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BERICHT

Christof Rapp:
Was heißt „Aristotelismus“ in der neueren Ethik?


Motive für eine Rückkehr zur antiken Ethik

Die drei wichtigsten Stichwortgeber für den modernen Aristotelismus in Fragen der Ethik, Elizabeth Anscombe, Alasdair MacIntyre und Bernard Williams, betonen die Andersartigkeit der antiken Ethik. Mit dem Rückgriff auf Aristoteles wollen sie Versäumnisse, Verengungen und Fehlentwicklungen der gegenwärtigen Ethik heilen oder kompensieren. Für Anscombe ist das deontologische Vokabular nach der Auflösung der religiösen Autoritäten in der Gegenwart leer geworden und deshalb empfiehlt sie die Rückkehr zu den sogenannten „dicken“ Konzepten der Aristotelischen Tugendethik. MacIntyre diagnostiziert eine moralische Krise der Gegenwart, die ihren stärksten Ausdruck in der Unvereinbarkeit konkurrierender moralischer Standpunkte finde. Da dieser Zustand historisch gesehen eine Folge des misslungenen Projekts der Aufklärung sei, ist für MacIntyre mehr oder weniger alles unverdächtig, was der Aufklärung voraus liegt. Speziell die Antike (und da besonders Aristoteles) ist für ihn vorbildhaft, da deren Modell einer politisch-moralischen Gemeinschaft und das durch sie gemeinschaftlich verfolgte Ziel erst eine Übereinstimmung in moralischen Fragen möglich mache.

Bernard Williams geht auf subtilere Weise vor. Er sieht das System der Moralität als ein Phänomen an, das in der Neuzeit und der Moderne vorherrscht und unsere moralischen Intuitionen durch die Tendenz verwirrt, möglichst viele ethische Erwägungen auf moralische Verpflichtungen zurückzuführen, welche strikt von allen anderen, kontingenten Gründen und Motiven zu unterscheiden sind. Vor diesem Hintergrund dient der Rückgriff auf die Antike dazu, einen weiteren oder ursprünglicheren, jedenfalls einen vom System der Moralität unbelasteten Zugang zu der Vielfalt ethischer Fragen zurück zu gewinnen.

In allen genannten Fällen scheint der Rückgriff auf die Antike geboten; erstens, weil sich die antiken Positionen auf signifikante Weise anders verhalten als bestimmte als unbefriedigend angesehene moderne Positionen, dabei aber dennoch Antworten auf dieselben Fragen geben, die auch wir uns stellen oder uns stellen sollten; zweitens, weil die Antike einer historischen Entwicklung voraus liegt, die zumindest im Ergebnis zu Verengung, Irreführung oder Verschleierung führte.

Die Popularität des Aristoteles

Obwohl die Renaissance antiker Ethiken in den letzten Jahrzehnten fast keine antike Schule und keinen antiken Moralphilosophen ausgespart hat, ist die Popularität von Aristoteles innerhalb dieses Prozesses kein Zufall. Viele Autoren berufen sich auf Aristoteles,

- weil dessen Ethik im Vergleich zur Platonischen mit weniger metaphysischer Hintergrundtheorie belastet scheint;

- weil die Aristotelischen Tugendkataloge offener und besser erweiterbar erscheinen als die Tugendsysteme bei Platon und den Stoikern;

- weil die kognitiven Anforderungen bei Platon und der Stoa bisweilen als unerfüllbar hoch angesehen werden, während Aristoteles demgegenüber realistischer scheint;

- weil von der Mehrzahl der modernen Autoren der abwägenden Haltung des Aristoteles in der Frage der Glückssuffizienz der Tugenden gegenüber dem stoischen Rigorismus der Vorzug eingeräumt wird;

- weil Aristoteles' Haltung zu den nicht-rationalen Antrieben sowie der Rolle der Lust sowohl gegenüber Platon als auch gegenüber den Stoikern als differenzierter und zulassender angesehen wird;

- und vermutlich auch, weil seine Schriften, besonders die ethischen, als leichter zugänglich gelten als die Fragmente der Stoiker und sie eine eindeutigere ethische Zielsetzung verfolgen als die Platonischen Dialoge.

Bei Philosophen, die die Ethik des Aristoteles ernst zu nehmen und sie in die gegenwärtige Diskussion einzuführen versuchen, stößt man schnell auf den Begriff der Tugendethik bzw. virtue ethics. Diese Familie der Tugendethiken ist heute bereits weit ausdifferenziert und hat sich teilweise von den Ursprüngen in der philosophischen Aristoteles-Lektüre erheblich entfernt. Ihre Durchsetzung erfolgte in mehreren Schüben.

Sie begann vor etwas mehr als fünfzig Jahren mit dem Aufsatz Modern Moral Philosophy von Elisabeth Anscombe, es folgten 1977 Peter Geachs Buch The Virtues, 1978 Philippa Foots Virtues and Vices, 1981 Alasdaire MacIntyres After Virtue und 1985 Bernard Williams Ethics and the Limits of Philosophy, 1995 erschien das Buch, das sich selbst rühmt, die erste Monographie über Virtue Ethics zu sein, Michael Slotes From Morality to Virtue und 1999 das Buch, das immerhin noch beanspruchen kann, die erst zweite Monographie zum selben Thema zu sein, nämlich Rosalind Hursthouse's On Virtue Ethics.

