PhilosophiePhilosophie

EDITIONEN

Gerald Hubmann:
Marx-Engels-Ausgabe

Philologische Wende
Geschichte und aktuelle Arbeit der MarxEngelsGesamtausgabe
Von Gerald Hubmann

Der Epochenwechsel des Jahres 1989 hat der bis dahin politischideologisch dominierten MarxEditorik die Möglichkeit zum Wandel hin zur philologisch orientierten Forschung geboten. Im Folgenden wird zunächst dieser Weg nachgezeichnet und dann versucht, die neuen Perspektiven auf das Werk von Marx zu skizzieren, die sich aus der philologischen Wende der MarxEngelsGesamtausgabe (MEGA) ergeben.

Die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Oeuvre und dem Nachlass von Marx beginnen bereits unmittelbar nach seinem Tod. So hat Marx nur den ersten Band des Kapital selbst veröffentlicht, zuerst 1867, dann in verschiedenen modifizierten weiteren Auflagen. Der zweite Band erschien hingegen erst 1885, zwei Jahre nach Marxens Tod herausgegeben von Friedrich Engels. Der dritte Band, ebenfalls von Engels ediert, trägt das Erscheinungsjahr 1894.

Zudem liest man in Engels Vorwort zu Bd. 2, dass ihm „die große Zahl der vorhandenen, meist fragmentarischen Bearbeitungen“ von Marx die Herausgabe sehr erschwert habe. Auch für den dritten Band berichtet Engels von großen Schwierigkeiten mit dem Material, zumal er in keiner Weise über den Stand der Marxschen Ausarbeitung informiert war. So hat Engels seinen Text schließlich aus mehreren, zu verschiedenen Zeiten entstandenen Manuskripten von Marx zusammengestellt. Um sein Vorgehen dabei zu illustrieren: Für die ersten drei Unterpunkte des ersten Kapitels von Bd. 3 liegen von Marx mehr als 200 Seiten Manuskriptbögen vor sowie drei Kapitelanfänge; Engels stellte aus ihnen 40 Druckseiten zusammen. Auch die Gliederung des Bandes in Kapitel ist von Engels, das vierte Kapitel hat er selbst verfasst, weil er von Marx zu diesem Thema nur eine Überschrift vorgefunden hat.
Engels hat sich bemüht, bei seiner jahrelangen Entzifferungs und Redaktionsarbeit das Beste aus dem Vorgefundenen zu machen. Aber natürlich verfügte er noch nicht über ein modernes textkritisches Instrumentarium. Zudem hielten Zeitgenossen wie Werner Sombart sein Vorgehen ohnehin für zu akribisch und waren der Auffassung, eine sinngemäße Wiedergabe des Inhalts der Marxschen Manuskripte wäre leserfreundlicher gewesen. Aus heutiger Sicht ist jedoch festzuhalten, dass das Kapital im philologischen Sinne eines abgeschlossenen und autorisierten Opus nicht existiert, da nur einer der drei Bände von Marx ausgearbeitet vorliegt.

Was Engels seinerzeit wohl bewogen hat, die Bände zu veröffentlichen, war politischer Druck. Freund wie Feind nämlich wollten nach Marx' Tod wissen, wo denn die ausstehenden Bände des Kapital seien, wie es denn nun stünde um das theoretische Hauptwerk des Marxismus, in dessen drittem Band doch die Notwendigkeit des Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems bewiesen würde. Diese Texte existierten gar nicht, so wurde bald gemutmaßt. Aus politischen Gründen versuchte Engels deshalb, den Fragmentcharakter der Nachlassmanuskripte zu überspielen und ein abgeschlossenes Werk zu suggerieren. Die politische Funktionalisierung dominierte also bereits bei Engels das Ziel einer authentischen Erschließung des Marxschen Nachlasses – und sie hielt bis 1989 an: Das Kapital wurde als das ausgearbeitete Hauptwerk des MarxismusLeninismus gefeiert.

