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FORSCHUNG

Kant: Entstehung der kritischen Philosophie

KANT

Kants kritische Philosophie sei aus seiner empirischen Psychologie der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts hervorgegangen. Kant habe damals seine psychologische Wahnkritik in eine rationale Vernunftkritik übertragen. Diese These vertritt Constantin Rauer in seiner Promotionsarbeit

Rauer, Constantin: Wahn und Wahrheit Kants. Auseinandersetzung mit dem Irrationalen. 378 S., € 49.80, 2007, AkademieVerlag, Berlin.

Er erhebt zugleich den Anspruch, Kants Umänderung der Denkungsart während dieser 60er Jahre in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu begreifen.

In den Jahren 1763 bis 1766 hat Kant eine Psychosetheorie ausgearbeitet, bei der er sich auf bereits existierende klinische Befunde stützen konnte. Dabei entwickelte er eine Klassifikation der schizophrenen Störungen, indem er die Psychose in drei Unterabteilungen gliederte: in die Verrückung, den Wahn¬wi0tz und den Wahnsinn. Diese Klassifikation stimmt mit der heute üblichen Einteilung der Schizophrenie in Katatonie, Hebephronie und Paranoia in den Grundzügen überein. Von der Beschreibung der Verrücktheit gelangt Kant zu einer Analyse der Halluzina¬tion, von der Beschreibung des Wahnwitzes zu einer Analyse der Bewusstseinsspaltung und von der Beschreibung des Wahnsinns zu einer Analyse der Paranoia. An den Fehlfunktionen des Denkens werden nun für Kant die logischen Funktionen des Denkens sichtbar, indem er an der Verrückung die imaginative Funktion des Verstandes, am Wahnwitz die synthetisierende Funktion der Vernunft und am Wahnsinn die regulative Funktion der Urteilskraft erkennt. In dieser Ableitung sieht Rauer den entscheidenden Dreh, der Kant zu seiner Kritik der reinen Vernunft führt. Dass dies in der KantForschung bislang nicht gesehen wurde, führt Rauer darauf zurück, dass Kants Schriften zur Psychologie in unterschiedlichen Abteilungen liegen, mit¬unter schwer zu finden sind und nur von wenigen KantForschern als einheitliches Textkorpus erkannt wurden. Vielmehr hat man diese Schriften als ein Sammelsurium von Problematiken und Thematiken gesehen und dabei nicht bemerkt, dass Kant durch die wechselnden Themen hindurch kontinuierlich an ganz bestimmten Problemen gearbeitet hat. Hinzu kommt, dass Kant in den späteren Jahren seinen „Jugendwahn“, also die 60er Jahre, völlig aus seiner Erinnerung verdrängt und die Wende zur kritischen Theorie mit Deckerinnerungen versehen hat. Die folgenschwerste war diejenige, wonach Hume ihn aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt habe. Nichts, so Rauer, habe die KantForschung mehr in die Irre geführt. Einen weiteren Grund sieht Rauer darin, dass die KantForscher spezialisiert sind. Seit der Moderne scheinen Logiker und Psychologen so unterschiedlichen Forschertypen anzugehören, dass sie nicht an einen Tisch zu bringen sind. So zieht sich durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch ein Streit zwischen Logikern und Psychologen um die Interpretation von Kants Kritik.

