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Religion: Die Religionsphilosophie Karl Heims

RELIGION

Die Religionsphilosophie Karl Heims


In den 1920er Jahren galt Karl Heim (18741958) als einer „unser maßgeblichsten Theologen“ (Karl Barth) und in philosophischen Kreisen als „scharfsinnigster Denker des gegenwärtigen Protestantismus“ (M. Schröter).
Heim war nicht nur derjenige unter den Theologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der am intensivsten das Gespräch und die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften suchte, er hat auch als einer der ersten die Grundlagenkrise in den Naturwissenschaften und die sich daraus erwachsenden Neuansätze wahrgenommen und konstruktiv zu verarbeiten versucht.
Bislang fehlte eine Gesamtdarstellung seiner Hauptwerke, die gleichermaßen die Entwicklung Heims wie seinen geistigen und geschichtlichen Kontext berücksichtigt. Ulrich Beutler, der sowohl Theologie als auch Physik studierte, hat dies in seiner mit einem Preis der KarlHeimGesellschaft ausgezeichneten Arbeit

Beutler, Ulrich: Gottesgewissheit in der relativen Welt. Karl Heims naturphilosophische und erkenntnistheoretische Reflexion des Glaubens. 438 S., kt., € 39.—, 2006, Kohlhammer, Stuttgart

nachgeholt. Heim sah die Naturwissenschaften „unabsichtlich dem Glauben den Weg bereiten“, indem sie das materialistische Weltbild auflösen und so der Theologie einen apologetischen Dienst tun.

Auf der Suche nach der Weltformel

Im Zentrum von Heims Schaffen steht eine metaphysische Dimension: Heim ist auf der Suche nach der „Weltformel“ und versucht, die Welt als Einheit zu verstehen. Sein Denken kann als Metaphysik in einem induktiven Sinne, als einheitliche Strukturbeschreibung der lebensweltlich und physikalisch erfahrenen Welt bezeichnet werden. Die Kritik Nietzsches an der „Hinterwelt“, der erträumten „zweiten realen Welt“ hat er ebenso aufgenommen wie die Kritik des logischen Empirismus an den „sinnlosen“ metaphysischen Aussagen über „Unbeobachtbares“.

Festgehalten hat er aber an einem Zentralmoment abendländischer Metaphysik, ohne den ein christlichtheologischer Weltbegriff seiner Meinung nach unhaltbar ist: der Einheit der Welt. Heim erhebt den Anspruch, die idealistische Einheit der Welt noch einmal, unter nachneuzeitlichen Bedingungen, herzustellen und sieht sich in der großen Tradition des metaphysischen Denkens von Leibniz und Hegel. Er nennt sein Projekt der „Zusammenschau der ganzen Wirklichkeit“ auch „Wissenschaft vom Letzten“ oder „Wissenschaft vom Ganzen“. Allerdings kommt zu Heims Denken noch eine zweite Dimension: das Anliegen, den unbedingten Anspruch Jesu Christi auf das ganze Leben, der für Heim seit seiner Bekehrung als Student „ganz unabhängig von allem Denken als einer Wirklichkeit“ feststand, theologisch zur Geltung zu bringen. Dabei bedeutet diese Unabhängigkeit die unmittelbare Gewissheit des Glaubens ohne Vermittlung durch das reflexive, rationale Denken. Heim versucht gerade die Unbegründbarkeit des nichtrationalen Glaubens rational so zu begründen, dass der unbegründete Glauben denkmöglich wird.

