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FORSCHUNG

Ontologie: Transtemporale Identität

METAPHYSIK

Martine NidaRümelin untersucht die transtemporale Identität


Wer von irgendeinem Individuum behauptet, es habe sich verändert, setzt dabei stillschweigend voraus, dass es sich trotz der Veränderung nach wie vor um dasselbe Individuum handelt. Es besteht Identität über die Zeit hinweg oder „transtemporale Identität“, wie der Fachausdruck in der analytischen Philosophie lautet.

Martine NidaRümelin, Professorin für Philosophie an der Universität Fribourg im Uechtland (und Schwester von Julian NidaRümelin), argumentiert in ihrem Buch

NidaRümelin, Martine: Der Blick von innen. Zur transtemporalen Identität bewusstseinsfähiger Wesen. 358 S., kt., stw 1787, 2007, Suhrkamp, Frankfurt

dass für Behauptungen bzw. Urteile transtemporaler Identität nicht die Zuschreibung einer besonderen Identitätsrelation charakteristisch ist, sondern vielmehr die Art und Weise, wie auf die Individuen, um deren Identität es geht, Bezug genommen wird.

Urteile transtemporaler Identität haben einen grundlegend verschiedenen begrifflichen Status, je nachdem, ob es sich bei den identifizierbaren Individuen um bewusstseinsfähige Wesen oder um Objekte ohne Erlebnisfähigkeit handelt. NidaRümelin geht es in ihrem Buch um bewusstseinsfähige Wesen, um ein tiefergehendes Verständnis unseres Begriffs der Bewusstseinsfähigkeit und des Subjekts von Erfahrung, sie will dies durch eine Reflexion unseres Verständnisses der Existenz bewusstseinsfähiger Wesen über die Zeit hinweg leisten. Für sie wurzelt das Verständnis der eigenen Identität in begrifflichen Besonderheiten der Selbstzuschreibung künftiger und vergangener Eigenschaften. Denn unser besonderes Verhältnis transtemporaler Identität von Personen und anderen bewusstseinsfähigen Wesen setzt implizit einen Großteil dessen voraus, was unseren Selbstauffassungen als Personen, unseren wechselseitigen Wahrnehmungen, unseren persönlichen Bindungen und unserer wechselseitigen Wertschätzung zugrunde liegt. So ist es für unsere Selbstauffassung wesentlich, dass wir uns über die Zeit hinweg fortexistierend erleben und damit als numerisch identisch mit jener Person, deren Handlungen und Erlebnisse wir aus der Innenperspektive erinnern. Man kann aber nicht wirklich verstehen, was es heißt, sich als mit einer gewissen früheren Person als identisch zu erleben, ohne den Inhalt der Behauptung verstanden zu haben, dass die fragliche Identität de facto besteht. Ebenso kann man in einem gewissen Sinne nicht erfassen, was es heißt, einander wiederzuerkennen, solange man den besonderen Inhalt von Behauptungen transtemporaler Identität nicht verstanden hat – emotionale Bindungen und damit ein Großteil dessen, was ein menschliches Leben lebenswert macht, sind ohne ein Wiedererkennen anderer undenkbar. Dabei unterscheidet sich NidaRümelin zufolge unser Verständnis transtemporaler Identität von Personen nicht von unserem Verständnis transtemporaler Identität bewusstseinsfähiger Wesen im Allgemeinen. Dies an die Adresse derjenigen, die die Frage, was mit Behauptungen gewöhnlicher numerischer Identität eines besonderen Typus gemeint ist, für trocken und akademisch oder gar für überflüssig halten.

Wenn wir transtemporale Identitätsurteile für zutreffend halten, meinen wir: Der Körper der späteren Person hat sich aus dem der früheren Person auf die für Organismen übliche Weise entwickelt. NidaRümelin nennt dies körperliche Kontinuität. Dass eine frühere Person mit einer später existierenden identisch ist, heißt dann, die beiden stehen in der Beziehung gewöhnlicher körperlicher Kontinuität. Das würde bedeuten, dass Aussagen transtemporaler personaler Identität durch Aussagen erläutert werden könnten, in denen nur noch von biologischen Beziehungen die Rede ist, die zwischen Körpern von Personen bestehen. Es ist diese reduktionistische Betrachtungsweise, gegen die Nida Rümelin in ihrem Buch argumentiert. Ihre Gegenthese: Urteile transtemporaler Identität haben einen Gehalt, der allein durch das Angeben transtemporaler empirischer Beziehungen nicht erfassbar ist.