Kant hatte bei dem Mathematiker und Rationalisten Martin Knutze studiert, er hatte vor¬wiegend Leibniz und Newton, doch auch viel von Wolff und Baumgarten gelesen und zählte somit – neben Johann Heinrich Lambert – zu einem der letzten Vertreter des deutschen Spätrationalismus. Bedingt durch die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges befand sich Deutschland mit dieser Schule ein halbes Jahrhundert im Rückstand und nicht auf der Höhe der Zeit. In England und Frankreich hatten die empirischen Wissenschaften der Aufklärung und den Werken von Shaftesbury, Hume, Hutcheson, Voltaire, Montesquieu, Voltaire, Rousseau und Diderot Raum verschafft. Ab 1730 hatte man für die Metaphysik nur noch Hohn und Spott übrig. Nach dem Erdbeben von Lissabon von 1755 forderte Voltaire in einem Roman, von aller metaphysischen Spekulation abzusehen und das Wissen allein auf seinen pragmatischen Nutzen zu beschränken. Kant begriff sofort, welche Sprengkraft sich hinter diesem Roman verbarg. Er antwortete zwischen 1759 und 1763 mit fünf verschiedenen Schriften, die sich alle auf den Konflikt zwischen der Leibniz’schen Metaphysik und der Aufklärung bezogen, wobei Kant zwischen beiden Positionen hin und herpendelte.

Von Voltaire übernimmt Kant auch den Inhalt seiner weiteren Fragestellung. Wenn Voltaire behauptet, der Metaphysik fehle der Gegenstand, sie sei – in Worten Kants – ein leerer Begriff, so stellt sich philosophisch die Frage, was es denn für Erkenntnisgegenstände sind, denen kein Ding entspricht bzw. die keinen Realitätsbezug haben; deren Existenz behauptet wird, obgleich es sie anscheinend doch nicht gibt.

1763 verabschiedet sich Kant in seinem Optimismusversuch nicht nur vom Rationalismus, sondern vorerst auch von der Philosophie, um sich für fünf Jahre der Psychologie zuzuwenden. Dann überträgt er die Erkenntnisse, die er in der Psychologie gewonnen hat, auf die Philosophie. Dies ist für Rauer der Schlüssel zum Verständnis von Kants kritischer Wende. Inhaltlich waren es verschiedene Aspekte der psychischen Erkrankung Swedenborgs – einer paranoiden Schizophrenie –, die Kant nachhaltig zum Umdenken veranlasst haben. Der Geisterseher Swedenborg litt an einer Spaltung des Bewusstseins, indem sich seine Psyche in zwei voneinander getrennte Welten (in die sichtbar irdische und in die unsichtbare Geisterwelt) aufspaltete. Diese Swedenborgische Desorientierung in Raum und Zeit brachte Kant auf die Frage nach den rationalen Kriterien einer Orientierung im Raum. In dem Ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum (1768) nimmt Kant die kritische Wende erstmals überhaupt und zwar am Raumbegriff vor, indem er die objektive Grundlage des Raums im allgemeinen absoluten Raum und die subjektive in der rationalen Grundfigur des inkongruenten Gegenstückes, d.h. im Spiegelbild, sieht und mit beiden den Raumbegriff erstmals als reine Vorstellung begreift. Diese Umkehrung wendet er dann 1770 zuerst auf den Zeitbegriff, sodann aber auf logische Sätze an.

Kant stellte sich, Swedenborgs gespaltenes Bewusstsein vor Augen, erstmals die Frage nach der Einheit des Bewusstseins. Eine weitere entscheidende Einsicht Kants war die, dass die gesunde Psyche – zumindest strukturell – nicht anders funktioniert als die kranke; alleine, dass sich an den Verzerrungen und Überspitzungen der Gestörten die Funktionsmechanismen der Psyche besser beobachten lassen als bei den Gesunden. Für Rauer kommt aber noch etwas weiteres hinzu: Kant war aufgefallen, dass das Wahnsy¬stem Swedenborgs und Leibniz’ Erkenntnistheorie in ihren ganzen Konstrukt deckungsgleich sind. Denn wenn Leibniz mit seiner schlummernden Monade – derzufolge in den kleinsten Teilchen Intelligenzen hausen – recht haben sollte, so müsste man auch Swedenborg zugestehen, dass die Materie mit Geistern beseelt sei. In den Träumen eines Geistersehers zieht Kant die Konsequenzen und wirft die Leibniz’sche Metaphysik mitsamt der Swedenborgschen Geisterseherei über Bord.
1769 (Kant später: „Das Jahr 69 gab mir großes Licht“) erkannte Kant, dass das irrealste, was die Psychologie zu bieten, nämlich die Halluzination, und das rationalste, was die analytische Geometrie zu bieten hat, nämlich die objektiven Kriterien des Raums, auf exakt dem gleichen Prinzip basieren: dem der Projektion. Kant behandelt nun Rauer zufolge die Lehrsätze der Philosophie, als ob es sich um Swedenborgsche Halluzinationen handelte – ergo als Projektionen. Swedenborgs Berufung auf Gespenstererfahrungen führte bei Kant zu einem ausgeprägten Skeptizismus gegenüber allen Erfahrungswerten, was ihn zur Verwerfung des Empirismus sowie umgekehrt zu einer Philosophie des Apriori bewogen hat. Der Umstand, dass Scheinerfahrungen das Maß möglicher Erfahrung bei weitem übersteigen können, hat Kant zu dem Schluss geführt, dass die Grenzen der möglichen Erfahrung den tatsächlich gemachten mitnichten zu entnehmen sind und bewog ihn dazu, explizit das Apriori zu thematisieren.

