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BERICHT

Franz Wimmer,:
Interkulturelle Philosophie

Franz M. Wimmer:  Interkulturelle Philosophie

Mit Ausdrücken wie "interkulturelle Philosophie" oder "interkulturell orientiertes Philosophieren" werden seit einiger Zeit bestimmte Projekte innerhalb der akademischen Philosophie bezeichnet. Die Wortfügungen als solche kommen in deutschsprachigen Veröffentlichungen etwa seit Anfang der 90er Jahre vor, im Englischen und in anderen Sprachen etwas später. Die Einführung beispielsweise eines Kanji-Ausdrucks für "Interkulturalität" im Japanischen scheint noch umstritten.

Die beiden Grundfragen der interkulturellen Philosophie

Die Thematik der "Interkulturalität" in Absetzung von "Multikulturalismus" ist zunächst nicht in der Philosophie, sondern in anderen Disziplinen - der Kommunikationsforschung, der Geographie, der Germanistik und anderen - reflektiert worden. Heute gibt es Studiengänge etwa zu "interkultureller Kommunikation", die zwar interdisziplinär angelegt sind, wobei aber Philosophie keine Rolle spielt. Wiederum ist es eher die Regel als die Ausnahme, daß in Studienplänen des Faches Philosophie die Perspektive der Interkulturalität gänzlich fehlt.

Ob Philosophen in einer aktiven und gegenseitig fruchtbaren Begegnung der Kulturen etwas beizutragen haben, ist die eine Grundfrage der interkulturellen Philosophie. Die andere Grundfrage ist die, was es im Hinblick auf Argumentation heißt, daß es nicht eine und nicht eine endgültig angemessene Sprache, Kulturtradition und Denkform des Philosophierens gibt, sondern viele, und daß jede davon kultürlich ist, keine darunter natürlich. Interkulturell orientiertes Philosophieren will diesen Sachverhalt bewußt machen, um daraus für beide Gewinn zu ziehen: für die Philosophie, indem zentristische Vorurteile kritisiert und neue Gesichtspunkte eingebracht werden; für den Umgang mit kulturellen Differenzen, indem gegenseitige Verständigung auf grundlegender Ebene angestrebt wird.

Gesellschaften für interkulturelle Philosophie

Mehrere wissenschaftliche Gesellschaften haben seit etwas mehr als einem halben Jahrzehnt Aktivitäten in Richtung auf eine Neuorientierung des Philosophierens zur "Interkulturalität" entfaltet. Im deutschen Sprachraum sind es derzeit zwei.
Die "Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie (GIP) e. V." mit dem Sitz in Köln wurde von dem Kreis um Ram Adhar Mall 1992 begründet und hat derzeit weltweit über 200 Mitglieder. Sie organisiert Kongresse und gibt eine Buchreihe heraus. Die erste international besetzte Konferenz der GIP fand 1993 in Bonn statt, es folgten Kongresse in Heidelberg (1994) und Bremen (1995 und 1997). An anderen Tagungen war die GIP maßgeblich beteiligt. 1993 erschien der erste von mittlerweile zehn Bänden der "Studien zur Interkulturellen Philosophie" bei Rodopi/Amsterdam.
In Österreich besteht seit 1994 die "Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (WiGiP)", die neben lokalen Aktivitäten (verschiedene experimentelle Arbeitskreise und Projekte) neuerdings eine Halbjahreszeitschrift herausbringt: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren (Heft 4 erscheint im Dezember 1999).
Informationen zu beiden Gesellschaften bieten folgende Webseiten:

GIP:
http://members.aol.com/GIPev/welcome.html
WiGiP:
http://www.univie.ac.at/WIGIP