Einige Autoren, dazu gehören Parfit, Shoemaker, Garrett, Johnston und Rivane, vertreten die Auffassung, transtemporale Identität bei Personen und anderen bewusstseinsfähigen Wesen hänge begrifflich mit psychologischer Verbundenheit zusammen und sei eventuell auf diese reduzierbar. Danach ist der Inhalt des Urteils, dass der vierzigjährige Hans von heute niemand anderer ist als der zehnjährige Hans von damals, über eine Kette psychologischer Verbundenheit zu erklären. Psychologische Verbundenheit besteht z.B. dann, wenn die Pläne der früheren Person in geeigneter Weise dafür relevant sind, was die spätere Person tut. Eine später exi¬stierende Person B ist identisch mit einer früheren Person A, wenn zwischen A und B eine nicht verzweigte Kette einer solchen psychologischen Verbundenheit besteht. Demgegenüber vertritt NidaRümelin die Auffassung, dass Urteile transtemporaler Identität bezüglich bewusstseinsfähiger Wesen von Annahmen über bestehende empirische Beziehungen begrifflich unabhängig und daher nicht auf Beziehungen dieser Art begrifflich reduzierbar sind. Auch wenn alle transtemporalen empirischen Beziehungen beschrieben sind, die zwischen zu unterschiedlichen Zeiten existierenden Personen bestehen, ist damit noch nichts darüber gesagt, ob man es mit ein und derselben Person zu tun hat.
Für NidaRümelin ist transtemporale Identität von Personen nicht konstruiert, sondern als objektives Faktum in der Welt vorfindbar. Deshalb sind wir in der Festlegung von Kriterien transtemporaler Identität nicht frei. Dieser Realismus wird tief verwurzelten Intuitionen gerecht, die uns Menschen gemeinsam sind. Der Reduktionismus dagegen hat intuitiv inakzeptable Konsequenzen. Der Realismus impliziert, dass Behauptungen trans¬temporaler Identität in Bezug auf Personen eine Bedeutung haben, die unabhängig von in der der relevanten Sprachgemeinschaft implizit akzeptierten empirischen Kriterien transtemporaler Identität fixiert ist.

Eine realistische Auffassung transtemporaler Identität, wie NidaRümelin sie vertritt, ist jedoch nur bei bewusstseinsfähigen Wesen angemessen. Bei ihnen ist die Frage, ob das frühere Wesen A mit dem späteren Wesen B identisch ist, mit der Frage verknüpft, was A in seiner Zukunft erleben wird und was B in seiner Vergangenheit erlebt hat. Es ist dieser Zusammenhang, der zum einen eine realistische Auffassung transtemporaler Identität bewusstseinsfähiger Wesen erzwingt und zum anderen eine reduktionistische Analyse transtemporaler Identität bei bewusstseinsfähigen Wesen ausschließt.

Wenn der Begriff der Identität von Objekten über die Zeit hinweg auf Gegenstände ohne Bewusstsein angewendet wird, hat er keine scharfen Grenzen, er bleibt vage. Bei Personen und anderen bewusstseinsfähigen Wesen hingegen gibt es keine unterbestimmten Fälle. Behauptungen transtemporaler Identität in Bezug auf Gegenstände ohne Bewusstsein sind im allgemeinen keine präzisen Behauptungen, während hingegen solche in Bezug auf bewusstseinsfähige Wesen stets präzise Behauptungen sind. So kann bei ersteren das sog. Verdoppelungsproblem auftreten (der Regenwurm, der in zwei Teilen weiterlebt), bei letzteren hingegen nicht.

Dieser Realismus wird in der englischsprachigen Literatur unter dem Titel „the simple view“ abgehandelt, er ist u. a. von Chisholm vertreten worden.
Von der Frage der transtemporalen Identität hängt ab, welche Antizipation in einem konkreten Fall realitätskonform ist. Antizipation bedeutet dabei den Versuch, sich eigene zukünftige Lebensabschnitteile konkret und realitätskonform vorwegnehmend vorzustellen. Eine nichtrealistische Position stößt auf intuitive Widerstände, denn sie muss die Möglichkeit unterbestimmter Fälle transtemporaler Identität offen halten. Für sie gibt es für eine Person A, die zum früheren Zeitpunkt t existierte, keine zutreffende Antwort auf die Frage, was sie zu einem betrachteten späteren Zeitpunkt erleben wird. Auch ein allwissendes Subjekt könnte zu einem späteren Zeitpunkt t’ nicht sagen, ob die Person A ihre Erlebnisse zu t’ korrekt antizipierte, als sie sich jene Erlebnisse vorstellte, die zu einem Zeitpunkt t’ die Erlebnisse der zu dem späteren Zeitpunkt t’ existierenden Person B sind. Wenn eine Person, deren Identität mit einer künftigen Person unterbestimmt ist, einen Moment ihrer Zukunft hinsichtlich irgend¬eines Aspekts antizipiert, so kann nicht willkürfrei entschieden werden, ob diese Antizipation korrekt ist. Ein Resultat, das intuitiv nicht annehmbar ist: Der Realismus ist in unserem Denken so tief verwurzelt, dass wir ihn nicht ernstlich aufgeben können.