Kant denkt die Unterscheidungsmerkmale des Wahns und die Unterscheidungsmerkmale der Vernunft wie zwei spiegelverkehrte Gegenstücke zueinander. Für Rauer beruht auf dieser Spiegelkonstruktion von Irrationalitätskritik und Rationalitätskritik der weitere Verlauf der kritischen Wende. Während seiner psychologischen Phase 17631766 arbeitet Kant eine Wahnkritik aus, die er dann in einer Phase der Anwendung 17681781 auf die Vernunftkritik anwendet.

Zwischen den Krankheiten (1764) und den Träumen (1766) gelangt Kant zu der Einsicht, dass sich gerade anhand der Schizophrenie die Funktionen der Vernunft beobachten und erkennen lassen. Wenn es ein Gebrechen der Wahrheit gibt, welches man Wahn nennt, so kann der Grund für diese Verkehrtheit sicherlich nicht von einer äußeren Beeinträchtigung herrühren, sondern muss in der Struktur der Wahrheit selbst zu suchen und zu finden sein. So kommt Kant Rauer zufolge dazu, von den Denkstörungen auf die Normalität des Denkens zu schließen: weil an der Fehlfunktion des Denkens gerade das offensichtlich wird, was man an der Normalität des Denkens gewöhnlich verkennt – nämlich wie das Denken überhaupt funktioniert.

Nach seinen psychologischen Studien und seiner Auseinandersetzung mit dem Irrationalen kehrt Kant 1768, wenn auch erst sehr zaghaft, zur Philosophie zurück und publiziert eine kleine Abhandlung Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum. Er stellt sich die Frage, in welcher Lage sich die Dinge in den Gegenden des Raumes lokalisieren und wodurch sich insbesondere vernünftige Lebewesen im Raum orientieren können. Diese Frage stammt primär weder aus der Geometrie noch der Philosophie, sondern aus der Psychologie. Kant entwickelt eine neue Theorie des Raumes, wobei ein verdeckter psychologischer Gedanke (der der Projektion) auf den geometrischen Begriff (ebenfalls den der Projektion) übertragen wird, um aus dieser Anwendung allgemeine logische Schlüsse über das objektive Orientierungsvermögen eines Subjektes im Raum zu ziehen. So wird dank des Projektionsbegriffs der analytischen Geometrie erstmals eine rationale Antwort auf das Problem gegeben, welches sich vom psychologischen Projektionsbegriff aus gestellt hatte: nämlich auf die Frage nach dem objektiven Kriterium des inneren Sinns, welches es ermöglicht, sich anhand von inkongruenten Gegenständen – beispielsweise von der Unterscheidung der linken von der rechten Hand – im Raum zu orientieren. Kant überträgt den psychologischen Projektionsbegriff auf den Projektionsbegriff der Geometrie, um sodann aus dieser Reflexion seine philosophischen Schlüsse für die Konstitution des inneren Sinnes zu ziehen.