herder jedoch schroff zurück: „Man hat sich die Vernunft des Menschen als eine neue, ganz abgetrennte Kraft in die Seele hinein gedacht, die dem Menschen als eine Zugabe vor allen Tieren zu eigen geworden“ ist. (S. 717). Aber das ist, „es mögen es so große Philosophen sagen, als da wollen, philosophischer Unsinn.“ Herder lehnt die konventionelle Strategie kategorisch ab, die dort, wo man nicht weiter weiß, einfach eine „willkürliche Qualitas occulta“ einführt – wie den Deus ex machina im Theater. Im Gegensatz zu einer solch externalistischen und mysteriösen Erklärung will Herder eine ganz und gar internalistische und evolutionistische Erklärung der Eigenart des Menschen, seines Schrittes von der Tierheit zur Menschheit, von der Empfindungssprache zur propositionalen Sprache und insgesamt seines Übergangs von Natur zu Kultur geben. Herder will den Menschen, wie er sich ausdrückt, aus dessen „tierischer Ökonomie“ entwickeln. (S. 716)

Sein Lösungsvorschlag lautet: Beim Menschen sind nicht neue und mysteriöse „Kräfte“ von außen hinzugetreten, sondern in der menschlichen Entwicklung ist es dazu gekommen, dass die tierische Ausstattung des Menschen auf einmal eine ganz neuartige „Richtung“ angenommen hat. Die Besonderheit des Menschen soll also nicht einem Zusatz (Rationalität von außen) verdankt, sondern durch eine Reorganisation und Neuausrichtung des tierisch schon vorhandenen Vermögensreservoirs entstanden sein. Der Mensch ist, kurz gesagt, ein in eine neue Richtung gewendetes Tier. Nichts ist hinzugekommen – außer dieser neuen Ausrichtung. Die neuen Fähigkeiten wurden nicht supra-natural induziert, sondern sind evolutiv entstanden.

Nicht ein Sonderfaktor namens „Vernunft“ begründet also laut Herder den „eignen Charakter der Menschheit“ (S. 717), sondern eine im Übergang von der Tierheit zur Menschheit eingetretene neuartige „Richtung [...] aller Kräfte“ ist dafür verantwortlich. Diese Umorganisation hat alle Humanspezifika hervorgetrieben: angefangen vom aufrechten Gang über die Besonderheiten des menschlichen Empfindens und Handelns bis hin zur Vernunfttätigkeit. Die Umorganisation seiner tierischen Natur ist es, die den Menschen vom Tier unterscheidet.

Notabene verdankt sich dieser Neuorganisation also auch unsere Vernunft, die man traditionell als supranaturale Gabe interpretiert und als den ursächlichen Faktor des Menschseins aufgefasst hatte. Die Vernunft ist vielmehr etwas, was die Menschen im Verlauf ihrer Entwicklung langsam „erlangt“ haben. Und ausschlaggebend dafür war (wie für die Genese aller Humancharakteristika auch) die grundlegende Umorganisation unserer tierischen Natur. Durch sie – so Herders Grundthese – ist aus dem Menschentier ein Mensch geworden.

Herder bleibt die entscheidende Auskunft schuldig

Ist damit das Ziel erreicht? Ist Herder das Vorhaben, eine ganz und gar evolutionistische Erklärung der Eigenart des Menschen zu geben, geglückt? Wohl nicht ganz. Denn im Grunde hat Herder das Rätsel nur zurück verschoben. Ihm zufolge soll der entscheidende Faktor für die Menschwerdung in einer in der Entwicklungsgeschichte des Menschen erfolgten internen Umorganisation liegen. Aber wie soll diese zustande gekommen sein? Und warum nur beim Menschen? Und vor allem: Was soll die Menschen denn zu diesem alles entscheidenden Akt einer Umorientierung befähigt haben? Auf diese Fragen bleibt Herder die Antwort schuldig. Er kann die für die Menschwerdung ausschlaggebende Umorientierung seinerseits nicht mehr erklären, sondern nur postulieren. Wie es zu dieser neuen Gesamtausrichtung habe kommen können, bleibt im Dunkeln – also erneut okkult. Herders große Leistung bestand nur darin, überhaupt eine für alles ausschlaggebende Rekonfiguration als Denkmöglichkeit auf die Tagesordnung gesetzt zu haben. Aber wie diese zustande gekommen sein soll, das vermag er nicht zu erklären.