Um zu verstehen, was es für einen Tisch bedeutet, dass er übermorgen blau angestrichen sein wird, muss man bereits verstanden haben, was es für einen Tisch bedeutet, über die Zeit hinweg zu existieren. Das Urteil „Dieser Tisch ist übermorgen blau“ ist genau dann wahr, wenn übermorgen ein Tisch existiert, der blau angestrichen ist und der aus diesem hier auf die passende Weise entstanden ist. Bei Urteilen über Dinge ohne Bewusstsein besteht eine begriffliche Priorität transtemporaler Identifikationen gegenüber transtemporalen Eigenschaftszuschreibungen.

Transtemporale Selbstzuschreibungen und transtemporale Selbstidentifikationen haben einen besonderen Status. Erstere sind begrifflich vollkommen unabhängig von empirschen Kriterien transtemporaler Personenidentität, und sie sind begrifflich primär gegenüber transtemporalen Selbstidentifikationen. Diese wiederum sind begrifflich völlig unabhängig von empirischen Kriterien transtemporaler Identität. Es ist begrifflich möglich, dass die Person, die morgen aus diesem Bette aufsteht, in dem ich heute einschlafe, jemand anderer ist als ich, obwohl diese Person meinen Körper haben wird, obwohl sie sich selbst für mich halten wird, obwohl sie in der Art engster psychologischer Verbundenheit zu mir stehen wird. Absurde Zukunftsverläufe dieser Art sind begrifflich möglich: Wir haben einen begrifflichen Zugang dazu (ein klares Verständnis davon), wie die Welt sein müsste, wenn sie sich realisieren würde. Auch könnte ich morgen dasjenige Subjekt sein, dass einen ganz bestimmten morgen existierenden Elefantenkörper als Körper hat. Aber wir wissen nicht, wie es wäre, morgen einen Elefantenkörper zu haben.

Der besondere Status transtemporaler Selbstzuschreibungen und transtemporaler Selbstidentifikationen überträgt sich auf den begrifflichen Status von Fremdzuschreibungen (z.B. Andrea wird das SchubertTrio hören) und Fremdidentikationen (z.B. Andrea und LAndrea sind identisch). Auch wenn wir anderen Personen künftige und vergangene Eigenschaften zuschreiben, spielen die implizit akzeptierten empirischen Kriterien transtemporaler Identität von Personen für den Inhalt dessen, was wir sagen, keine Rolle. Wir haben ein von empirischen Kriterien transtemporaler Identität unabhängiges Verständnis transtemporaler Selbstzuschreibungen anderer Personen.

Mit welchem Recht trägt diese Auffassung den Titel „Realismus“? Als Realismus gegenüber etwas wird im allgemeinen eine Haltung bezeichnet, für die die Annahme charakteristisch ist, dass jenes „etwas“ Bestandteil der Wirklichkeit ist und damit unabhängig davon existiert, ob jemand von seiner Existenz weiß. Die Intuition, dass der Realismus transtemporaler Identität zutrifft, ist stabil und verliert sich nicht aufgrund von Reflexion und der Einsicht in die Gegengründe. Die Gegenthese des NichtRealismus bleibt dagegen in einem gewissen Sinne notwendig unverständlich: Wir fassen uns selbst und andere in einer Weise auf, die nur unter der Voraussetzung des Realismus angemessen ist, wobei wir uns von dieser Auffassung nicht distanzieren können. Jedes epistemische Subjekt, das in der Lage ist, Zukunft und Vergangenheit eines bewusstseinsfähigen Wesens aus dessen Perspektive zu betrachten, hat unter idealen epistemischen Bedingungen die Intuition, dass der Realismus wahr ist. Zwar können wir den Realismus nicht a priori beweisen, aber solange wird diese Fähigkeit nicht verlieren, unser eigenes Schicksal und das anderer bewusstseinsfähiger Wesen aus der ErstenPersonPerspektive zu betrachten, können wir den Realismus nicht ernstlich aufgeben.

Martin Seel hat in der Frankfurter Allgemeinen (vom 29. Juni 2007) kritisiert, NidaRümelin lasse sich von ihrem reduktionistischen Gegenspieler einen Objektivismus vor¬geben, der dem Phänomen, das in diesem Buch behandelt werde, nicht gerecht werde: „Es gibt die von unserer Behandlung anderer strikt unabhängigen Tatsachen nicht, an den sich entscheiden könnte, ob etwas eine Sache oder Jemand ist. Der Ausweg aus dem Fliegenglas der irreführenden Alternative von Realismus und AntiRealismus steht auch hier noch bevor“.