Im Anschluss an das eingangs genannte Motiv bei Anscombe verstehen zahlreiche Autoren ihr Eintreten für die Virtue Ethics als eine Kritik an der Dominanz der konsequentialistischen und der deontologischen Ethiken, und dies wiederum heißt, dass sie die antike Philosophie als eine Quelle für andersartige und aus kontingenten Gründen vergessene oder zu Unrecht vernachlässigte Theorieoptionen nutzen. Obwohl es sich hierbei von Beginn an explizit um einen Rückgriff auf historische Modelle handelte, gelang es zumindest der britischen Tugendethik – anders als z.B. der von Deutschland ausgehenden tugendethischen Bewegung in Gestalt von Joseph Pieper – weithin als innovative Bewegung wahrgenommen zu werden, die erfolgreich bestimmten Verengungen und Fehlentwicklungen entgegenwirkt.

Selektive Anknüpfung an die Antike

Betrachtet man in einem weiten Sinne Tugendethiker als solche, die der Tugend einen zentralen Platz einräumen und von einem reichen Tugendbegriff ausgehen, dann bietet sich Aristoteles in der Tat als ein systematisches Vorbild an: In seiner Ethik tauchen Tugenden auf Schritt und Tritt auf, und was den reichen Tugendbegriff angeht, so denke man etwa an Aristoteles' Ausführungen zum Erwerb und zur Definition der Charaktertugenden: Aristoteles macht deutlich, dass man an die tugendhaften Handlungen zwar gewöhnt werden muss, um tugendhaft zu werden, dass die Tugenden aber dennoch nicht nur Verhaltensschemata sind, sondern auf einer Entscheidung zugunsten der tugendhaften Handlung beruhen.

Bei genauerem Hinsehen spielen bei der Selbstcharakterisierung der modernen Tugendethiken bestimmte Slogans eine Rolle, die man so oder ähnlich tatsächlich auch zur Charakterisierung antiker Moralphilosophen verwenden könnte. Dazu gehört der Slogan, die Tugendethik beruhe auf der Frage “Wie sollen wir leben?” oder “Was für eine Art von Person soll ich sein?” im Unterschied zu der Frage “Was ist moralisch geboten?”. Oder der Slogan, dass die Tugendethik eher auf den Agenten als auf die Einzelhandlung schaue; der Slogan, dass die Tugendethik darauf verzichte, allgemeine Regeln anzugeben, oder dass die Tugendethik – im Unterschied eben zu konsequentalistischer und deontologischer Ethik – den (wohlverstandenen) Nutzen des Handelnden nie außer acht lasse. Für alle diese Slogans lassen sich Inspirationen in der Antike, für die meisten auch direkte Vorbilder in der Aristotelischen Ethik finden, wie belastbar diese Gemeinsamkeiten mit den historischen Vorbildern sind, muss sich allerdings erst noch zeigen.

Eine verbreitete Weise der Anknüpfung der tugendethischen Bewegung an Aristoteles lässt sich an Bernard Williams demonstrieren. Für ihn ist Aristoteles paradigmatisch für eine Zugangsweise zur Ethik, die auf den Begriffen des Wohlbefindens und des lebenswerten Lebens basiert. Dabei sind die Aristotelischen Charaktertugenden zentral. „In some part,“ erläutert Williams, „Aristotle's account of the virtues with regard to courage, for instance, or self-control seems very recognizable; in other respects it belongs to another world.“ Kennzeichnend ist die selektive Bezugnahme auf Aristoteles: Die Anknüpfung beschränkt sich auf den Tugendbegriff und auf die Verbindung der Tugenden mit der Frage nach dem guten Leben, viele andere Aspekte werden gezielt ausgeklammert. So gehört zum Wesen der Tugenden die berühmte Lehre von der Tugend als einer Mitte, und die hält Williams nicht nur für obsolet, sondern für geradezu kurios.

Wenn man wie Williams und viele andere Autoren meint, bestimmte kulturspezifische Aspekte ausblenden zu müssen (z.B. Aristoteles’ Einstellung zu Sklaven und Frauen), um überhaupt Verwendung für das antike Modell zu haben, dann ist das eine Sache. Eine ganz andere Sache hingegen ist es, wenn man die Aristotelische Verbindung von Tugenden und gutem Leben aufgreift, jedoch das, was Aristoteles für das Wesen der Tugenden hält, z.B. dass es sich dabei um eine Mitte handelt, bestreitet. Dann kann die daraus resultierende Verbindung zwischen dem antiken Vorbild und dem modernen neu-aristotelischen Modell natürlich nur noch eine recht vage sein.