Es gab allerdings auch Versuche, den Primat der Ideologie in Frage zu stellen. So hat der russische Gelehrte David Rjazanov (1870–1938) 1924 begonnen, eine Gesamtausgabe der Werke von Marx und Engels zu bearbeiten. Rjazanov hatte bereits in den Jahren zuvor, nach der Revolution, ein umfassendes Archiv zur europäischen Sozialgeschichte in Moskau eingerichtet, und er hatte in Deutschland viele Handschriften von Marx und Engels verfilmen lassen. Er konzipierte nun eine auf 40 Bände angelegte Ausgabe, in der alles von Marx und Engels Überlieferte ediert werden sollte, und zwar in historischkritischer Form. Er wollte also nicht nur die parteipolitisch erwünschten Arbeiten, sondern den vollständigen Nachlass publizieren und ging umgehend daran, die philosophischen Frühschriften zu bearbeiten, die ja die Verwurzelung von Marx in der Philosophie des Deutschen Idealismus dokumentieren. Und tatsächlich wurden hier die Ökonomischphilosophischen Manuskripte und die Deutsche Ideologie 1927 erstmals publiziert. Indessen: Rjazanov kam nicht weit. Bereits 1930 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und zusammen mit seinen Mitarbeitern – zu denen auch Georg Lukács gehörte – verbannt. 1938 wurde Rjazanov wegen Verrats zum Tode verurteilt und hingerichtet. Von der ersten MEGA sind nach Rjazanovs Absetzung unter orthodoxer Leitung noch weitere Bände – insgesamt elf – erschienen, bevor das Unternehmen 1935 endgültig abgebrochen wurde.

Das Parteiinstitut für MarxismusLeninismus beim ZK der KPDSU nahm die Sache nun selbst in die Hand und publizierte bis 1966 zwei russische Werkausgaben. Von Bedeutung ist insbesondere die zweite Socinenija, erschienen zwischen 1954 und 1966 in 39 Bänden plus Ergänzungsbänden. Denn es handelt sich hier um die bis dahin umfassendste Veröffentlichung des literarischen Erbes von Marx und Engels – diese erschien also zuerst in russischer Übersetzung. Hinzu kommt – was wenig bekannt ist –, dass die deutschsprachigen „MarxEngelsWerke“ (MEW genannt), ebenfalls 39bändig und herausgegeben vom deutschen Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED in Inhalt, nach Anlage und Editionsprinzipien auf dieser russischen Ausgabe basieren.

In editorischer Hinsicht bietet die MEW ein widersprüchliches Bild. Einerseits entspricht sie dem Typus einer Studienausgabe mit dem Anspruch, alle abgeschlossenen Werke, Schriften und Artikel, nebst einer Auswahl an Manuskripten und Entwürfen sowie alle Briefe von Marx und Engels zu publizieren. Damit bietet sie eine vergleichsweise umfassende Textdokumentation. Andererseits aber soll die Ausgabe "das geistige Rüstzeug des Proletariats in seinem Kampf gegen die kapitalistische Sklaverei" abgeben, wie es in realsozialistischer Kampfprosa im Vorwort des ersten Bandes heißt. Die MEW sollen mithin der Kanonbildung sozialistischen Gedankengutes dienen, und ebendies verhindert eine adäquate Werkpräsentation. Denn zum einen wurden aus diesem Grund Texte selektiert und unterdrückt. Dies betrifft die Unterschlagung der an Marx und Engels gerichteten Briefe, politische Schriften wie Marx’ Revelations on the diplomatic history in the 18th century vor allem aber die philosophischen Frühschriften, die zunächst weggelassen und erst viele Jahre später, nach Prote¬sten selbst im Ostblock, in einem Ergänzungsband publiziert wurden. Zum anderen führten diese ideologisch motivierten Interpretationsvorgaben durchgängig zu einer verfehlten Kommentierung und verhinderten so eine adäquate Situierung der MarxEngelsschen Texte in ihren historischen Kontexten.