Unterschiedliche Auffassungen interkulturellen Philosophieren

Die bisher vorliegenden interkulturellen Konzepte grenzen sich durchwegs von "komparatistischen" Ansätzen ab "Mehr als bloße Komparatistik" sei gefordert, heißt es immer wieder. Unter einer "bloßen Komparatistik" wird dabei etwas sehr Traditionelles verstanden, das die Wissenschaften von "fremden Kulturen" zu hoher Perfektion entwickelt haben: vergleichende Interpretation. Was dieses "Mehr" beinhalten soll, wird jedoch unterschiedlich gesehen: eine "offene Hermeneutik" (R.A. Mall) wird verlangt; ein emanzipatorisches Denken, das die eigenständigen Beiträge der verschiedenen Regionen neu bewertet (A. Fornet-Betaincourt); eine neue Perspektive in der allgemeinen Geschichtsschreibung der Philosophie (E. Holenstein); und schließlich neue Verfahren der philosophischen Theoriebildung und Argumentation mit dem Ziel einer "gegenseitigen Aufklärung", die unter dem Namen von "Polylogen" (F.M. Wimmer) angeführt werden.

Zweitens fällt die sehr unterschiedliche Einschätzung der Rolle des religiösen und theologischen Denkens sofort auf. Spricht R. Panikkar davon, "die Philosophie" sei nichts weiter als eine "Begleiterin auf dem Weg" und dieser "Weg ist das, was in vielen Kulturen Religion genannt wird", so läßt dies an die alte Metapher von der "ancilla theologiae" denken. Tatsächlich kommt vielen, wenn von "Interkulturalität" die Rede ist, zu allererst so etwas wie "Religion" in den Sinn. Dies ist nicht verwunderlich, aber höchst irreführend. Wenig verwunderlich ist dies, wenn man sieht, wie selbstverständlich etwa von einem Dialog "mit anderen Kulturen" gesprochen wird (beispielsweise im "Katechismus der katholischen Kirche"), wenn doch nichts anderes als ein Dialog mit anderen Religionen gemeint ist. Irreführend ist eine solche Überbetonung des Religiösen als Unterscheidungsmerkmal von "Kulturen" - und dementsprechend als vorrangiger Gegenstand interkultureller Reflexion - allemal, denn sie verstellt den Blick auf die vielfältigen anderen Bereiche des Lebens, die in der Entwicklung philosophischer Reflexion bedeutsam sind: der Techniken und Wissenschaften, der sozialen Organisationsformen und der Künste.

Ein dritter wichtiger Punkt, worin sich Unterschiede zeigen, liegt im Umfang und Inhalt des Philosophiebegriffs. Zuweilen wird dieser Ausdruck so weit verwendet, daß sich schwer vorstellen läßt, welche Formen des Denkens nicht damit bezeichnet werden könnten. Das betrifft natürlich auch andere Ausdrücke. Es ist beispielsweise davon die Rede, daß es "keine menschliche Kultur ... ohne die reflexive Praxis der Vernunft" gebe. Das kann und wird mit Fug bezweifelt werden. Es macht allerdings das gemeinsame Anliegen der Vertreter einer interkulturellen Orientierung in der Philosophie aus, daß sie gegen einen allzu engen, insbesondere einen europazentrischen Philosophiebegriff angehen. Wenn sie dann aber bestimmen sollen, was denn noch und was nicht mehr zur Philosophie zu rechnen sei, sind sie uneins.

Ich habe diese strittigen Punkte genannt, weil sie einerseits unübersehbar sind und andererseits deutlich machen, daß das Anliegen einer interkulturell orientierten Philosophie mit den Lebensbedingungen der heutigen Menschheit gegeben ist. Es spricht keineswegs gegen dieses Unternehmen, daß die darin leitenden Vorstellungen und Begriffe nicht von Anfang an klar und konsensuell sind.

Die Stimmen der "anderen" zu Gehör bringen

Eine der zutreffendsten Formulierungen für das Programm eines interkulturell orientierten Philosophierens ist die, daß es darauf ankomme, die "Stimmen der anderen" zu Gehör zu bringen. Dies drückt sich darin aus, daß in Konferenzen, Publikationen und Studiengängen bewußt versucht wird, dem gewöhnlichen Übergewicht der akademisch-ökonomischen Zentren gegenzusteuern. Dadurch, daß die Diskussionen im akademischen Rahmen und gemäß den darin geltenden Verhaltensregeln sowie in den hauptsächlichen europäischen Wissenschaftssprachen geführt werden, ist eine große Klasse von möglicherweise kompetenten DenkerInnen der nicht-okzidentalen Tradition vom Diskurs ausgeschlossen.