Ob es auch eine substantiellere Verbindung zu den vermeintlich antiken Vorbilder gibt, hängt daher nicht unwesentlich davon ab, wie man die Rolle der Tugenden oder den Zusammenhang von Tugend und gutem Leben im einzelnen konstruiert. Dabei kann man zunächst vier Arten des modernen expliziten Bezuges auf Aristoteles unterscheiden: Die erste beruft sich auf den tugendhaften Agenten, die zweite auf bestimmte Handlungstypen, die dritte auf bestimmte kognitive Fähigkeiten, durch die eine Situation erfasst wird, und die vierte auf ein bestimmtes Ziel.

Die Berufung auf den tugendhaften Agenten

Das Vokabular einer jeden Tugendethik und damit auch das antike Tugendvokabular ist im Vergleich mit dem deontologischen Vokabular per se eher personen- als handlungsbeschreibend. Anstatt von erlaubten, verbotenen und gebotenen Handlungen spricht die Tugendethik eher von gerechten, besonnenen oder tapferen Personen. Moderne Tugendethiker knüpfen in der Regel zudem an Aristoteles’ Rede von der tugendhaften hexis oder dem tugendhaften Habitus an. Damit meint dieser langfristig erworbene Einstellungen, Haltungen oder Dispositionen.

Allerdings ist das ‚aretaische’, auf Tugenden bezogene Vokabular noch kein hartes Kriterium für eine strikte Tugendethik, zumal Handlungen auch als gerecht, fromm oder tapfer bezeichnet werden. Weder mit dem Vokabular allein noch mit der Theorie des Habitus ist entschieden, ob der Habitus gerecht heißt, weil er gerechte Handlungen ermöglicht oder ob Handlungen gerecht heißen, weil es sich um die Art von Handlung handelt, die aus einem gerechten Habitus resultiert.

In der Literatur wird oft folgende Weise, das Kriterium der Agenten-Bezogenheit auf eine Agenten-Basiertheit zuzuspitzen, als das Kriterium für das Vorliegen einer genuinen Tugendethik gehandelt: Gut, richtig, geboten sei demnach das, was die tugendhafte Person in einer vergleichbaren Situation tun würde, verboten, schlecht bzw. lasterhaft sei hingegen das, was die tugendhafte Person unter keinen Umständen tun würde.

Diese agentenbasierte Lesart der Tugendethik kann sich auf verschiedene Anhaltspunkte bei Aristoteles und überhaupt in der antiken Moralphilosophie stützen. So sagt Aristoteles, wenn er die Tugend als eine Mitte bestimmt, sie sei eine Mitte für uns, und zwar so, wie es der orthos logos, die richtige Überlegung, und der phronimos, die praktisch vernünftige oder weise Person, bestimmen würde. Letzte Instanz für die Bestimmung der je relevanten Mitte oder, allgemein gesagt, dafür, ob eine bestimmte Handlung richtig oder geboten ist, kann demnach nur eine tugendhafte Person sein.

Diese Idee drückt schon in der antiken Ethik ein bestimmtes Misstrauen, vielleicht nicht gegen allgemeine Regeln und Vorschriften, aber gegen die Unhintergehbarkeit von allgemeinen Regeln und Vorschriften aus. Platon zum Beispiel hat in seiner Politeia mehrere Versuche, die Gerechtigkeit durch allgemeine Handlungsregeln zu bestimmen, scheitern lassen, um sie dann als eine personale Eigenschaft, die sich in der wohlgeordneten Seele zeigt, neu zu bestimmen. So wird z. B. die handlungsanleitende Formel „jedem das Seinige geben“ als Definition für die Tugend der Gerechtigkeit zurückgewiesen, weil es unter bestimmten Umständen, z.B. wenn der vom Wahnsinn besessene Freund die bei uns deponierten Waffen zurückverlange, nicht richtig sein könne, diesem die Waffen auszuhändigen, während doch der wirklich Tugendhafte oder Gerechte in jeder Situation das Richtige tun würde. Es ist daher immer Sache einer personalen Kompetenz, und nicht der Anwendung allgemeiner Regeln, das in jedem Einzelfall Richtige zu treffen.

Bei Aristoteles selbst finden wir Beispiele dieser Art vor allem im Kontext der Diskussion der Billigkeit, die als eine Tugend auftritt, mit der unter anderem Versäumnisse von geschriebenem Recht kompensiert werden können: Wenn, so ein Beispiel, das Schlagen einer anderen Person mit einem Metallstück einen eigenen gesetzlichen Tatbestand darstellt, dann wäre es Sache der personalen Kompetenz der Billigkeit zu sehen, ob jemand, der einen anderen mit der Hand schlägt, an der er einen metallischen Ringfinger trägt, tatsächlich unter die gesetzliche Beschreibung „mit einem Metall schlagend“ fallen soll.

