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Religion: Agamben über das Heilige und den "homo sacer"


RELIGION

Profanierung: Agamben über das Heilige und den „homo sacer“


Die römischen Juristen wussten genau, was „profanieren“ bedeutet. „Profan“, so schrieb der große Jurist Trebatius, „heißt im eigentlichen das, was zuerst heilig und religiös und nun wieder dem Gebrauch und dem Besitz der Menschen zurückgegeben wird.“ Rein, profan, von heiligen Namen frei ist der Besitz, ist das Ding, das dem allgemeinen Gebrauch der Menschen zurückgegeben wird. Und als Religion lässt sich definieren, was die Dinge, Orte, Tiere oder Menschen dem allgemeinen Gebrauch entzieht und in eine abgesonderte Sphäre versetzt. Die Vor-kehrung, welche die allgemeine Absonderung vollzieht und reguliert, ist das Opfer: durch eine Reihe minutiöser Rituale, die je nach Verschiedenheit der Kulturen variieren, sanktioniert es den Übergang von etwas Heiligem zum Profanen. Wesentlich ist die Zäsur, welche die beiden Sphären voneinander trennt, die Schwelle, die das Opfer (meist ein Tier) überschreiten muss. Was durch einen Ritus abgesondert werden kann, kann durch einen Ritus wieder der profanen Sphäre zurückgegeben werden. Ein Teil des Opfers (die Eingeweide) ist den Göttern vorbehalten, während das übrige von den Menschen verzehrt werden kann. Es reicht, wenn die am Opfer Teilnehmenden dieses Fleisch berühren, damit es profan wird und gegessen werden kann.
Giorgio Agamben nutzt in seinem Essay „Lob der Profanierung“ in

Agamben, Giorgio: Profanierungen. 96 S., kt., € 7.—, 2005, Edition Suhrkamp 2407, Suhrkamp

den Ritus der Profanierung für eine grundlegende Kulturkritik.

Laut Agamben kommt der Ausdruck religio nicht wie allgemein angenommen von reli-gare sondern von relegere, das auf die Gewissenhaftigkeit und die Aufmerksamkeit, die bei den Beziehungen zu Göttern walten sollte, verweist. Religio ist nicht das, was Menschen und Göttern miteinander verbindet, sondern das, was darüber wacht, dass sie voneinander unterschieden bleiben.

Der Übergang vom Heiligen zum Profanen kann auch durch einen völlig unangemesse-nen Gebrauch geschehen – das Spiel. Die Sphäre des Heiligen ist mit der Sphäre des Spiels eng verknüpft. Der größte Teil der Spiele, die wir kennen, stammt von uralten Zeremonien und Ritualen. Das Spiel lenkt die Menschheit von der Sphäre des Heiligen ab, aber ohne diese einfach abzuschaffen. Mit dem Spiel wird der Menschheit vielmehr eine neue Dimension des Gebrauchs geliefert: die Kindern verwandeln, was als ernsthaft betrachtet wurde, in ein Spielzeug. Doch Agamben sieht das Spiel als Organ der Profanierung allerorten am Verfallen. Dass der moderne Mensch nicht mehr zu spielen vermag, zeigt sich darin, dass sich alte und neue Spiele schwindelerregend vervielfachen. Im Spiel sucht der Mensch verzweifelt eine Rückkehr zum Heiligen und zu dessen Riten, und sei es auch nur in Gestalt der abge-schmackten Zeremonien der neuen Religion der Medienspektakel. Fernsehspiele für die Massen gehören zu einer neuen Liturgie und säkularisieren eine unbewusste religiöse Ab-sicht.

Agamben unterscheidet in diesem Sinne zwischen Profanierung und Säkularisierung. Letztere ist eine Form von Verdrängung, welche die Kräfte weiterwirken lässt und
sich auf deren Verschiebung von einem Ort zum anderen beschränkt. So hat die politische Säkularisierung theologischer Begriffe nichts anderes, als die himmlische Monarchie auf die Erde zu versetzen, lässt deren Macht aber unangetastet.

Der Begriff sacer bezeichnet das, was durch den feierlichen Akt der sacratio den Göttern übergeben wurde und schließlich ihnen gehört. Und trotzdem bezeichnet das Adjektiv in dem Ausdruck homo sacer einen Menschen, der, da aus der Gesellschaft ausgestoßen, zwar ungestört getötet, aber nicht den Göttern geopfert werden darf. Was hat sich hier ereignet? Dass ein heiliger Mensch, das heißt ein den Göttern Angehörender, den Ritus überlebte, der ihn von dem Menschen abgesondert hat, und er nun unter ihnen ein scheinbar profanes Dasein weiterführt. In der profanen Welt bleibt in seinem Körper ein irreduzibler Überrest an Heiligem, der ihn dem normalen Verkehr mit seinen Mitmenschen entzieht und der Möglichkeit eines gewaltsamen Todes aussetzt, wodurch er den Göttern zurückgegeben würde, denen er in Wahrheit angehört.