Demgegenüber strebt eine interkulturell orientierte Philosophie eine Vielfalt der Sichtweisen, auch eine Vielfältigkeit der Ausdrucksformen an. Dies ergibt an sich weder thematische Schwerpunkte noch eine bestimmte Art methodischen Vorgehens.

Das die "Stimmen der anderen zu Gehör bringen" äußert sich in der akademischen Praxis, wenn Logik-Texte japanischer Buddhisten oder Rechtsvorstellungen in einer Bantu-Tradition überhaupt in systematischen Zusammenhängen von Philosophen interpretiert werden. Es war allzulange selbstverständliche Voraussetzung, daß das eine seinen Ort in der Kulturgeschichte Japans, das andere in derjenigen Afrikas habe, daß die einschlägigen Disziplinen daher die Japanologie und die Afrikanistik, nicht aber die Philosophie seien. Es ist insgesamt immer noch so, mit wenigen Ausnahmen: wer Philosophie studiert oder lehrt, kann dies in der Regel tun, ohne sich jemals mit der Frage konfrontiert zu sehen, was denn chinesische, indische, afrikanische oder lateinamerikanische Philosophen zu einer bestimmten Sachfrage beizutragen hätten. Daß neue Quellen als ernstzunehmend vorgestellt und bearbeitet werden, ist dem gegenüber bereits ein wichtiger Schritt.


Themen und Methoden der interkulturellen Philosophie

Hinsichtlich neuer Themenstellungen ist die Innovation in der interkulturellen Philosophie bislang nicht besonders groß. Mir zu-mindest ist in der einschlägigen Literatur und bei den einschlägigen Konferenzen noch kein Thema begegnet, das nicht auch in der okzidentalen Tradition des Philosophierens irgendwann präsent gewesen wäre, wenn auch nicht in allen Details.

Es führt jedoch zu neuen Thesen und vielleicht zu neuen Einsichten, wenn die Ge-sichtspunkte, die Begriffe und Thesen sehr unterschiedlicher Traditionen miteinander ins Gespräch gebracht werden. Aber das ändert nichts daran, daß die Themen dieselben sind, wie sie eben auch sonst unter Philosophen verhandelt werden: Fragen nach Wahrheitskriterien, nach Voraussetzungen von Logik, nach ethisch-moralischen Normen, nach einer Theorie der Ästhetik usw.

Zu den Methoden des Philosophierens, wie immer diese sonst bestimmt werden, ge- hört jedenfalls die Klärung von Begriffen, die Entwicklung einer angemessenen Termi-nologie und die Untersuchung von stillschweigenden oder auch expliziten Voraussetzungen von Urteilen. In dieser Hinsicht bringt interkulturell orientiertes Philosophieren insofern eine deutliche Erweiterung des Reflexionshorizonts, als Begrifflichkeiten aus anderen als den europäischen Traditionen in die Debatte eingebracht werden. Es ist auch deutlich, daß die Auseinandersetzung mit außereuropäischen Denktraditionen unvermerkte Vorannahmen okzidentaler Philosophie bemerkbar machen kann.