Handlungsbasierte Tugendethik

Die agentenbasierte Ausgestaltung der Tugendethik hat also eine tragfähige intuitive Grundlage in der antiken und speziell der Aristotelischen Ethik. Aber die Präzisierung und Zuspitzung des Kriteriums für eine moderne agentenbasierte Tugendethik hat theoretische Konsequenzen, die man nicht ohne weiteres in der Aristotelischen Ethik wieder erkennen kann. Denn es geht letztlich darum, die einzige und letzte Autorität, durch die festgelegt wird, was zu tun ist und was nicht, an der tugendhaften Person festzumachen. Gegen eine solche Reduktion wurde schon immer eingewandt, dass sich bei Aristoteles neben dem Verweis auf die tugendhafte Person noch andere deontologische Quellen finden und dass trotz des Vorherrschens des aretaischen Vokabulars keine Reduktion des deontologischen Vokabulars auf das aretaische festzustellen sei. So spricht Aristoteles an vielen Stellen ganz unbefangen davon, dass wir etwas in bestimmter Weise tun sollen, dass das Edle/ Schöne (kalon) zu tun sei, dass es gerecht sei, dies und das zu tun, ja auch davon, dass das Gerechte von uns verlange, dies und das zu tun usw. Falls der agenten-basierte Ansatz der Tugendethik daher eine komplette Reduktion des Deontologischen auf das Aretaische zur Folge hätte, wie dies viele moderne Aristoteliker sehen, dann scheint es, als hätte sich diese Nachricht noch nicht bis zu Aristoteles selbst herumgesprochen.

Wie aber verträgt sich das Nebeneinander von aretaischen und deontologischen Momenten bei Aristoteles mit dem vorhin zugunsten der agentenbasierten Deutung Gesagten? Möglicherweise verträgt es sich gar nicht, möglich ist, dass die Aristotelische Theorie in dieser Hinsicht einfach inkonsistent ist. Möglich ist aber auch, dass wir die Momente, die wir vorhin zugunsten einer agentenbasierten Lesart der antiken und aristotelischen Tugendethik angeführt haben, einfach überbewertet haben. Wer zum Beispiel sagt, dass Aristoteles das Beispiel der Billigkeit und ihrer kompensatorischen Funktion gegenüber allgemeinen Regeln tatsächlich als paradigmatisch für den Umgang mit Tugenden angesehen hat, wie man es in den modernen Deutungen gerne sieht? Und wie viel personale Kompetenz wird in der Formel „die Mitte, so wie sie die richtige Überlegung und der phronimos bestimmen würde“ tatsächlich vorausgesetzt? Begründet das Urteil der tugendhaften Person die richtige Mitte zuallererst oder verweist man auf den Tugendhaften nur, weil man nicht explizit angeben kann, worin die Mitte in allen Fällen bestehen würde? Ist es kraft ihrer Tugenden, dass die tugendhafte Person die richtige Mitte bestimmt, oder kraft der Richtigkeit ihrer Überlegung, indem sie also in jedem Fall einen unabhängig bestehenden Standard trifft, dass sie sich zur tugendhaften Person qualifiziert?

Gehen wir einen Schritt weiter. Aristoteles scheint der Auffassung zu sein, dass bestimmte Handlungen bzw. bestimmte Typen von Handlungen, darunter Vatermord und Ehebruch, unter allen Umständen falsch sind. Auch dies brächte die strikt agenten-basierte Lesart in Schwierigkeiten: Wenn wir das und nur das als richtig und geboten ansehen wollen, was auch die tugendhafte Person tun würde, und das und nur das als verboten, was die tugendhafte Person unter keinen Umständen tun würde, dann wäre es vorschnell, bestimmte Handlungstypen ausschließen zu wollen. Denn es scheint ja gerade eine der Pointen bei der Berufung auf eine personale Kompetenz zu sein, dass diese der Anwendung allgemeiner Handlungsregeln überlegen ist. Möglich ist nun, dass Aristoteles nicht mehr sagen möchte, als dass eine tugendhafte Person eben nie Ehebruch und Vatermord begehen würde, so dass diese Handlungsweisen demzufolge auszuschließen sind. Wenn er hingegen darauf insistiert, dass diese Handlungstypen nie und unter keinen Umständen richtig sein können, dann scheint es, dass diese auch dann nicht richtig werden könnten, wenn der Tugendhafte oder wenn alle Tugendhaften sie praktizieren würden. Ist dies der Fall, dann erhalten wir einen anderen Typ von Tugendethik, nämlich den der handlungsbasierten Tugendethik und dieser ist, so scheint es, kaum vereinbar mit dem zuerst behandelten Typ.

Beispiele, die auf das Vorliegen einer handlungsbasierten Tugendethik hinweisen könnten, finden sich, wie angedeutet, bei Aristoteles selbst, und auch einige Neu-Aristoteliker scheinen diesen Typ von Tugendethik im Sinn zu haben, wenn sie eine Rückkehr zu Aristoteles propagieren. Elisabeth Anscombe z. B. dürfte von einer ähnlichen Idee ausgehen, wenn sie in ihrem erwähnten Aufsatz Modern moral Philosophy größten Wert darauf legt, dass es intrinsisch ungerechte Handlungsweisen gibt und diese Auffassung auf die vormoderne Ethik zurückführt. Sobald man die Idee von Handlungsweisen einführt, die dem Typ nach gut oder schlecht sind oder die intrinsisch gut oder schlecht sind, wird der Verweis auf die handelnde tugendhafte Person zweitrangig. Was hat dann dieser Ansatz überhaupt noch mit Tugendethik zu tun, wenn man davon ausgeht, dass sich Tugendethik durch den Fokus auf den Agenten und nicht auf die Handlung auszeichnet?