Heims Weltbild

Der Erkenntnistheorie kommt in Heims Projekt die kritische Rolle zu, der Naturphilosophie die konstruktive. Er erbaut sein Weltbild so, dass zuerst mittels erkenntnistheoretischer Analyse das alte, dem Glauben widersprechende, philosophische und naturwissenschaftliche Weltbild destruiert, dann unter Hilfe der neuen Naturwissenschaft die „Weltformel“ gefunden und daraus ein naturphilosophisches Weltbild entfaltet wird: Raum, Zeit und Materie zeigen strukturelle Parallelen zum Glauben, sodass die Gewissheit des Glaubens unter dem Anspruch des philosophischen und naturwissenschaftlichen Denkens denkmöglich wird. Dabei wird ein naturphilosophischerkenntnistheoretisches Grundgesetz – das Relativitätsprinzip, das Gesetz der Perspektive oder das Gesetz der polaren Räume – in seiner „vom Raumbild losgelösten letzten Verallgemeinerung als Weltbild erkannt und von der Naturwissenschaft auf die Geisteswissenschaft“ übertragen. Daraus entsteht eine Weltanschauung, die den philosophischen Rahmen für den Christusglauben des Neuen Testaments bilden kann. Damit glaubt Heim einen philosophischen Ausgangspunkt für die Zusammenschau der ganzen Wirklichkeit von einem geschichtlich gegebenen Wertzentrum aus, nämlich von Jesus Chri¬stus, dem perspektivischen Mittelpunkt des Weltganzen, der für den Glauben auch objektiv das letzte absolute Zentrum darstellt, gefunden zu haben.
Bekannt wurde Heim bereits mit seinem 1904 erschienenen Erstlingswerk Das Weltbild der Zukunft, in dem er die Auseinandersetzung zwischen Naturwissenschaft und Theologie konstruktiv zum „Entwurf einer einheitlichen Weltanschauung“ zu synthetisieren versuchte. Er versuchte darin einen erfahrungsorientierten Zugang zur Wirklichkeit, wie es im alltagswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Realismus gleicher¬maßen geschieht. Weiter verzichtete er auf einen substantiellen Ich und Dingbegriff zugunsten einer relationalen Ontologie. Das Prinzip der Relationalität gilt ihm ontologisch als Weltformel, die er von der neuen Physik bestätigt sieht (allerdings noch von der Physik vor Einstein).

Das zentrale Problem in Heims Begründung einer einheitlichen Weltanschauung ist die Frage nach der religiösen Gewissheit. Heim sah, dass der Glaube Aussagen über das Ganze der Wirklichkeit macht, die er weder in der Realität der Welt erfahren noch induktiv aus seinem Erleben noch deduktiv logisch erschließen kann: „Die Tatsächlichkeit der religiösen Gewissheit steht in Spannung zu seiner logischen oder empirischen Begründbarkeit.“ Da der Glaube etwas Wirkliches darstellt und dazu den Anspruch erhebt, die Wirklichkeit als Ganzes zu erfassen, muss der Glaube mit den der Weltformel entsprechenden Wirklichkeiten übereinstimmen. Heim will diese Übereinstimmung durch den Nachweis zeigen, dass der Glaube strukturell jeder anderen Willensentscheidung gleichartig ist und also der Weltformel genügt. Aufgrund dieser formalen Gleichheit wird die religiöse Entscheidung in den Verhältnischarakter der Wirklichkeit eingeordnet und die Theologie aus ihrer erkenntnistheoretischen Sonderstellung befreit. Heim ist davon überzeugt, damit Philosophie und Naturwissenschaft auf die Weltformel zurückgeführt und ein einheitliches Weltbild erbaut zu haben. Glauben und Wissen ist damit zur Einheit zusammengeführt und die schrille Disharmonie in eine wundersame Harmonie aufgelöst. Heim geht noch weiter und behauptet, dass der „souveräne Gewissheitsanspruch der Religion ein letzter Überrest der ursprünglichen Gesundheit des Denkens inmitten einer erkenntnistheoretisch erkrankten Weltanschauung“ ist.

1916 erscheint Die Glaubensgewissheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion. Diese mehrmals aufgelegte Schrift trug wesentlich zu Heims Stellung als einem der führenden und originellsten Theologen seiner Zeit bei. War im Weltbild der Zukunft die Glaubensgewissheit als Spezialfall von allgemeinen Gewissheiten in die einheitliche Gesamtordnung der Wirklichkeit eingeordnet, so geht Heim jetzt von einem Gegenüber von Denken und Wirklichkeit aus, deren Zusammenhang erst aufgezeigt werden muss. Die leitende Methodik ist dabei nicht die harmonisierende, sondern die kontrastierende Methode, die Glaube und Denken einander gegenüberstellt. Nach wie vor ist es aber das Ziel, zu einer Einheit von Glauben und Denken zu gelangen, zu einer „Zusammenschau des Ganzen“. Den Widerspruch zwischen Denken und Glauben will Heim dadurch überwinden, dass der Logizismus des Denkens in seiner Reichweite eingeschränkt wird. Er tut dies, indem er Widersprüche im Denken aufweist und damit den Weg zur Denkmöglichkeit der irrationalen Wirklichkeit des Glaubens aufweist. Oder anders formuliert: Die Irrationalität des Glaubens, die mit der Irrationalität des Tatsächlichen oder der Wirklichkeit überhaupt formal identisch ist, schränkt die Möglichkeit des Denkens zugunsten des Glaubens ein.