Die Frage nach der Methode geht jedoch noch einen Schritt weiter. Fraglich ist ja, mit welchen Verfahren der Argumentation dann philosophiert werden kann, wenn nicht von vornherein feststeht, welche Ausdrucksmittel überhaupt als angemessen zu betrachten sind. Dies ist zwar kein neuartiger Sachverhalt - es gibt in der Philosophie so gut wie in anderen Disziplinen unterschiedliche Stile, die ein gegenseitiges Verstehen oder auch nur Ernstnehmen erschweren können, aber unvermeidbar sind -, jedoch verschärft sich die Sache, wenn Angehörige mehrerer Kulturen miteinander zu argumentieren beginnen. Dies ist nicht auf die Frage der gemeinsamen Sprache bezogen: eine solche ist unabdingbar, und es ist nicht unbedingt ein Nachteil für die Klarheit des Ausdrucks, wenn sie nicht die Muttersprache ist. Soll aber beispielsweise die Rezitation eines Liedes aus Afrika ebenso als Bestandteil einer philosophischen Argumentation gelten wie die Interpretation der These eines Klassikers der okzidentalen Tradition?


Selbst wenn innerhalb der Gegenwartsphilosophie - etwa im Bereich der Beispiele, die von Philosophen der Analytischen Philosophie gerne angeführt werden - die Grenze der als zulässig erachteten Quellen manchmal ziemlich weit gezogen wird, dürfte es doch Widerstände hervorrufen, wenn jemand ein afrikanisches Lied im Rahmen seines Arguments singt und vielleicht auch noch darauf besteht, es müsse, um den Sinn zu erfassen, dazu getanzt werden.

Dies ist ein konstruiertes Beispiel. Doch werden Philosophierende welcher Tradition auch immer, wenn sie die Vielheit des kulturellen Ausdrucks ernst nehmen, Argumentationsformen begegnen, die ihnen fremd und vielleicht auch unpassend erscheinen. Darin liegt eine Herausforderung. Sie besteht darin, daß Wege gefunden werden müssen, in Argumentationen Formen zu finden, die offener gegenüber neuen Ausdrucksweisen sein müssen als die gewohnten, die aber doch zu inhaltlichen Ergebnissen führen sollen. Ein Beispiel, in dem diese Zielsetzung experimentell verfolgt wurde, stellen die Experimente mit dem so-genannten "Renko" dar, wie sie ein Arbeitskreis der WiGiP durchgeführt hat. Die Idee geht zurück auf eine japanische Tradition innerhalb der Dichtkunst, das "renga" oder "Kettengedicht". Mit dem Neologismus "Renko" sollte ein "Kettendenken" bezeichnet werden. Beim "renga" handelt es sich um eine Literaturform, die etwa gleichzeitig mit der Teezeremonie entstanden ist, also in der Zeit der japanischen Bürgerkriege zu Ende des 16. Jahrhunderts. Bei dieser Form des Dichtens ging es darum, daß eine unbestimmte Anzahl von Menschen - es können bis zu hundert sein - zusammen ein Gedicht hervorbringen, wobei jeder auf den Text seines Vorgängers reagiert, diesen weiterführt, dabei aber etwas Anderes, Neues einbringt. Sowohl die Themen wie auch Rhythmus und Reim können in diesem Prozeß wechseln. Das Ergebnis ist nicht das Werk irgendeines der Teilnehmer, sondern aller zusammen. Die Abfolge und die Art der Variation geschieht weder regellos noch auch nach einem starren Schema. In der Reihenfolge der Teile liegt keine Rangfolge. Der Sinn des Unternehmens liegt darin, als Gruppe etwas zu tun, wobei Rangunterschiede oder Spannungen und Feindschaften zwischen den Teilnehmern ausgeschaltet sind.