Die Verbindung besteht meines Erachtens in den Handlungsbeschreibungen nach dem Muster „eine gerechte oder ungerechte Handlung, eine besonnene oder unbesonnene Handlung, eine tapfere oder feige Handlung“. Indem man die Handlungen durch solche aretaischen Begriffe individuiert und klassifiziert, werden sie sofort als tugendhaft oder lasterhaft eingestuft, so dass eine lasterhafte Handlung – und dies scheint das gegen den Konsequentialismus gerichtete Anliegen Anscombes zu sein – nicht durch gute Folgen gut und eine tugendhafte Handlung nicht durch schlechte Folgen schlecht werden kann.

Man kann versucht sein, ein solches Modell bei Aristoteles zu diagnostizieren, wenn man an sein Insistieren auf der Schlechtheit von Vatermord und Ehebruch denkt. Aber auch mit diesem Modell ergeben sich Schwierigkeiten. Zunächst wird man bei Handlungstypen nicht sofort an so allgemeine Kategorien wie „gerecht“ und „ungerecht“ denken, so dass man argumentieren könnte, dass zumindest in diesen Fällen nicht wirklich der Handlungstyp basal ist, sondern dass eine wie auch immer zu klassifizierende Handlung durch eine solche Zuschreibung auf ihre Tugendgemäßheit hin bewertet wird. Andererseits gibt es in dem Aristotelischen Tugendvokabular große Unterschiede hinsichtlich der Körnung von Tugendbeschreibungen: Während auf der einen Seite Tugenden wie Gerechtigkeit sicherlich eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungsweisen subsumieren können, gibt es auf der anderen Seite auch so sonderbare und spezifische Tugenden wie die besondere Art von Großzügigkeit, die man durch aufwendige Spenden für öffentliche Feste zeigt, und die im Grunde nur durch einen einzigen Handlungstyp, nämlich das großzügige Spenden bei öffentlichen Festen, manifestiert wird. Diese zuletzt genannte Tugend ist außerdem ein gutes Beispiel für solche Tugenden, bei denen Kommentatoren meinten, dass die Tugend durch den Handlungstyp bestimmt werden, und dies wäre wiederum ein Indiz für den handlungs-basierten Typ von Tugendethik.

Jedoch finden sich bei Aristoteles auch Fälle von Tugenden, wie die Tapferkeit, wo die Tugend durch eine bestimmte emotionale Reaktion bestimmt wird – bei der Tapferkeit das richtige Maß an Furcht und das richtige Maß an Zuversicht –, so dass hier die tugendgemäße Handlung über die Tugend, und das heißt hier durch eine bestimmte emotionale Disponiertheit bestimmt wird, indem die richtige tapfere Handlung einfach diejenige ist, die das richtige Maß an Furcht und Zuversicht erkennen lässt.

Phronesis- bzw. situationsbezogene Anknüpfungen

Eine dritte neu-aristotelische Weise, die Stellung der Tugend zu bestimmen, findet sich bei McDowell. Sein Zugang passt weder in die erste noch in die zweite Gruppe, bei ihm sind Tugenden besondere kognitive Charakterzüge, eine besondere Art von Sensitivität oder Wahrnehmungsfähigkeit, durch die wir der besonderen Herausforderung einer Situation gewärtig sind bzw. das besondere „evaluative Profil einer Situation“ (so eine Formulierung von Christoph Halbig) erfassen. Diese Sensitivität findet sich eben nur beim Tugendhaften, der Nicht-Tugendhafte würde in einer entsprechenden Situation nichts Besonderes bemerken. Für den oder die Tugendhafte hingegen enthält die Situation selbst eine besondere normative Herausforderung; und zwar eine Art von Herausforderung, die möglicherweise konkurrierende nicht-moralische Gründe zum Verstummen bringt. Für diesen letzteren Zug sieht McDowell ein konkretes Vorbild in der Aristotelischen Unterscheidung zwischen dem Nur-Beherrschten, der die richtigen Dinge widerwillig, d. h. gegen den Widerstand entgegengesetzter Strebungen tut, und dem Tugendhaften, der oder die die richtigen Dinge gerne tut, d. h. keine Strebungen unterhält, die sich der tugendhaften Handlungsweise entgegensetzen würden.

Auch das kognitive Verständnis der Tugend hat ein Vorbild bei Aristoteles, nämlich in dessen Begriff der phronesis, der praktischen Klugheit oder Weisheit. Deren Besonderheit besteht nach Aristoteles darin, unsere praktische Deliberation gut zu machen und zwar nicht im Hinblick auf partikulare Ziele, sondern im Hinblick auf das gute Leben überhaupt. Darüber, wie die phronesis alle diese Kunststücke vollbringen soll, erfahren wir bei Aristoteles selbst deutlich weniger als bei den phronesis-begeisterten Neu-Aristotelikern, zu denen lange vor McDowell auch die der hermeneutischen Schule zugehörigen Aristoteliker gehörten.