Wie könnte man die bei Herder offengeblieben Lücke füllen? Eine naheliegende Möglichkeit bestünde darin anzunehmen, dass der Mensch eben schon anfänglich eine besondere Fähigkeit besaß, die es ihm dann, anders als den anderen Tieren, ermöglichte, eine Umwendung seiner tierischen Organisation zu bewerkstelligen. Aber abgesehen davon, dass man nicht weiß, welcher Art diese Gabe sollte, wäre eine solche Erklärung insgesamt sehr unbefriedigend: sie würde ja darauf hinauslaufen, dass der Mensch bereits im tierischen Zustand eine exklusiv menschliche Fähigkeit besaß – nur dass diese zunächst noch latent war und sich erst später manifestiert hätte. Aber dann wäre der Mensch eben doch nicht, wie Herder wollte, vom Tier zum Menschen geworden, sondern er wäre schon als „Tier“ das Sonderwesen Mensch gewesen, mit einer einzigartigen Fähigkeit zur Umorganisation begabt – die nur erst später wirklich zum Tragen gekommen wäre. – Hierin liegt übrigens das generelle Problem der gängigen Mängelwesen-Theorien. Sie wollen die Besonderheit des Menschen aus dessen im natürlichen Zustand stiefmütterlicher Ausstattung (seiner Benachteiligung gegenüber allen Tieren) ableiten, übersehen dabei aber, dass sie, eben um den Ausgang aus dieser Mängelverfassung erklären zu können, dann eben doch eine allen Tieren gegenüber exquisite Zusatzfähigkeit des Menschen – im allgemeinen die Lernfähigkeit – annehmen müssen. Eigentlich sind die Mängelwesen-Theorien also Überausstattungs-Theorien.

Herder hat am Ende tatsächlich mit der Vorstellung einer „Naturgabe“ und eines „Keims“ operiert. (S. 716) Das Keim-Modell war zu seiner Zeit ohnehin weit verbreitet, ja es fand sich in der Konzeption des anthropologischen Dualismus bereits seit der Antike überall dort, wo man die supranaturalen Konnotationen der Rationalität vermeiden wollte, andererseits aber die Rationalität doch nicht als aus anderem hervorgehend zu denken vermochte – da blieb eben (von Aristoteles bis Kant) nur die Annahme, dass die Rationalität uns als ursprüngliche Potenz schon innewohnt, die dann zunehmend zur Entfaltung kommt. Was Herder offenbar noch fehlte, war ein Modell, das wirklich zu denken erlaubt, was er denken wollte: den Hervorgang einer Konstellation B aus einer Konstellation A, wobei einerseits gilt, dass die Eigentümlichkeiten von B nicht aus denen von A ableitbar sind (in seinem Beispiel: die Eigenart menschlicher Sprache nicht aus der ursprünglichen Sprache der Empfindung), wobei andererseits aber ebenso gilt, dass B ohne den Hinzutritt irgendwelcher neuer Kräfte oder externer Faktoren aus A hervorgegangen ist. – Das ist genau die Struktur, die man heute als Emergenz bezeichnet.

Lösung durch das Paradigma der Emergenz

„To emerge“ oder „the emergence of some- thing“ bedeutet im Englischen alltagssprachlich das Auftauchen oder Hervortreten von Neuem. Im Deutschen findet sich der Terminus „emergieren“ in der Gelehrtensprache seit dem 18. Jahrhundert. Goethe beispielsweise und Hegel haben ihn verwendet.

In der Wissenschaft wurde Emergenz in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu einem wichtigen Konzept. Es ging darum, die Besonderheit des Biologischen und dann auch des Psychologischen und Mentalen gegenüber dem bloß Physischen oder Chemischen klarzustellen.
Das Konzept der Emergenz besagt, dass es in der Natur etliche Fälle gibt, wo eine Organisationsform B aus einer Organisationsform A hervorgeht und ohne die bleibende Inhärenz von A in B auch gar nicht existieren könnte, dass B aber gleichwohl Eigenschaften aufweist, die sich weder in A finden noch aus A abgeleitet werden können. Als Paradebeispiele gelten die Stufen physischen, lebendigen und mentalen Seins. Die Eigenschaften des Lebendigen sind aus der vollständigen Kenntnis seiner physikalischen und chemischen Bestandteile und der für diese geltenden Gesetze nicht ableitbar, sie sind diesen gegenüber emergent. Das gleiche gilt für mentale Eigenschaften gegenüber ihrer biologischen Basis.

Allerdings gilt zugleich, dass das Lebendige vollständig aus physikalischen und chemischen Komponenten besteht – es kommt da nicht noch jeweils eine magische Entität hinzu. Das Lebendige ist komponentiell vollständig in physikalischen und chemischen Termini zu buchstabieren – und dennoch vermag man auf diesem Weg allein die genuinen Eigenschaften des Lebendigen nicht zu erfassen. Die Morphogenese eines Lebewesens beispielsweise lässt sich nicht einfach aus Gesetzen der Molekülbewegung verstehen, sondern verlangt den spezifischen Blick auf DNA und RNA und deren Wirkungszusammenhänge im Organismus und letztlich auch auf deren evolutionäre Herkunft. Gewiss sind DNA und RNA chemische bzw. physikalische Entitäten, aber ihre organismische Funktion kann nur im Kontext des Organischen ermittelt und verstanden werden.