Einige Elemente dieser Kunstform wurden in den Renko-Experimenten der WiGiP beibehalten: die Angabe eines Themas, die extreme Kurzform der einzelnen Beiträge, das Bestreben nach einer Verknüpfung zum vorangehenden Beitrag ohne direkten Bezug. Elemente ästhetisch-formaler Natur wurden außer acht gelassen. Auf einen Punkt konnte sich die Gruppe, deren Zusammensetzung meist sowohl in Hinsicht auf die kulturelle Herkunft wie hinsichtlich disziplinärer Vorbildung ziemlich heterogen war, erst nach langen Debatten einigen: Widerspruch oder Kritik irgendeines anderen Beitrags sollte vermieden werden. Leichter einigte man sich darauf, daß keine Nennung von Autoritäten und keine Zitate vorkommen sollten - allerdings war es gelegentlich zweifelhaft, ob jemand zitiert hatte oder nicht. Das Experiment wurde zu verschiedenen Fragestellungen der Anthropologie, der Erkenntnistheorie und der Ethik durchgeführt. Abgesehen davon jedoch, daß die Auffassungen darüber, was eigentlich erreicht werden sollte, doch so unterschiedlich waren, daß dies schließlich zum Abbruch des Experiments führte, stellte sich heraus, daß bei eher "theoretischen" oder "ästhetischen" Fragestellungen leichter etwas zu erreichen war, was in den anschliessenden Interpretationsgesprächen als wei-terführend empfunden wurde, als dies bei Fragen der Fall war, die normativ-praktische Konflikte zwischen differenten kulturellen Traditionen betrafen.

Vergleichbare Experimente, die der Suche nach neuen und angemessenen Methoden zur Überwindung von kulturell bedingten Argumentationsschranken in der Philosophie dienen, scheinen insgesamt sehr selten zu sein. In der Regel werden unter dem Titel einer interkulturellen Philosophie lediglich gewohnte akademische Formen - der Vortrag mit oder ohne Diskussion, die Abhand- lung, Zitat und Interpretation der respektiven Klassiker usf. - auf ungewohnte oder bislang unbeachtete Quellen (meist wieder Texte) angewandt. Die Suche nach angemesseneren, neuen und doch konsensfähigen Methoden scheint eine Aufgabe für die Zukunft zu sein.

Thesen zur interkulturellen Philosophie

In der Diskussion um die interkulturelle Philosophie tauchen immer wieder vier Thesen auf, die ich abschließend diskutieren will:

- Oft ist zu hören, Kultur- und Philosophiegeschichte seien im allgemeinen eurozentrisch. Damit sei eine Begrenzung oder Beschränkung gegeben. Denn okzidentale Philosophie sei (auch) eine Regionalphilosophie - eine Tradition unter mehreren.

- Jede als universell geltend intendierte These der Philosophie ist möglicherweise kulturell geprägt; kulturell-partikuläre Thesen sind jedoch in der Philosophie nach deren eigenem Anspruch nicht ausreichend.

- Eine Ausweitung des kulturellen Horizonts der Philosophiegeschichte ist möglich und nötig: Neue Quellen sind zu erschließen, neue Traditionen zu interpretieren, neue Textsorten einzubeziehen.

- Das Bewusstsein von der Überlegenheit europäischer philosophischer Tradition ist kritisierbar und zu kritisieren.

Jede dieser Thesen, die in der Literatur zur interkulturellen Philosophie mehr oder weniger explizit formuliert werden, hat weitreichende Konsequenzen für Forschung und Lehre der Philosophie im allgemeinen. Es reicht als Hinweis aus, dies für die erste der genannten Thesen anzusprechen. Wenn es sich bei der okzidentalen Philosophie tatsächlich nur um eine regionale, wenngleich um eine hochdifferenzierte Spielform von Philosophie überhaupt handelt, so wäre jedes Argument, das sich ausschließlich auf Autoritäten dieser Tradition beruft, selbst "ethnophilosophisch" und könnte insofern keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Intelligibilität erheben. In jeder Sachfrage der Philosophie sind unter dieser Annahme möglichst differente philosophische Denkformen und Begriffsfelder aufzusuchen und aneinander zu messen. Es ist daher zu Recht von einem "Antizentrismus der Interkulturellen Philosophie" (R. Fornet-Betancourt) gesprochen worden, wobei aber nicht zu vergessen ist, daß jeder interkulturelle Dialog notwendig vom Eigenen ausgehen muß. Dies betrifft natürlich schon den Begriff des Philosophischen selbst. Jeder Zugang zu philosophischen Fragen, welcher Orientierung auch immer, muß seinen Gegenstand definieren, mithin von nicht-philosophischen Gegenständen abgrenzen. Es liegt auf der Hand, daß das bloße Faktum der Namensverwendung "Philosophie" dafür nicht ausreicht. Weder ist es so, daß im akademischen Diskurs bereits alles unter diesem Namen subsumiert ist, was rechtens dazugehört - dies hat die Diskussion um "afrikanische Philosophie" deutlich gemacht. Noch aber kann ein inflationärer Gebrauch des Namens, wie ihn der Büchermarkt spiegelt, ohne Orientierungsverlust übernommen werden. Vielmehr wird interkulturell orientiertes Philosophieren einen Philosophiebegriff zu entwickeln haben, der sowohl inhaltliche als auch formale Bestimmungen enthält. Beim gegenwärtigen Stand der Diskussion ist dies ein, allerdings dringliches, Desiderat.