Alle diese phronesis-zentrierten Anknüpfungen an Aristoteles nehmen ihre Evidenzen aus ganz wenigen Kapiteln des sechsten Buches der Nikomachischen Ethik. Andere Aspekte der Aristotelischen Diskussion der Tugenden werden weitgehend ausgeklammert, und damit wird zumindest eine Gewichtsverschiebung vorgenommen. Die Betonung des kognitiven Aspekts der Tugenden läuft jedoch dem Aristotelischen Interesse an der Pluralität der Tugenden zuwider und scheint daher eher mit einem Platonischen oder stoischen als mit einem Aristotelischen Zugang vereinbar. Im Falle von McDowell hat der besondere Status moralischer Gründe außerdem eine Folge, die man in der Regel eher mit Platon und der Stoa verknüpft, nämlich dass durch die Abwertung und das Zum-Verstummen-Bringen der nicht-moralischen Gründe das tugendhafte Leben als für die eudaimonia hinreichend erscheint, während Aristoteles selbst an mehreren Stellen eine weniger rigoristische Position einnimmt, indem er den notwendigen Beitrag externer Güter bis zu einem gewissen Grad anerkennt, einer bestimmten Art von Lust einen notwendigen Anteil am Glück zuspricht und schließlich auch bestreitet, dass der sprichwörtliche, über das Rad gespannte Tugendhafte überhaupt glücklich sein könne.

Teleologische Ethik und der intrinsische Wert der Tugenden

Eine vierte neu-aristotelische Weise, die Rolle der Tugenden zu verorten, bringt uns zugleich an bestimmte Grenzen der Tugendethik. In den meisten Modellen werden Tugenden nicht nur als in sich selbst wertvoll angesehen, sondern es wird ihnen ein wichtiger Beitrag oder eine Funktionalität im Hinblick auf die Verwirklichung eines bestimmten Ziels zugesprochen. Diese entspricht im Großen und Ganzen auch der Diskussionslage bei Aristoteles, der von den Tugenden sagt, wir würden sie sowohl um ihrer selbst als auch um der eudaimonia willen wählen.

An verschiedenen Stellen der Politik kritisiert Aristoteles bestimmte gesetzliche Einrichtungen von Staaten dafür, dass sie bestimmte Tugenden, wie zum Beispiel Großzügigkeit oder Besonnenheit beim Umgang mit unseren sexuellen Begierden, überflüssig machen, mit dem Argument, es sei bedauerlich, wenn wir diese Tugenden nicht ausüben könnten. Er hält also die Ausübung von bestimmten Tugenden für wünschenswert, auch wenn sie keine direkte Funktion haben.

Das Verhältnis von Tugenden und Glück wird von Aristoteles in unterschiedlichen theoretischen Modellen beschrieben, manchmal erscheinen sie nur als notwendige Voraussetzungen für das gute Leben, manchmal als Fähigkeiten, die für das gute Leben erforderlichen Güter zu erwerben und zu bewahren, manchmal scheint es, und diese Stellen werden von den meisten Kommentatoren in den Vordergrund gestellt, als seien die Tugenden bzw. ihre Ausübung für das gute Leben selbst konstitutiv. Manchmal räumen Tugenden Schwierigkeiten aus, die uns an einem guten Leben hindern könnten, und beschaffen und bewahren Dinge, die wir zum guten Leben brauchen, manchmal stellt sich die Ausübung der Tugend selbst als Teil des Glücks dar. Im Falle einiger Tugenden, wie z. B. der Gerechtigkeit, scheint sich der Zusammenhang von Tugend und gutem Leben überhaupt nur über die Vorstellung von der gesunden oder wohlgeordneten Seele herstellen zu lassen, zu deren Wohlergehen eben die Gesamtheit der Tugenden gehört.

Je nachdem, wie man nun die Aspekte des intrinsischen Werts der Tugenden und ihrer direkten oder indirekten Funktionalität für ein bestimmtes Ziel gewichtet und mischt, gelangt man zu ganz unterschiedlichen theoretischen Optionen. Und die Aristotelischen Texte lassen zumindest unterschiedliche Gewichtungen und Mischungen zu. Betont man dabei das zu erreichende Ziel und die Funktionalität der Tugenden im Hinblick auf dieses Ziel, dann erhält man einen Ethiktyp, der an sich wenig mit Tugenden zu tun hat, nämlich den Typ einer teleologischen Ethik. Und in der Tat war dies vor dem Siegeszug der Tugendethik die übliche Kategorie, in der man zumindest im deutschsprachigen Bereich die Aristotelische Ethik abzulegen pflegte.