Glaube und Denken, eine Fundamentalontologie der Zeit, war noch vor Erscheinen 1931 vergriffen, sodass die Auflage noch während der Drucklegung zweimal erhöht werden musste. Sein Versuch, „das Wesen des evangelischen Glaubens in den Denkformen der Gegenwart auszusprechen“, wurde als „bahnbrechendes Werk“ gewürdigt und löste eine lebhafte Diskussion aus. Heim geht nun nicht mehr von der Glaubensgewissheit aus, sondern von der Gewissheit des Lebens, dem „Problem der Existenz“. „Gibt es etwas, das uns die Gewissheit verleiht, dass unser Leben kein Sturz ins Leere ist?“, fragt er zu Beginn. Der totale Relativismus bedroht nicht nur das Denken, sondern selbst die Exi¬stenz. Ursprung und Ziel, Sinn und Wert des Daseins sind fraglich geworden. Die letzte Frage ist die Sinnfrage. Sie ist identisch mit der Gottesfrage. Jede Frage ist für Heim schon die letzte Frage, die radikale Frage, die rücksichtslos die letzten Voraussetzungen des Denkens und Handelns in Frage stellt: „Nichts darf als feststehend einfach vorausgesetzt werden; alles ist in Frage gestellt.“ Heim stimmt mit Heidegger und Tillich überein, dass die Grundfrage der Philosophie „nach dem Sinn von Sein“ auch die Grundfrage der Theologie ist. Als Seinsfrage ist die Sinn oder Gottesfrage nach der Gewissheit des Lebens und der Existenz eine fundamentalontologische. Weil jede Theologie philosophische Voraussetzungen impliziert, muss eine solche „Philosophie gefunden werden, die nicht in einem Gegensatz zur Religion steht, die vielmehr das Prinzip der Religion in sich enthält“. Heim entwirft den begrifflichen Kern dieser „philosophischen Grundlegung einer christlichen Lebensanschauung“ in seiner „Dimensionslehre“.

Dimensionen sind so etwas wie „Seinscharaktere“ des Wirklichen selbst und entsprechen den Heideggerschen Existenzialien, den SeinsWeisen, nach denen Dasein sein kann. Heim sieht Gott und Welt, Ich und Gegen¬stand, Geist und Materie, Nichtgegenständliches und Gegenständliches nicht als unterschiedene Teile oder Bauteile eines Ganzen, sondern jeweils als das Ganze in unterschiedlicher Hinsicht. Das SeinsGanze ist unteilbar, es ist ‚weiselos’. Die einzelnen Dimensionen sind immer in Hinblick auf das Ganze zu sehen, sie haben teil am weiselosen Ganzen. Sachlich ist die dimensionale Unterscheidung eine dynamische Verhältnisbestimmung des Ich in Bezug auf sich und die gegenständliche Welt. Erleben und Erkennen sind zwei aufeinander bezogene Momente oder Weisen des IchVerhältnisses im Weltverhältnis.

Ausgehend vom Raum als Wesensbestimmung des Seienden als Grund und Fundament der Wirklichkeit und zugleich erster Kategorie entwickelt Heim eine Art Kategorienlehre. Die primäre Kategorie, die mit dem Begriff der Relation oder des Kontinuums identisch ist, ist die Kategorie der Polarität. Diese Kategorie ist allgemein genug, dass damit alle möglichen Verhältnisse, gegenständliche und nichtgegenständliche, erfasst sind. „Die Polarität ist das Weltgesetz, unter dem wir stehen. Es beherrscht nicht nur die Inneneinrichtung eines jeden Raumes, es bestimmt auch das Verhältnis, in dem die Räume, in denen sich unser Leben abspielt, zueinander stehen“. Beuttler sieht in Heims Philosophie der Räume den gegenüber der theologischen Tradition höchst eigenwilligen Versuch, die Transzendenz Gottes von den innerweltlichen Transzendenzen und Strukturverhältnissen her neu zu denken.