In gewisser Hinsicht ist die Philosophie (oder die Wissenschaft, denn diese wurde in der griechischen Antike als "philosophia" benannt) von ihren Anfängen an als transkulturelles Projekt auch stets von den bestimmten kulturellen Charakteristika der Gesellschaften, in denen sie entwickelt wurde, einerseits geprägt und war andererseits immer schon durch das Bemühen gekennzeichnet, über solche Prägungen hinauszugehen. Insofern war die Problematik der Interkulturalität immer schon gegeben. Einen Ausdruck fand dies beispielsweise in den Werken der Philosophiehistoriker der frühen Neuzeit, wenn sie von einer Philosophie der Chaldäer, der Ägypter, der Kelten etc. sprachen und durchaus manchmal diese "philosophia barbarica" der griechischen nicht nur neben-, sondern überordneten. Seit der Zeit der Aufklärung hat sich in Europa und den von Europa geprägten Regionen ein engerer Philosophiebegriff durchgesetzt, im Vergleich zu dem nichteuropäische Traditionen als nicht "im strengen Sinn" philosophisch eingeordnet wurden. Diese Sichtweise, die zu Einseitigkeiten führte und eng mit der politisch-wirtschaftlichen Geschichte der Neuzeit verbunden war, zu korrigieren und so in Richtung auf ein Philosophieren weiterzugehen, das auf den Traditionen vieler Kulturen aufbaut, dabei aber nicht in Partikularismen verbleibt, sondern in "polylogischer" Weise in systematischen Fragestellungen weiterführt, sehe ich als das Anliegen interkultureller Philosophie.


LITERATUR ZUM THEMA

Zeitschrift und Buchreihe

polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. Herausgegeben von der Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie, 1998ff. Bisher drei Hefte mit den Schwerpunkten: Interkulturalität der Philosophie, politische Theorie in Afrika, Philosophiegeschichte.

Studien zur interkulturellen Philosophie. Im Auftrag der Gesellschaft für interkulturelle Philosophie herausgegeben von Ram A. Mall und Heinz Kimmerle. Amsterdam: Rodopi 1993 ff. Bisher zehn Bände: thematisch einschlägige Sammelwerke und Monographien.

Sammelwerke

Graneß, Anke und Kai Kresse (Hg.): Sagacious Reasoning. Henry Odera Oruka in memoriam. 268 S., kt., DM 79.--, 1997, Lang, Frankfurt/M. Bringt Materialien von und über Oruka bzw. das Projekt einer Untersuchung und Wertung oraler Philosophietradition.

Holenstein, Elmar: Kulturphilosophische Perspektiven. 360 S., stw 1350, DM 27.80, 1998, Suhrkamp, Frankfurt/M. Enthält Aufsätze zu Fragen der Rechts- und Kulturpolitik, zum Verständnis Europas sowie zu intra- und interkulturellen Differenzen in der Philosophie.