Geht man von einem strikten Begriff von teleologischer Ethik aus, dann bestimmt der Charakter des Ziels allein die Mittel und Wege, die zur Erreichung dieses Ziels zu ergreifen sind, und dieses Modell hat, wie unschwer zu sehen ist, mit den drei vorigen Familien von Neu-Aristotelikern wenig zu tun und scheint mit stärkeren Formen von Tugendethik unvereinbar. Ist dies nun eine Form von aristotelisierendem Modell, das der Vergangenheit angehört und von den tugendethischen Modellen gleichsam ersetzt oder korrigiert wurde? Keineswegs. In dem 1993 erschienen Buch von Thomas Hurka mit dem Titel Perfectionism erklärt der Autor Aristoteles zum paradigmatischen Vertreter des Gedankens der Selbstperfektionierung und versucht die Perfektionsethik als ein explizit teleologisches Modell zu konzipieren, als welches es dem Konsequentialismus eng verwandt sei.

Versteht man die Aristotelische Ethik als den Versuch, ausgehend von dem höchsten Gut, das offenbar alle ohne weiteres mit der eudaimonia zu identifizieren bereit sind, die Ingredienzien für diese eudaimonia zu bestimmen, dann in der Tat scheint es nahe liegend, Aristoteles eher als teleologischen denn als aretaischen Ethiker zu konstruieren.
Die interessante Frage ist jedoch, welche Lebensform wir als eine gute oder glückstaugliche ansehen, und da gehen die Meinungen und besonders auch die Theorien schnell auseinander. Denn die Vorstellung von der eudaimonia als höchstem Gut hat an und für sich noch keinerlei Gehalt, sondern wird erst durch diejenigen Momente mit einem bestimmten Gehalt gefüllt, die sich für das glückliche Leben als konstitutiv erweisen – etwa durch die Tugenden. Dann aber ist das Verhältnis von glücklichem Leben und Tugenden nicht das zwischen einem vorgegebenen Ziel und dem zur Erlangung dieses Ziels erforderlichen Mittel, sondern vielmehr eines, bei dem sich die Tugenden entweder als konstitutiver Inhalt des guten Lebens oder als Vorbedingung zur inhaltlichen Anreicherung des Ziels erweisen. Und damit wiederum bestünde die Abhängigkeit von Ziel und Mittel nicht mehr nur in einer Richtung, sondern in verschiedene Richtungen.

Gemeinschaft, Metaphysik und menschliche Natur

Dass Tugenden und eudaimonia irgendwie zusammenhängen und sich gegenseitig bestimmen – darin sind sich alle Neu-Aristoteliker einig. Woher aber nehmen wir unsere Vorstellungen von der Tugend, bzw. woher nehmen wir unsere Vorstellungen davon, worin das gute oder gelungene Leben besteht? Unter den Neu-Aristotelikern gibt es darauf – auf Stichworte verkürzt – drei Typen von Antworten: Gemeinschaft, Metaphysik und menschliche Natur.

Als besonders „aristotelisch“ gilt es, auf die Rolle der polis und sozialen Gemeinschaft bei der Ausbildung von Vorstellungen über das Gute und das gute Leben hinzuweisen. MacIntyre hat diese Tendenz auf die Spitze getrieben, indem er Tugenden auf das parochiale Gut einer Gemeinschaft ausrichtet und sie dabei nach sozialen Rollen unterscheidet, in die wir hineingewachsen sind und die wir nicht ohne den völligen Verlust aller Verbindlichkeit wieder ablegen können. MacIntyres Auffassung der Aristotelischen Tugenden passt gut zu Aristoteles’ Ausführungen über den Erwerb von Tugenden und die Rolle, die die polis und ihre Gesetze dafür spielen. Seine Relativierung der aristotelischen Tugenden passt allerdings kaum zu denjenigen Stellen, wo Aristoteles über die bei allen Menschen grundsätzlich vergleichbare Ausstattung der menschlichen Seele spricht. MacIntyre löst dieses Problem, indem er die Lektüre der Aristotelischen Politik empfiehlt, wo die Gemeinschaftsgebundenheit der Tugenden besser deutlich werde. Nun ist richtig, dass die Politik in der Tat rollenspezifische und verfassungsrelative Tugenden enthält, jedoch unterscheidet Aristoteles diese ausdrücklich von den „Tugenden der guten Person“, welche eben nicht rollenspezifisch und verfassungsrelativ seien.

Was die Metaphysik betrifft, so gilt die Berufung auf die menschliche Natur als ein typisch „aristotelischer“ Zug. Allerdings weist diese Berufung bei Aristoteles selbst eine signifikante Ambivalenz auf. Zwar zeichne sich der Mensch durch seine Vernunftfähigkeit aus, jedoch ist ihm nicht allein die Vernunft zu eigen, da es in der Natur als ganzer mindestens noch ein weiteres vernünftiges Wesen gebe, nämlich Gott. Die berühmte Auszeichnung der theoretischen Lebensform ergibt sich für Aristoteles daher nicht allein aus der Natur des Menschen – das Proprium des Menschen ist es nämlich, ein vernünftiges und zugleich körperliches Lebewesen zu sein, was eher für die Ausübung der auf den Körper und die soziale Umwelt bezogenen Tugenden spricht –, sondern nur mithilfe eines Brückenprinzips, das da lautet, man solle nach dem Besten in sich selbst leben. Nach dem Besten in sich selbst zu leben, wobei das Beste das mit Gott Gemeinsame sei, ist ein metaphysischer Grundsatz, nicht mehr weit vom Platonischen Prinzip der homoiôsis theô, der Angleichung an Gott, entfernt. Der moderne Ansatz, der diesen Aspekt am ehesten integrieren kann, ist der vorhin schon erwähnte Perfektionismus im Sinne Hurkas.