Aber auch im Westen fand der Umgang mit dem Werk von Marx nicht im politikfreien Raum statt. Denn weder in der Bundesrepublik noch in den Niederlanden, wo große Teile des Nachlasses lagern, oder in Großbritannien, wo Marx einen Großteil seiner Lebenszeit verbracht hat, wurde eine umfassende und textkritische Ausgabe in Angriff genommen; aus einem Kanon der Klassiker wurde Marx damit ausgegliedert. Damit aber konnte die MEWEdition des SEDRegimes auch im Westen zur Standardausgabe avancieren, selbst für die vorzüglich ausgewählte und exzellent kommentierende, seit 1966 erscheinende vierbändige Studienausgabe Iring Fetschers. Auch in der umfangreichsten Edition Westdeutschlands, der im CottaVerlag Anfang der 1960er Jahre erschienenen sechsbändigen Studienausgabe, beklagt der Herausgeber HansJoachim Lieber die „noch immer fehlende MarxEngelsGesamtausgabe“ und muss seine Textauswahl deshalb auf MEW und die erste MEGA gründen. Ansonsten aber verstand sich Liebers Edition als Korrektiv zur ostdeutschen Ausgabe: wurde im Osten die Einheit des Werkes von Marx und Engels betont, so legt Lieber Wert auf die bewusste Trennung und präsentiert eine reine MarxEdition, überdies fokussiert auf die in den ostdeutschen Ausgaben seinerzeit fehlenden politischhistorischen Schriften und auf die philosophischen Frühschriften. Auf diese Weise bewegte sich die MarxEditorik stets im Spannungsfeld der Politik.

In der DDR hat es indessen immer wieder Bestrebungen gegeben, die von Rjazanov begonnene kritische Gesamtausgabe fortzuführen oder neu zu beginnen. In den 1960er Jahren gelang es, Ulbricht dafür zu gewinnen, "den größten Söhnen des deutschen Volkes" ein solches Ehrenmal zu errichten – ja Ulbricht schrieb in dieser Sache 1964 sogar an Chruschtschow. Doch Moskau war skeptisch: Die Texte, die man zur Stützung des ideologischen Kanons brauche, seien bereits publiziert. Überdies untersagte Moskau jede Verwendung des Attributs "kritisch" im Titel einer historischkritischen Ausgabe. Auch könne es nicht angehen, dass – bei aller Bedeutung von Marx und Engels – die projektierte Gesamtausgabe doppelt so viele Bände umfassen solle wie die Ausgabe der Werke Lenins. Allenfalls wollte man eine "politische Studienausgabe" zubilligen.

Nach über 10jährigen Verhandlungen kam das deutschsowjetische Renommierprojekt einer neuen "MarxEngelsGesamtausgabe" zustande: 1975 erschien der erste Band der "zweiten" MEGA. Die Ausgabe – die nicht historischkritisch heißen durfte, es aber nach den zugrunde liegenden Editionsprinzipien aber gleichwohl war – war auf 165 Doppelbände (edierter Text und Apparat jeweils separat gebunden) angelegt, die in vier Abteilungen unterteilt waren:

(1) Werke, Artikel, Entwürfe (35 Bände)
(2) Das Kapital und Vorarbeiten (15 Bände)
(3) Briefwechsel, der jetzt komplett, mit AnBriefen gedruckt wurde (40 Bände)
(4) 75 Bände mit Exzerpten, Manuskriptmaterial und Buchmarginalien

Die Editionsrichtlinien orientierten sich an modernen neugermanistischen Editionskonzepten und wurden von der Fachwelt in Ost und West positiv aufgenommen. Sie beinhalteten als Grundsätze:

1.Absolute Vollständigkeit und Originalsprachigkeit.
2. Strikte chronologische Textanordnung.
3. Eigene Textkonstitution mit originalgetreuer Wiedergabe entsprechend den zugrunde liegenden Textzeugen unter Beibehaltung ihrer Orthographie und Interpunktion.
4. Vollständige Darstellung der Textgenese bei Manuskript und bei Druckfassungen.
5. Umfassende erläuternde Texterschließung.

In Berlin, Moskau und an Universitäten arbeiteten etwa 150 Editoren an der Ausgabe, die damit das größte deutschsowjetische Gemeinschaftsprojekt auf geisteswissenschaftlichem Gebiet war. Allerdings blieb die Edition weiterhin Parteisache – Herausgeber waren die Institute für MarxismusLeninis¬mus bei den ZKs der SED und der KPdSU –, und deshalb erfolgte auch diese Edition nicht ohne politische Vorgaben: Die Herausgeber sollten sich bei der Präsentation des Marxschen Werkes „von Lenins Ausführungen über die Entstehung, die Herausbildung und die wichtigsten Entwicklungsetappen des Marxismus" leiten lassen, was in den Bandeinführungen und durch die Kommentierung erfolgte. In einer Zwischenbilanz nach dem Erscheinen der ersten zehn Bände sprach man sich sogar noch für eine "Verstärkung der klaren, parteilichen Argumentation im Kommentar" aus.