Wie das Emergenz-Konzept das Herder-Problem löst

Herder suchte den Hervorgang von etwas Neuem (der menschlichen Sprache, der menschlichen Kultur, der menschlichen Seinsweise) aus Altem (aus der ursprünglich tierhaften Verfassung des Menschen) zu verstehen. Er war sich sicher, dass dies ohne Einführung einer externen „qualitas occulta“ zu geschehen habe. Genau das ist der eine wesentliche Faktor im Konzept der Emergenz: es gibt keine magischen Zusätze. Aber da Herder noch die Möglichkeit fehlte, das spontane Entstehen neuer Eigenschaften zu denken, verlegte er die Eigentümlichkeiten des Neuen doch noch einmal als Keim in das Alte. Er vermochte sich nur Entwicklung (die Ausfaltung eines schon vorhandenen Keims), nicht jedoch spontane Neubildung vorzustellen. Das trennte ihn noch vom Konzept der Emergenz. Oder umgekehrt: Erst das letztere erlaubt, Herders Fehlzug (die keimartige Rückimplementierung des Späteren ins Frühere) zu vermeiden und sein eigentliches Projekt, den unprogrammierten Hervorgang von B aus A, die Emergenz von B aus A einzulösen.

Das Konzept der Emergenz hat, nachdem es in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgekommen war, seit den 60er Jahren eine breite, zum Teil auch kritische Diskussion erfahren. Im Kontext der Philosophy of Mind beispielsweise dient das Konzept der Verteidigung der Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit des Mentalen gegenüber rigiden Naturalismen und Reduktionismen, die das Mentale zu einem bloßen Epiphänomen erklären oder es in naher Zukunft vollständig aus naturwissenschaftlich analysierten Gehirnprozessen erklären zu können versprechen.

Im Ansatz denkt das Konzept der Emergenz nicht `von oben', sondern `von unten': alles Höhere ist aus Niedrigerem hervorgegangen. Hier liegt die Verbindung zur evolutionistischen Sichtweise. Eine solche ergibt sich zudem daraus, dass `Emergenz’ `Supervenienz’ impliziert: das Höhere setzt auf Niedrigerem auf und bedarf dessen konstitutiv. Wenn man das Niedrigere wegnimmt, bricht auch das Höhere zusammen. Es gibt kein Denken ohne Gehirn. Dennoch sind die Eigenschaften des Höheren nicht aus denen des Niedrigeren abzuleiten. Das ist die Kernaussage des Konzepts. Man muss, um das Lebendige zu verstehen, das Lebendige studieren – und nicht bloß Physikalisches und Chemisches analysieren. Und man muss, um das Mentale zu verstehen, das Mentale studieren – und nicht bloß physiko-chemisch aufgefasste neuronale Prozesse.
Wenn das Höhere nicht aus dem Niedrigeren abzuleiten ist, dann ist es natürlich auch nicht
darauf reduzierbar. Das Emergenz-Konzept bewahrt so vor den Versuchen eines naturwissenschaftlichen Reduktionismus. Es ist – im Sinn des Supervenienz-Prinzips – gewiss immer wichtig, auch die niedrigeren Ebenen zu analysieren. Aber damit allein ist es nicht getan. Es gilt, zugleich die emergente Eigendynamik des Höheren offenzulegen.

Ist das Emergenz-Konzept naturalistisch? Das kommt darauf an, was man unter „Naturalismus“ versteht. Nimmt man ihn als das Projekt einer Reduktion von allem auf physikalische Prozesse, dann tritt das Emergenz-Paradigma einem solchen Naturalismus strikt entgegen. Wenn man aber „Natur“ weiter versteht, wenn man in ihr eine physikalische, eine chemische und eine biotische Dimension unterscheidet und auch noch die kulturelle „zweite Natur“ des Menschen hinzunimmt, dann verliert der Terminus „Naturalismus“ seinen abschreckenden Beiklang, und dann könnte das Emergenz-Paradigma einen Weg eröffnen, diese „Natur“ insgesamt mit all ihren Dimensionen ohne Verkürzung zu verstehen. Das zählt jedenfalls zu den Zielen des Forschungsprojekts, das in dieser Ringvorlesung vorgestellt wird. Ausstehende Präzisierungen des Emergenz-Konzepts – das ich hier nur im groben Umriss schildern konnte - sollen dazu beitragen.


UNSER AUTOR:

Wolfgang Welsch ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Jena.

Eröffnungsvortrag einer Ringvorlesung an der Universität Jena, die den vom Autor geleiteten und vom BMBF geförderten Forschungsverbund „Interdisziplinäre Anthropologie: Fortwirken der Evolution im Menschen – Humanspezifik – Objektivitätschancen der Erkenntnis“ vorstellte (Nähere Informationen: http://www.uni-jena.de/eho). – Von der Redaktion gekürzte Fassung.