Moritz, Ralf, Hiltrud Rüstau und Gerd-Rüdiger Hoffmann (Hg.): Wie und warum entstand Phi-losophie in verschiedenen Regionen der Erde? 1998, Akademie-Verlag, Berlin. Darstellungen der Ursprünge philosophischen Denkens in Indien, China, Japan, Griechenland, islamischen Ländern, im subsaharischen Afrika sowie im präkolumbianischen und kolonialzeitlichen Mittelamerika.

Schneider, Notker, Ram A. Mall und Dieter Lohmar (Hg.): Einheit und Vielfalt. Das Verstehen der Kulturen. 1998, Rodopi, Amsterdam. Akten des Kongresses 1997 (Bremen) mit den Schwerpunkten: Logik, Methodologie und Hermeneutik der Interkulturalität; Differenz der Geschlechter; interkulturelle Bildung.

Wierlacher, Alois und Georg Stötzel (Hg.): Blickwinkel. Kulturelle Optik und interkulturelle Gegenstandskonstitution. 1011 S., kt., DM 38.--, 1996, iudicium, München. Erweiterte Akten des Kongresses 1994 der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik mit Beiträgen aus zahlreichen Disziplinen.

Wimmer, Franz Martin (Hg., Übersetzer): Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. 186 S., kt., DM 38.--, Passagen Verlag, Wien. Beiträge zum Verhältnis regionaler Traditionen und Philosophie bzw. Weltkultur aus Kenia, Kamerun, China, Japan, Indien und Costa Rica.

Einzelstudien

Fornet-Betancourt, Raúl (Hrsg.): Lateinamerikanische Philosophie zwischen Inkulturation und Interkulturalität. 255 S., kt., DM 38.--, 1997, IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt a.M. Entwurf eines interkulturell orientierten Philosophierens als einer diskursiven Konfrontation mit allen Faktoren, die den Horizont des Lebens und Denkens in der jeweiligen Gesellschaft bilden.

Mall, Ram Adhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie - eine neue Orientierung. 194 S., kt., DM 39.80, 1995, Primus, Darmstadt. Zum Begriff der Interkulturalität in der Philosophie mit Ausführungen über chinesische, indische, europäische, afrikanische und lateinamerikanische Philosophie.

Senghaas, Dieter: Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst. 240 S., kt., DM 18.80, es 2081. 1998, Suhrkamp, Frankfurt a.M. Diskutiert das Verhältnis zwischen chinesischer, islamischer, buddhistischer sowie hinduistischer Tradition und Moderne und plädiert für neue Orientierung von Dialogen.

Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Geschichte und Theorie. 304 S., kt., DM 56.--, 1990, Passagen, Wien. Behandelt einerseits Motive und Möglichkeiten interkultureller Orientierung im Philosophieren, andererseits die Geschichte der Darstellungen außereuropäischer Philosophie bis zur Aufklärung.

Darstellungen

Josef Estermann: Interkulturelle Philosophie und Mission. Wege zwischen Fundamentalismus und Globalisierung. In: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft, 1997, S. 285-298. Konzentriert sich auf Fragen, die mit Religion bzw. Theologie zusammenhängen und bringt vor allem die lateinamerikanische Debatte zum Thema.

Georg Stenger: Interkulturelles Denken - Eine neue Herausforderung für die Philosophie. Ein Diskussionsbericht. In: Philosophisches Jahrbuch, 1996, H. 1, S. 90-103 und H. 2, S. 323-338. Geht von der Diversität der Fragestellungen und Begrifflichkeiten aus und sucht sie vertrauten Richtungen wie der Phänomenologie zuzuordnen.

Franz M. Wimmer: Sich selbst genug? Eine kleine Geschichte der interkulturellen Philosophie. In: Der blaue Reiter, 1996, Nr. 4, S. 97-101. Bringt einen Versuch, Fragestellungen zu sichten.


UNSER AUTOR:

Franz Martin Wimmer ist a.o. Professor für Philosophie an der Universität Wien. Arbeitet zu Fragen interkultureller Philosophie, Sozialphilosophie und Geschichte der Philosophie. Näheres siehe Internet:
http://mailbox.univie.ac.at/Franz.Martin.Wimmer