Politisch motivierte Eingriffe finden sich aber nicht nur in der Kommentierung, sondern auch auf der Ebene der Textdarbietung selbst. Beispielsweise wird das der Ausgabe zugrunde liegende Prinzip der chronologischen Textanordnung bereits im ersten Band nicht eingehalten, indem Texte, mit denen – wie es im Kommentar heißt – "Marx in die theoretische und politische Auseinandersetzung seiner Zeit eingriff", demonstrativ an den Anfang des Bandes gestellt und damit akzentuiert werden. Auch die Einrichtung der eigenen Abteilung "Das Kapital und Vorarbeiten" war Konsequenz der allseits verkündeten Auffassung, dass es sich beim Kapital um Marxens "Hauptwerk" handle. Dessen Fragmentcharakter wurde dabei unterschlagen. In der BriefAbteilung wurden die an Marx und Engels gerichteten Briefe separiert dargeboten. Gelegentlich wurde auch auf die Edition unliebsamer Texte einfach verzichtet. Zensur gab es etwa bei der Edi¬tion der Manuskripte von Marx zur polnischen Frage (1863/64) mit ihren russlandkritischen Passagen.

Letztendlich also stand auch die historischkritische Edition der zweiten MEGA unter dem Primat des Politischen, so dass nach der Schließung der Parteiinstitute in Berlin und Moskau nach 1989 auch die Ausgabe eingestellt wurde. 40 Bände waren bis dahin erschienen; und offensichtlich war das Projekt einer Publikation aller Marxschen Schriften in authentischer Form erneut zum Scheitern verurteilt.

Drei Optionen bestanden zu Beginn der 1990er Jahre für die MEGA: Abbruch der Edition, völliger Neuanfang oder Fortführung auf modifizierter Grundlage. Der Abbruchoption standen zahlreiche Initiativen von Wissenschaftlern, vor allem aus dem Ausland, die zur Weiterführung der Ausgabe aufgerufen hatten, mithin also die Weltgeltung des Marxschen Denkens entgegen. Ein völliger Neuanfang war insofern nicht nötig, als die Textdarbietung in den vorliegenden Bänden einwandfrei war und auch die Begutachtung der Ausgabe unter dem Vorsitz von Dieter Henrich zu dem Ergebnis kam, dass die MEGA als „Edition auf hohem Niveau erfolgt sei“. Man entschied sich also für die Fortführung auf modifizierter, vor allem entpolitisierter, Grundlage.

Die Reorganisation der MEGA erfolgte in vier Schritten: Am Anfang stand die institutionelle Neuordnung unter dem Dach der Internationalen MarxEngelsStiftung (IMES) mit Sitz in Amsterdam. Es folgte die Neufassung der Edi¬tionsrichtlinien auf einer internationalen Konferenz in AixenProvence, die in ihrem Kern vor allem auf strenge weltanschauliche Neutralität in der Kommentierung verpflichtet. Damit verbunden war die Redimensionierung des Projektes von zuvor 165 auf jetzt 114 Doppelbände. Schließlich kam es zum Wechsel vom parteinahen Dietz zum AkademieVerlag. Nachdem in der Wendezeit insbesondere durch das Internationale Institut für Sozialgeschichte Amsterdam wichtige Koordinierungsleistungen erbracht worden waren, konnte 1994 ein kleiner Mitarbeiterstab an der BerlinBranden¬burgischen Akademie der Wissenschaften mit der Fortführung der Ausgabe beginnen. Die MEGA hat damit zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Heimstatt an einer deutschen Akademie der Wissenschaften erhalten. Von hier aus wird seitdem die Arbeit von Projektgruppen in Moskau, Amsterdam, Trier, Italien, Dänemark und Japan, wo jeweils einzelne Bände bearbeitet werden, koordiniert.

1998 erschien der erste nach diesen neuen Editionsprinzipien bearbeitete Band der MEGA (IV/3 mit den FeuerbachThesen) und seitdem sind weitere elf Bände aus allen Abteilungen der MEGA in vierstelliger Auflage publiziert worden.