Die Berufung auf die menschliche Natur unter Neu-Aristotelikern kennt viele verschiedene Ansätze. So nimmt der capability approach von Martha C. Nussbaum und Amartya Sen wichtige Anleihen bei Aristoteles. Philippa Foot versteht in ihrem Buch Natural Goodness den Begriff des guten Menschen oder der guten Person in enger Analogie zu dem, was wir meinen, wenn wir von dem für eine biologische Spezies Guten sprechen. Auch für Rosalind Hursthouse ist die Analogie zum „flourishing“ anderer Spezies instruktiv, wenngleich sie Wert darauf legt, dass dieses „flourishing“ für vernünftige und soziale Wesen bestimmte Unterschiede aufweise.

John McDowell unterscheidet zwei Arten von Naturalismus, deren erste er durch die Annahme charakterisiert, dass aus Annahmen über die Natur des Menschen Handlungsgründe gewonnen werden könnten. Diese Auffassung, die er auch aus verbreiteten Aristoteles-Interpretationen gewinnt, hält er für verfehlt, weil wir als vernünftige Wesen solchen Handlungsgründen immer etwas anderes entgegenhalten können. Jedoch könne man genau diese Vernünftigkeit, die sich bei Aristoteles in der Fähigkeit zur praktischen Weisheit, phronesis, ausdrücke, auch als Ausdruck der Natur des Menschen verstehen, so dass die durch unsere Natur gegebene Fähigkeit zur Vernünftigkeit eine andere, wie er findet, vertretenswerte Form von Naturalismus bedingt, die aus der Natur keine direkten Handlungsgründe gewinnt, jedoch die Fähigkeit, vernünftige Handlungsgründe zu haben.

Im Vergleich zu solchen Positionen bilden die expliziten Berufungen auf die Natur des Menschen bei Aristoteles einen methodisch begrenzten Beitrag und geben zudem nur einen allgemeinen Rahmen vor. Aristoteles ist außerdem – anders als zum Beispiel Nussbaum oder Hursthouse – nirgendwo in seinen ethischen Schriften darum bemüht, die Bedürfnisse des menschlichen Lebens auszubuchstabieren.

Diese Beispiele zeigen, dass Formulierungen wie „Was können wir von Aristoteles lernen?“, „Was können wir anfangen mit Aristoteles?“, „Ist die Antike noch aktuell?“ insoweit irreführend sind, als sie suggerieren, dass bei Fragen der Aktualisierbarkeit antiker Texte der Informationsfluss gewissermaßen nur in eine Richtung laufen würde: Wir schlagen einen Text von Aristoteles auf und finden uns hernach belehrt. Tatsächlich ist die Sache viel komplizierter. Zwar waren die Autoren, die zuerst begannen, von einer Tugendethik zu sprechen, tatsächlich von Aristoteles inspiriert. Aber Aristoteles selbst war schon deshalb kein Tugendethiker, weil er anders als die modernen Aristoteliker kein Interesse hatte, einen dritten Weg neben Konsequentialismus und deontologischer Ethik zu etablieren. Aristoteles hatte ganz andere Sorgen: Er wollte ethische Fragen irgendwo zwischen Eudoxus und Aristipp auf der einen und Platon und Speusipp auf der anderen Seite verorten. Andererseits ist die aus den systematischen Gründen unserer Zeit vorangetriebene Formulierung eines tugendethischen Standpunkts aber durchaus hilfreich, um Aristoteles besser verstehen zu können: Vor fünfzig Jahren hat sich noch niemand gefragt, ob Aristoteles ein Tugendethiker sei oder nicht, ob er moralischer Realist sei oder nicht usw. Dennoch ist es für das Verständnis der aristotelischen Texte allein schon instruktiv, solche Fragen zu stellen, weil sie uns helfen zu sehen, wie weit man eine bestimmte Äußerung des Aristoteles für eine bestimmte These „pressen“ darf und wie sie im Vergleich zu anderen Thesen zu gewichten ist. Deshalb ist die Aktualisierung antiker Autoren keine Einbahnstraße: Hier und da werden Theoreme aus der Antike direkt in eine moderne Debatte implementiert und entfalten dort eine mehr oder weniger gedeihliche Wirkung, zugleich aber wirkt eine solche Aktualisierung auf die Auslegung der antiken Texte zurück.

Die Aktualisierungen funktionieren meistens nur durch starke Selektion und durch aktive Ausblendung weniger wünschenswerter Theoreme. Auch darin zeigt sich die aktive Leistung dessen, der bereit ist, sich von der Antike belehren zu lassen.

UNSER AUTOR:

Christof Rapp ist Professor für antike Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.