Er kann nicht geopfert werden und ist vom Kult ausgeschlossen, denn sein Leben ist be-reits Eigentum der Götter, es bringt aber einen Rest von Profanem in das Heilige ein. Das heißt, heilig und profan bilden in der Maschinerie des Opfers ein System mit zwei Polen, in dem ein fluktuierender Signifikant von einem Bereich in den anderen übertritt und sich dabei doch immer auf denselben Gegenstand bezieht. Auf diese Weise kann die Maschinerie des Opfers die Aufteilung des Gebrauchs zwischen Menschen und Göttern gewährleisten und den Menschen zu-rückerstatten, was schon einmal den Göttern geweiht war.

Unter diesen Gesichtspunkten wird verständlich, mit welch obsessiver Sorgfalt und welch unerbittlichem Ernst man sich in der christlichen Religion bemüht, die Kohärenz und Intelligibilität des Begriffs der Transsubstantiation im Messopfer sowie der Begriffe der Fleischwerdung so gut wie möglich sicherzustellen. Denn hier stand nichts Geringeres auf dem Spiel als das Überleben eines religiösen Systems, das Gott selbst als Opfer in den Opfervorgang einbezogen, und auf diese Weise in ihm jene Absonderung vorgenommen hatte, die im Heidentum nur die menschlichen Dinge betraf. Es ging also darum, durch die gleichzeitige Anwesenheit von zwei Naturen oder Substanzen in einer Person oder in einem einzigen Opfer der Vermischung von Menschlichem und Göttlichem beizukommen, welches die Opferma-schinerie des Christentums zu lähmen drohte.

Benjamin diagnostizierte den Kapitalismus als eine dem Christentum innewohnende Tendenz, alles bis zum Äußersten zu treiben. Er ist es, der die Struktur der Absonderung, die jede Religion bestimmt, in alle Bereiche hinein verallgemeinert und absolut macht. Eine absolute und restlose Profanierung fällt mit einer ebenso leeren und vollständigen Weihung zusammen. Und wie bei der Ware die Absonderung sozusagen zur Form des Gegenstandes wird, die sich in Gebrauchs- und Tauschwert aufspaltet und sich in einen unerreichbaren Fetisch verwandelt, so wird jetzt alles, was getan, produziert und gelebt wird – auch der menschliche Körper, die Se-xualität, die Sprache – von sich selbst abgesondert und in eine abgesonderte Sphäre ver-schoben, die von keinerlei substantiellen Trennung mehr definiert wird und in der jeg-licher Gebrauch auf die Dauer unmöglich wird. Diese Sphäre ist der Konsum. Das Spektakuläre und der Konsum sind die beiden Seiten einer Unmöglichkeit des Gebrauchs. Was nicht benutzt werden kann, wird als solches dem Konsum und der Zur-schaustellung überantwortet. Wenn profanieren heißt, dem allgemeinen Gebrauch zu-rückzuerstatten, was in der Sphäre des Heiligen abgesondert war, dann zielt die kapitalis-tische Religion in ihrer äußersten Phase auf die Schaffung eines absolut Unprofanierbaren.

Die Unmöglichkeit des Benutzens hat ihren topischen Ort im Museum. Die Museifizierung der Welt ist für Agamben heute eine vollendete Tatsache. Die geistigen Mächte, die das Menschenleben definierten – die Kunst, die Religion, die Philosophie, die Idee der Natur, selbst die Politik – haben sich eine nach dem anderen allmählich ins Museum zurückgezogen. Das Museum besitzt heute genau den Raum, der früher den Tempeln als Stätte des Opfers vorbehalten war. Die Gläubigen von heute sind die Touristen, die von Museum zu Museum reisen. Der Tourismus, indem er den Kultus und den Hochaltar der kapitalistischen Gesellschaft darstellt, ist heute auf der Welt die Leitindustrie. Aber während die Gläubigen und die Pilger am Ende einer Opferhandlung teilnahmen, die die richtigen Beziehungen zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen wieder herstellten, zelebrieren die Touristen am eigenen Leib einen Opfervorgang, der in der angstvollen Erfahrung besteht, jeden mögli-chen Gebrauch tunlichst zu vernichten. Sie tun sich die verzweifeltste Erfahrung an, die es vielleicht gibt: dass sie nämlich unwider-ruflich die Fähigkeit des Benutzens und jegliche Möglichkeit des Profanierens verloren haben.