PhilosophiePhilosophie

03 2011

Christoph Horn :
Die verletzbare und die unverletzbare Würde des Menschen – eine Klärung

Aus Heft 3/2011


I. Das Ausgangsproblem

Vielleicht die größte philosophische Schwierigkeit in der aktuellen Diskussion über Menschenwürde besteht darin, dass der Begriff in zwei sehr unterschiedlichen Verwendungsweisen gebraucht wird. Diese beiden geraten nicht nur im alltäglichen, sondern auch im philosophischen und juristischen Sprachgebrauch allzu leicht durcheinander: Ich meine die Rede von einer verletzbaren und einer unverletzbaren, von einer verlierbaren und einer unverlierbaren Würde des Menschen. Einerseits sprechen wir häufig so, als ob klar wäre, dass Menschenwürde ein angreifbares, verwundbares und entsprechend ein erzeugbares, durch geeignete Maßnahmen sicherstellbares Gut ist; zu unseren geläufigen Formulierungen gehören die von der ‚Verletzung‘, ‚Wahrung‘ oder ‚Wiederherstellung‘ der Menschenwürde. Andererseits glauben wir, dass die Menschenwürde ein beständig vorhandenes Merkmal darstellt, eines, das Menschen nicht manchmal besitzen und manchmal nicht besitzen können (oder über das sie in verschiedenen Graden verfügen), wie dies für Intelligenz, Gesundheit oder Körperkraft gilt. Während bei solchen Eigenschaften personen- und kontextrelative Unterschiede bestehen, benutzen wir den Ausdruck Menschenwürde häufig in einem kontextunabhängigen Sinn. Wir reden etwa von einer ‚Respektierung‘, ‚Achtung‘ oder ‚Anerkennung‘ der Menschenwürde.

Wie gravierend diese beiden Gebrauchsweisen voneinander differieren, muss jedem Kopfzerbrechen bereiten, der den Unterschied einmal bemerkt hat (und natürlich ist die Spannung häufig gesehen worden; vgl. z. B. die Diskussion bei Müller 2008). Bekanntlich wird die bestehende Dissonanz der beiden Gebrauchsweisen besonders deutlich greifbar in der Formulierung der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes (Art. 1,1 GG): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wäre die Menschenwürde tatsächlich unantastbar, warum sollte man sie dann schützen müssen? Ist sie dagegen zu schützen, wie könnte sie dann noch unverletzbar sein? Sie kann ja gerade nicht verletzt und folglich auch nicht geschützt werden. Wie verhalten sich die verletzbare und die unverletzbare Menschenwürde dann zueinander? Lassen sich die beiden Gebrauchsweisen überhaupt miteinander vereinbaren?

Vorherrschend scheint die Meinung zu sein, dass wir es lediglich mit einer leichten begrifflichen Ambivalenz zu tun haben, die keine tiefergehenden Probleme verursacht. Vielleicht nehmen viele Interpreten einfach an, dass die verletzbare Würde eher eine deskriptive Perspektive formuliert (wir empfinden die Menschenwürde z. B. dann als deskriptiv oder faktisch verletzt, wenn wir von politischen Häftlingen und Folteropfern lesen), während die unverletzbare Würde eher einen normativen Gesichtspunkt artikuliert (wir denken, die Menschenwürde sollte jedermann vor politisch motivierter Inhaftierung bzw. Folter schützen). Aber das wäre zu simpel; denn auch die erste Begriffsvariante besitzt normative Implikationen, ebenso wie auch die zweite deskriptive Komponenten enthält, wie wir sehen werden. Sicher ausschließen lässt sich meines Erachtens auch die Lösung, wonach die unverlierbare Menschenwürde nichts weiter als eine pathetisch-emphatische Ausdrucksform ist, mit der gesagt werden soll, dass wir einen (faktisch durchaus möglichen) Menschenwürde-Verlust als unerträglich oder nicht-hinnehmbar ansehen. Dann hieße die GG-Formulierung einfach so viel wie „Wir wollen die Menschenwürde keinesfalls angetastet sehen (obwohl man sie durchaus antasten kann)“. Es liegt aber auf der Hand, dass zumindest die Verteidiger der Idee einer unverlierbaren Menschenwürde mehr im Sinn haben müssen als eine solche rhetorische Pointe.

Nach meiner Überzeugung enthält unsere Rede von Menschenwürde eine so tiefgreifende Spannung, dass wir uns für die Preisgabe einer der beiden Redeweisen entscheiden sollten. Man muss, so fürchte ich, zumindest im reflektierten (philosophisch-juristischen) Sprachgebrauch eine der Verwendungsweisen meiden, um den Begriff hinreichend zu disambiguieren. Dass dies nötig ist, versuche ich im Folgenden durch eine Kontrastierung der Merkmale der beiden Begriffsverwendungen deutlich zu machen.
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