Da sich die Ausgabe in ihrer philologischen Substanz als anknüpfungsfähig erwiesen hatte, bestand die für eine Weiterführung notwendige Revisionsaufgabe primär in der Entpolitisierung der Edition. Dafür waren und sind zwei Stichworte von zentraler Bedeutung: Akademisierung und Historisierung sind an die Stelle der früheren Funktionalisierung und Politisierung des Marxschen Werkes getreten. Akademisierung bezeichnet die neue Autonomie und den Primat der Textphilologie in der Ausgabe. Das Prinzip der Historisierung bezieht sich in erster Linie auf die Kommentierung und meint eine intellektuelle Kontextualisierung, die das Marxsche Denken im Zusammenhang seiner Zeit und ihres Problem und Fragehorizontes verortet, statt es wie vormals politisch motiviert zu deuten und entsprechend editorisch zu arrangieren.

Damit eröffnen sich neue Perspektiven in der Sicht auf das Werk von Marx. Blickt man etwa auf das eingangs genannte Beispiel des Kapital zurück, so dokumentiert die MEGA alle überlieferten Manuskripte von Marx, die Redaktionsmanuskripte von Engels und die Druckfassungen der Bände 2 und 3 in authentischer Form und miteinander verknüpft, so dass jeder Textstelle der Druckfassung die entsprechende Manuskriptstelle zugeordnet werden kann; darüber hinaus werden die Zusätze und Textveränderungen durch Engels nachgewiesen. Im Ergebnis wird man nicht mehr vom Kapital als geschlossenem dreibändigen Hauptwerk sprechen können, sondern eher einem Fragment gebliebenen Entwurf. Die Manuskripte vor allem zum dritten Band erwecken den Eindruck, dass das Marxsche Denken in den 1870er Jahren eine neue Wendung genommen hat – so beschäftigt er sich bspw. intensiv mit dem Wachstumspotential der USA und deren Geldmärkten – und das Kapital auch deshalb unvollendet geblieben ist.

Auch die Deutsche Ideologie wird in der MEGA nicht mehr als geschlossenes Werk ediert. Erstmals werden nunmehr – in einer Vorauspublikation im MarxEngelsJahrbuch 2003 bereits zugänglich – die Entwürfe, Notizen und Fragmente, die in bisherigen Editionen durch Hypothesen und Interpretationen der Herausgeber zum FeuerbachKapitel konstituiert worden sind, so dargeboten, wie sie von den Autoren hinterlassen worden sind. Sie zeigen die Autoren involviert in die Debatten um eine Kritik der nachhegelschen Philosophie. Frühere Ausgaben waren demgegenüber meist von der Intention geprägt, die systematische Ausformulierung des hi¬storischen Materialismus in der Deutschen Ideologie nachzuweisen.

Schließlich sei auf die bisher fast sämtlich unveröffentlichten Exzerpte, die in der IV. Abteilung der MEGA publiziert werden, hingewiesen. Diese zeigen insbesondere bei Marx einen enzyklopädischen Ansatz in den Forschungsinteressen – etwa in seinen umfangreichen Studien zur Chemie und Geologie –, der vormals entweder unterschlagen oder funktional im Hinblick auf das ökonomische Werk gedeutet wurde. Zudem scheint sich bei Marx – im Unterschied zu Engels – eine Abkehr von dialektischen und die Hinwendung zu analytischen Denkmodellen anzudeuten.

Damit beginnt sich durch die bislang erschienenen Bände in gewisser Weise ein neues MarxBild abzuzeichnen: Das von der bisherigen, politisch intendierten MarxEdi¬tion gezeichnete Bild des primär sozialrevolutionären und politökonomischen Autors ist wohl zu eng. Marx war eher einer der letzten Gelehrten mit enzyklopädischem Anspruch – damit in Traditionen der europäischen Aufklärung, aber auch des Systemdenkens des deutschen Idealismus stehend –, dessen Werk aber in weiten Teilen Fragment geblieben ist. Damit aber war Marx weniger ein Denker, der Lösungen zu bieten hat als einer, der sich an den Problemen der Moderne abarbeitet.

UNSER AUTOR:

Gerald Hubmann ist stellvertretender Arbeitsstellenleiter des Akademienvorhabens MarxEngelsGesamtausgabe an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften.