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STUDIUM

Anne Reichold:
Strawsons "Individuals" lesen

Strawsons „Individuals“ lesen

Hinweise von Anne Reichold

 

 


Warum Strawson lesen?

 

Die Lektüre von Strawsons Individuals lohnt sich aus unterschiedlichen Gründen: Bei dem 1959 erschienenen Essay des Oxforder Philosophen handelt es sich um ein zentrales Werk in der Tradition der analytischen Sprachphilosophie und Ontologie. In Individuals finden sich sowohl deutliche Spuren des seit 1929 in Cambridge lehrenden „späten“ Ludwig Wittgenstein und der in den 1940er und 50er Jahren in Oxford entstehenden „ordinary language philosophy“ um Gilbert Ryle als auch Absetzbewegungen von dieser Tradition durch eine Systematisierung der Sprache und Verweise auf ontologisch grundlegende Strukturen.

 

Individuals weist aber auch über die Traditionen der analytischen Sprachphilosophie hinaus – oder besser gesagt zurück – auf klassische Fragen der abendländischen Erkenntnistheorie und Metaphysik. Bezüge zur aristotelischen Kategorienschrift finden sich ebenso wie explizite Verweise auf Kant und dessen Transzendentalphilosophie.

 

Was Strawsons Individuals interessant und auch wirkmächtig macht, ist die tiefe Verwurzelung des Werkes in der analytischen Sprachphilosophie bei gleichzeitiger Anknüpfung an Autoren der philosophischen Tradition wie Aristoteles und insbesondere Kant. Die Lektüre seines Werkes kann also in spezifische Denk- und Argumentationsrichtungen der  analytischen Philosophie einführen und zugleich ihre Abgrenzung, aber auch ihrer Kontinuität zu philosophischen Projekten der Neuzeit sichtbar machen.

 

Das erste Wort des Buches lautet „Metaphysik“, und es gibt wohl kaum einen anderen Begriff, der die Verbindung zur philosophischen Tradition stärker herstellt als der der Metaphysik. Und es gibt auch kaum einen anderen Begriffskomplex, der im Kontext der analytischen Philosophie stärker angegriffen, abgelehnt, als sinnlos erwiesen wurde als die klassischen Fragen der Metaphysik. 

 

Russell und Wittgenstein

 

Die analytische Philosophie hat eine doppelte Wurzel im Cambridge des beginnenden 20. Jahrhunderts. Diese Wurzel reicht zurück bis zu den Arbeiten von George Edward Moore und Bertrand Russell. Russell sieht den Königsweg der Philosophie in der Analyse. Die hier praktizierte Form der Analyse, von der sich Strawson später distanziert, versteht sich als Zerlegung komplexer Dinge in ihre nicht weiter analysierbaren Bestandteile.

 

Die Tatsachen haben nach Russell eine logische Struktur, die in der logischen Analyse zum Ausdruck gebracht werden kann. Die normale Sprache und ihre grammatische Form verdecken dabei oft die wahre logische Struktur der Tatsachen. Die natürliche Sprache ist für Russell als Wegweiser zur Struktur der zum Ausdruck gebrachten Tatsachen daher äußerst irreführend.

 

Die logische Form ist bei Russell nun nicht bloß eine Struktur der Sätze oder der Sprache, sondern er vertritt zunächst (bis 1910) eine extreme Form des Realismus, der zufolge die logische Form der Tatsachen den logischen Aufbau der Welt erkennen lässt.  1911 kommt der junge Wittgenstein nach Cambridge, wo er sowohl durch Schriften von als auch durch Gespräche mit Russell und Moore geprägt wird. Sein 1921 erschienener Tractatus logico-philosophicus enthält  Grundannahmen, die er zum Teil in seiner späteren Philosophie als Fehler ablehnt. Er akzeptiert etwa eine Spielart des metaphysischen Realismus. Die einfachen Gegenstände des Tractatus sind ein Erbe der realistischen Ontologien von Frege, Moore und Russell.

 

Wittgenstein betont von Anfang an die strenge Unterscheidung von Philosophie und Naturwissenschaften. Die Aufgabe der Philosophie ist es nicht, allgemeinste Aussagen über das Universum zu machen, das obliegt der Physik. Ebenso wenig beschäftigt sie sich mit dem Funktionieren des Geistes, das tut die Psychologie. Sie untersucht auch nicht das metaphysische Wesen der Dinge in synthetischen Aussagen a priori. Philosophie soll fortan keine Theorien formulieren, keine Thesen vertreten, sondern als Tätigkeit sich der logischen Analyse widmen. Sie steuert nichts zum menschlichen Wissen, wohl aber zum menschlichen Verstehen bei.

 

In einer Bemerkung des Tractatus, in der sich die für die spätere analytische Philosophie charakteristische Wende zur Sprache ankündigt, schreibt Wittgenstein: „Alle Philosophie ist `Sprachkritik´ [...]. Russels Verdienst ist es gezeigt zu haben, daß die scheinbare logische Form des Satzes nicht seine wirkliche sein muß.“ (4.0031)

 

Die Aufgabe der Philosophie ist das Beseitigen von Missverständnissen, das Ausräumen von Unklarheiten und die Auflösung von Problemen, die sich aus verwirrenden Merk­malen der Oberflächengrammatik natürlicher Sprachen ergeben. Die Ergebnisse der Philosophie sind nicht philosophische Sätze, sondern die Klärung nichtphilosophischer Sätze.

 

1929 geht Wittgenstein nach Cambridge, wo er den philosophischen Standpunkt des Tractatus aufgibt und anfängt, andere Wege in der Sprachphilosophie zu gehen. Insbesondere kritisiert er nun den logischen Atomismus und den metaphysischen Realismus. Es besteht seiner Meinung nach keine interne Beziehung zwischen der Sprache und einer außersprachlichen Wirklichkeit, sondern es bestehen grammatische Beziehungen zwischen Ausdrücken. Es sind die Regeln unserer Sprache, die ihren Gebrauch ermöglichen, nicht die Tatsachen in der Welt. Die logische Form reflektiert Wittgenstein zufolge also nicht das Wesen der Dinge, sondern sie verweist auf die Grammatik der Ausdrücke.

 

Immer stärker rückt die Rede von Sprachspielen, in deren Kontext Begriffe Bedeutung erlangen, in den Vordergrund von Wittgensteins Denken. 1953, einige Jahre vor Strawsons Individuals, erscheinen Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, in denen er u. a. Befehlen und Nach-Befehlen-Handeln, Beschreiben, Theater spielen, Bitten, Danken und Beten als Beispiele unterschiedlicher Sprachspiele nennt (PU § 23). Er widmet sich nun ganz der Aufgabe, die sich verzweigenden Maschen des sprachlichen Netzes zu klären.

 

Die Analyse ist hier keine Zerlegung mehr, sondern ein durch Paraphrase wirkendes Gegenmittel, dessen Bedeutung darin liegt, dass es der Verwirrung Einhalt gebietet, in die man beim Nachdenken über die Worte gerät. Die Ordnung der Sprache ist nicht unter der natürlichen Sprache verborgen, sondern sie bietet sich dar im Gebrauch und in den Regeln des Gebrauchs der Sprache.

 

„Die Philosophie darf den tatsächlichen Ge­brauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben.“ (PU § 124)

 

Die ordinary language philosophy

 

Beeinflusst durch die Wittgensteinsche Konzentration auf die normale Sprache entsteht  im Oxford der Nachkriegszeit unter Gilbert Ryle und John Austin das, was als „Philosophie der normalen Sprache“, „ordinary language philosophy“ oder einfach „Oxford-Analyse“ bekannt ist. Diese philosophische Strömung prägt auch Strawson, der vor dem Zweiten Weltkrieg in Oxford Philosophie studiert hatte und nach dem Krieg als Fellow dorthin zurückkommt und beginnt, Lehrveranstaltungen zu halten.

 

Die Vorstellung der Analyse der normalen Sprache ist hier auf eine Paraphrase, Auflistung und Beschreibung eines Netzes von Bedeutungen und Zusammenhängen im Ge­brauch von Begriffen gerichtet. Das erste Werk, das diese neue Philosophie in großem Stil anwendet und verwirklicht, ist Gilbert Ryles The concept of mind. Neben Gilbert Ryle, der 1945 auf einen Lehrstuhl in Oxford berufen wird und dessen Nachfolger Strawson 1968 wird, prägt insbesondere John Austin das philosophische Denken im Nachkriegsoxford.

 

Austin wirkt in Oxford insbesondere durch seine berühmten Samstagvormittag-Veran­staltungen, die er für gleichaltrige und jüngere Fellows ohne Lehrstuhl, aber mit Lehraufgaben abhielt und an denen auch Strawson teilnahm. Sie bildeten den Kern der sogenannten „Philosophie der normalen Sprache“.

 

Die Gruppe vertritt aber keineswegs eine einheitliche philosophische Position. Die grobe verbindende Auffassung formuliert Paul Grice, mit dem Strawson später zusammen lehrt und veröffentlicht, so:

 

Die einzige Position, die meines Erachtens allgemeine Zustimmung gefunden hätte, dürfte im Grunde die Behauptung gewesen sein, daß eine sorgfältige Untersuchung der Einzelmerkmale der normalen Rede erforderlich ist, um dem philosophischen Denken eine Grundlage zu geben.“ (Grice 1986, 51)

 

Gilbert Ryle bezeichnet die Philosophie in The concept of mind als „logische Geographie“. Sie hat die Aufgabe, einen Überblick über die logischen Grundstrukturen unserer Sprache zu geben und dabei insbesondere Kategorienverwechslungen aufzudecken, die häufig die Ursache philosophischer Probleme sind. Berühmt ist hier Ryles Metapher vom Geist als „Gespenst in der Maschine“, die er als „Descartes Mythos“ bezeichnet. Dieser in der philosophischen Tradition äußerst wirkmächtige Mythos besteht darin, den Geist als ein Ding zu verstehen, das sich von anderen Dingen, nämlich den körperlichen Dingen unterscheidet.  Diese Vorstellung nimmt   Ryle mit der Metapher vom „Gespenst in der Maschine“ aufs Korn. Seiner Meinung nach ist es eine Kategorienverwechslung, vom Geist als einem Ding zu sprechen. Aus dieser in der Tradition zur Gewohnheit gewordenen Verwechslung entspringen einige der tiefsten philosophischen Probleme – etwa das Körper-Geist-Problem. Die Aufgabe der Philosophie besteht hier nicht in einer Antwort auf das Problem, sondern in einer Auflösung des Problems, indem man die tatsächlichen Kategorienzuordnungen klärt. In diesem Fall etwa sagt Ryle: Geistige Bestimmungen beschreiben kein Ding, sondern eine Disposi­tion.

 

Strawson nimmt die Rylesche Kritik am Geist-Körper-Dualismus in Individuals auf, kritisiert aber dennoch die Vorstellung der Philosophie als „logischer Geographie“. Die logische Geographie beschreibt nur und listet auf, sie tut aber etwas anderes nicht, was Strawson wichtig ist: sie systematisiert und hierarchisiert nicht. Sie führt also zu keiner systematischen Beschreibung des Begriffssystems, und diese systematische Aufgabe sieht Strawson in Individuals als eine für die Philosophie wesentliche an.

 

Eine andere Metapher, die Strawson diskutiert und zum Teil kritisiert, ist die Wittgensteinsche Vorstellung der Philosophie als Therapie. In der Spätphilosophie beschreibt Wittgenstein philosophische Probleme oder Fragen als Krankheiten, von denen die Philosophie uns heilen soll. Sie heilt, indem sie die Probleme durch Sprachkritik auflöst. Strawson hält diese Metapher zwar für hilfreich, der Philosophie wird hier aber eine rein negative, destruktive Stoßrichtung gegeben.

 

Strawson dagegen schreibt der Philosophie durchaus eine positive, konstruktive Funk­tion zu: Sie steht in der gleichen Relation zu unserem Begriffssystem wie eine korrekte Grammatik zu einer linguistischen Praxis. Wir folgen den grammatischen Regeln, ohne sie explizit formulieren zu können oder zu müssen. Ebenso machen wir Gebrauch von einem ungeheuer reichen, komplexen Be­griffsapparat, ohne die Regeln zu kennen, die diese Begriffe systematisch miteinander verbinden. Wir müssen diese Regeln auch nicht kennen, um die Sprache zu beherrschen, denn wir lernen eine Sprache praktisch und durch Beispiele, nicht theoretisch und durch Angabe von Prinzipien. Philosophie ist Strawson zufolge die bewusste Meta-Akti­vität, die die Theorie der begrifflichen Praxis formuliert. Sie liefert ein klares und explizites Verständnis der Prinzipien, die unseren Gebrauch der Begriffe leiten. Philosophie erscheint in dieser grammatischen Auffassung im Unterschied zur therapeutischen Analogie als konstruktiv und positiv. Strawson bezeichnet seine Methode manchmal als „verbindende Analyse“, andere Autoren vergleichen seine Philosophie mit einer „begrifflichen Anatomie“.

 

Die Grundfrage von „Individuals“

 

Die Grundfrage von Individuals ist zugleich auch das, was Strawson später selbst als „Leitmotiv“ seiner Philosophie bezeichnet hat: die Frage nach den allgemeinsten Grundzügen unseres Begriffssystems, mit dem wir uns sowohl auf uns selbst und unsere Erfahrungen als auch auf Gegenstände der Erfahrung in der Welt beziehen.

 

Wenn ich während einer gemeinsamen Wanderung mit Freunden ausrufe: „Da ist ein Reh“, so beziehe ich mich darin auf etwas, von dem ich annehme, dass nicht nur ich es sehen und identifizieren kann, sondern auch meine Weggefährten. In diesem Vorgang der Bezugnahme, also der Referenz, ist aber eine Menge vorausgesetzt. Es ist vorausgesetzt, dass das Objekt, auf das ich mich beziehe, nicht nur von mir identifiziert werden kann, sondern auch von anderen. Könnte nur ich mich darauf beziehen, weil es etwa eine subjektive Vorstellung ist, wäre eine Verständigung darüber gar nicht möglich. Das Objekt der Referenz ist also öffentlich, es muss im Prinzip auch identifizierbar sein, sonst könnten wir darüber nicht sprechen.

 

Was aber heißt es, dass das Objekt, auf das ich mich identifizierend beziehe, öffentlich ist? Es heißt nach Strawson, dass es raumzeitlich identifizierbar sein muss, denn Raum und Zeit bilden in unserem Begriffssystem den grundlegenden Rahmen, innerhalb dessen wir Einzeldinge identifizieren. Kommunikation kann nur gelingen, wenn es einen einheitlichen Bezugsrahmen gibt, in den sowohl die Gegenstände, auf die wir uns beziehen, als auch wir selbst als kommunizierende Personen eingeordnet sind. Und dieser Rahmen ist nach Strawson der raumzeitliche.

 

Deskriptive Metaphysik

 

Der Untertitel von Individuals lautet: „An essay in descriptive metaphysics“. Strawsons Untersuchung der grundlegenden Einzeldinge im Vorgang der Referenz und Identifikation ist keine rein linguistische oder logische, sondern sie ist dem Anspruch nach metaphysisch. Die Metaphysik hat hier die Aufgabe, die grundlegendsten, allgemeinsten und nicht weiter reduzierbaren Strukturen unseres Be­griffssystems zu beschreiben. Deskriptive Metaphysik unterscheidet sich in der Art und Methode zunächst nicht von anderen begrifflichen oder logischen Analysen. Es ist vielmehr ihr Umfang und die Allgemeinheit der Fragestellung, die sie davon absetzt. Während eine begriffliche Analyse auf jeder Ebene der Allgemeinheit ansetzen kann und keine Aussage darüber macht, wie grundlegend oder allgemein das behandelte Phänomen ist, verweist  Strawson auf eine Hierarchie von begrifflichen Untersuchungen im Hinblick auf ihrer Allgemeinheit oder Grundlegung.

 

Die allgemeinsten Strukturen unseres Be­griffssystems sind im Unterschied zu vielen anderen Besonderheiten unserer Sprache nicht kontingent oder veränderbar, sondern sie bilden ein hinter der historisch sich wandelnden konkreten Sprache liegendes Be­griffsnetz, das jeder Sprache, die sich auf Gegenstände bezieht und darin die Unterscheidung zwischen subjektiven Erfahrungen und unabhängig vom Subjekt existierenden Gegenständen der Erfahrung macht, zugrunde liegt.

 

„Die Struktur, nach der der Metaphysiker sucht, gibt sich nicht an der Oberfläche der Sprache zu erkennen, sondern liegt unter ihr verborgen. [...] Es gibt nämlich im


menschlichen Denken einen sehr großen Zentralbereich, der keine Geschichte hat [...]. Es gibt Kategorien und Begriffe, die sich in ihrem Grundcharakter überhaupt nicht ändern. Offensichtlich sind dies nicht die Spezialbegriffe des höchst entwickelten Denkens. Es sind die Selbstverständlichkeiten des am wenigsten entwickelten Denkens, die demnach unabweislich den Kern für das begriffliche Rüstzeug auch des anspruchsvollsten Kopfes ausmachen.“ (10 / 11)

 

Hier zeigt sich, dass Strawson nicht bei einer Beschreibung der normalen Sprache stehen bleibt, sondern dass er unter die Oberfläche der Sprache zurückgehen möchte. Schon in diesem Punkt unterscheidet er sich von anderen Vertretern der Philosophie der normalen Sprache. Metaphysik bedeutet für Strawson: zeitlose, notwendige Strukturen unseres begrifflichen Bezugs zur Welt aufzudecken. Strawson nimmt  das philosophiegeschichtliche Motiv der Transzendenz metaphysischer Strukturen auf, indem er es auf die Sprache überträgt: Jenseits, also unter der Oberflächenstruktur der Sprache liegt die metaphysisch relevante Struktur des notwendigen Begriffssystems. 

 

Was aber kann in einer Untersuchung über die Sprache oder unser Begriffssystem metaphysisch sein, da es doch gar keine Untersuchung der Wirklichkeit, der tatsächlichen Dinge ist und also auch kein Jenseits der physikalischen Realität bezeichnet, sondern höchstens ein Jenseits der Oberflächengrammatik?  Wie kommt Strawson von der Sprache zur Welt, von den grundlegenden Strukturen des Begriffssystems zur Ontologie, zur Lehre vom Sein?

 

Strawson bezeichnet seine Untersuchung nicht nur als metaphysisch, sondern an anderer Stelle auch als ontologisch, als etwas über das Sein der Dinge aussagend. In My Philosophy sagt er: „Logik und Grammatik zeugen die Ontologie.“

 

 

 

Beziehung zu Kant

 

Die Verbindungen zwischen Analyse des Begriffssystems und Metaphysik, die Strawson in Individuals vornimmt, können auch durch den Ort von Individuals im Schreiben Strawsons anschaulich gemacht werden. Das erste Buch, das Strawson schreibt, ist eine Einführung in die Logik (Intrdoduction into logical theory, 1952).  Das Buch, das Strawson nach Individuals (1959) schreibt, ist ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, The bounds of sense (1966), im Deutschen Die Grenzen des Sinns. Dieses Buch hat eine neue Kantrezeption innerhalb der analytischen Philosophie in Gang gesetzt und einflussreiche Überlegungen zur Möglichkeit und zum Status transzendentaler Argumente hervorgebracht.

 

Individuals steht also zwischen einem Werk zur modernen Logik und einem Kommentar zu dem Buch, das die Metaphysik auf feste, wissenschaftliche Füße stellen wollte und die Transzendentalphilosophie begründete. Strawson selbst beschreibt die Entwicklung von Individuals in diesem Kontext nicht als Bruch, sondern als kontinuierliche Entwicklung ähnlicher Fragen. Was man logisch als Analyse des Begriffssystems ausdrücken kann, kann man auch metaphysisch ausdrücken. Strawson selbst formuliert die Ausgangsfrage von Individuals später transzendentalphilosophisch: „Was sind die Bedingungen der Möglichkeit bestimmter Formen des Wissens und der Erfahrung?“

 

Kants Metapher der Grenze, die Strawson in den Titel seines Kantkommentars aufnimmt, markiert das, was die metaphysischen Überlegungen auch in Individuals freilegen sollen: Strukturen unserer Vorstellung und Beschreibung, die die Welt und unsere Erfahrung so grundlegend bestimmen, dass wir uns jenseits dieser Grenzen nicht mehr sinnvoll gedanklich bewegen können. Strawson möchte diese Grenzen in seinen Analysen zum Begriffssystem aufdecken, und er interpretiert Kant als einen der bedeutendsten philosophischen Vorgänger in diesem Projekt.

 

Eine wesentliche Grundstruktur der Erfahrung ist die oben schon genannte Unterscheidung zwischen subjektiven Erfahrungen und Gegenständen dieser Erfahrung. Dass wir diese Unterscheidung machen können, beruht auf begrifflichen Strukturen, die sich durch Begriffsanalyse aufdecken und auffinden lassen. So ist es weder subjektivistisch noch idealistisch, sondern ganz realistisch gemeint, wenn Strawson sagt, dass Logik und Grammatik die Ontologie gebären.

 

Körper und Personen

 

Strawsons These ist, dass die grundlegenden Einzeldinge in unserem Begriffssystem materielle Körper und Personen sind. Wir bauen unser Bild von der Welt aus einzelnen Dingen und Ereignissen auf und sind bei der Einordnung von Situationen und Objekten zum Teil schon mit sehr groben Beschreibungen zufrieden. Wir tun dies nach Strawson „völlig rational“ im Vertrauen auf eine gewisse Gemeinsamkeit unserer Erfahrungen und Informationsquellen. Wir bauen dabei auf ein einziges Bild, „eine einheitliche Struktur, in der wir selbst einen Platz einnehmen und in der jedes Element als direkt oder indirekt auf ein anderes bezogen betrachtet wird“.  Der Rahmen dieser Struktur ist der raumzeitliche.

 

Das raumzeitliche Beziehungssystem ist so umfassend, dass es sich wie kein anderes eignet, unser individuierendes Denken über Einzeldinge zu ordnen. Jedes Einzelding hat entweder einen Platz in diesem System oder es gehört zu den Dingen, die nur durch Bezugnahme auf raumzeitliche Einzeldinge individuiert werden können. Körper sind insofern grundlegend, als sie durch ihre raumzeitlichen Eigenschaften zu allen anderen Körpern in eindeutigen Beziehungen stehen.

Es ist also kein zufälliger Zug der empirischen Realität, dass sie ein raumzeitliches System bildet. Angenommen jemand erzählt von einem Ereignis, sagt aber auf die Frage, wo und wann es sich zugetragen habe, dass es nicht zu unserem raumzeitlichen System gehöre, dass es also in keiner räumlichen und zeitlichen Relation zu uns stehe. Wir würden daraufhin sagen, dass dieses Ereignis gar nicht wirklich stattgefunden habe. Der Begriff der Wirklichkeit zeigt an, dass etwas in das raumzeitliche System eingeordnet werden kann. Das raumzeitliche System prägt „unsere gesamte Art zu reden und zu denken“ und ist aus diesem Grund nicht kontingent.

 

Die Möglichkeit der eindeutigen Identifika­tion beruht nun aber darauf, dass wir annehmen, nicht jeder verwende ein anderes, nur ihm eigenes raumzeitliches System, so dass es unendlich viele gebe, sondern dass es sich um ein einziges derartiges System handelt. Wir sind als Sprecher selbst eingeordnet in das raumzeitliche System. Wir selbst und unsere unmittelbare Umgebung stellen einen Bezugspunkt dar, der das Netz individuiert und so auch die Individuation der Einzeldinge möglich macht. Das System liegt nicht in uns und es hat auch nicht jeder sein eigenes System. Strawson bezieht sich hier auf Wittgensteins Argumente gegen eine private Sprache. Wörter wie „hier“, „jetzt“, „ich“, „du“ sind Wörter unserer gemeinsamen, nicht einer privaten Sprache. Diese konstituiert als öffentliche Sprache ein die Individuen verbindendes Bezugssystem. Nur als derart allgemeine oder öffentliche kann sie Bedeutung haben.

 

Geistige Entitäten wie Empfindungen, Gefühle, Sinneseindrücke oder Gedanken sind für Strawson im Unterschied zu materiellen Objekten das beste Beispiel für ontologisch abhängige Begriffe. Sie sind abhängig, weil sie sich nicht unabhängig von den Subjekten, denen sie zugeschrieben werden, identifizieren lassen. Es ist sinnlos zu sagen, es gebe einen Schmerz in diesem Raum, aber niemanden, der diesen Schmerz habe. Wenn ich von Schmerz rede, dann rede ich von jemandes Schmerz, und dieser jemand ist nach Strawson eine raumzeitlich lokalisierbare Person.

 

Hier befinden wir uns bereits mitten in Strawsons Argumentation für die zweite grundlegende Kategorie von Einzeldingen neben den materiellen Körpern: die Kategorie der Person. In Individuals wird der Personbegriff in direkter Kritik am kartesischen Dualismus als ontologisch primäre Einheit von Körper und Geist eingeführt. Personen erhalten bei Strawson eine grundlegende Position in der Ontologie, weil sie die einheitlichen Referenten von geistigen und physikalischen Zuschreibungen sind. Wir sagen von einer Person sowohl, dass sie 60 kg wiegt und 1,65 m groß ist – schreiben ihr hier also  körperliche Bestimmungen zu – als auch, dass sie beabsichtigt, in Flensburg zu studieren oder dass sie heute Abend schwimmen gehen möchte. Mit Absichten und Wünschen schreiben wir ihr also mentale oder geistige Bestimmungen zu. Es ist für uns in der Alltagssprache völlig klar, dass wir beides von ein und derselben Person sagen und nicht das eine von einer körperlichen Entität, das andere von einer geistigen-unkörperlichen.

 

Als ontologische Grundbausteine unseres Begriffssystems dürfen Person nicht als zusammengesetzt aus geistigen und körperlichen Elementen gedacht werden, sondern sie bilden eine ursprüngliche Einheit des Geistigen und des Körperlichen. 

 

„Mit dem Begriff der Person meine ich den Begriff eines Typs von Entitäten derart, daß ein und demselben Individuum von diesem einen Typ sowohl Bewußtseinszustände als auch körperliche Eigenschaften, eine physikalische Situation etc. zugeschrieben werden können.“ (130)

 

Strawson bezeichnet den Begriff der Person als primitiven Begriff („primitive concept“), da er nicht auf grundlegendere Begriffe zurückgeführt werden kann. Die dualistische Unterscheidung zwischen Geist und Körper ist eine Abstraktion, die auf einer ontologisch grundlegenden Ebene gar nicht formuliert werden kann.

 

Der Begriff der Person fungiert hier als Alternative zu der Annahme eines rein geistigen Subjekts in der Art der kartesischen „res cogitans“. Ein rein geistiges Subjekt kommt nach Strawson als Referent für Selbstzuschreibungen nicht in Frage, da ein geistiges Subjekt gar nicht identifiziert werden kann.

 

Nach Strawson setzt schon die Verwendung des Wortes „ich“ einen raumzeitlichen Bezugsrahmen voraus, da die Ausdrücke „ich“ und „mein“ immer schon voraussetzen, dass wir uns von anderen Subjekten unterscheiden. Selbstzuschreibung und Fremdzuschreibung sind nach Strawson wechselseitig voneinander abhängig. Andere aber können nur identifiziert werden, wenn sie nicht ausschließlich Subjekte privater, geistiger Bestimmungen und Erfahrungen, sondern zugleich körperliche Subjekte sind.

 

Der raumzeitlich gedachte Personbegriff liegt der Verwendung von rein mentalen Begriffen somit zugrunde. Ohne die Annahme von Personen als Subjekten von Bewusstseinsprädikaten könnten mentale Bestimmungen gar nicht identifiziert und damit nicht sinnvoll verwendet werden. Geistige Bestim­mungen sind abhängige Bestimmungen, weil sie sich nicht unabhängig von den Subjekten, denen sie zugeschrieben werden, identifizieren lassen. Und diese Subjekte sind nach Strawson Personen.

 

Weitere Untersuchungen

 

Strawsons Individuals enthält neben den Kapiteln zu materiellen Körpern und Personen im ersten Teil noch weitere Untersuchungen etwa zur Vorstellung der Monaden bei Leibniz oder ein großangelegtes Gedankenexperiment zur Frage, ob wir uns in einer nur aus Geräuschen bestehenden Welt Einzeldinge denken können. Die Methode der Gedankenexperimente, die Strawson von Wittgenstein übernimmt, erlaubt ihm die Untersuchung nicht nur unseres wirklichen Begriffssy­stems, sondern auch die Untersuchung möglicher anderer Begriffssysteme. Diese Untersuchung ist wichtig, um den Status metaphysischer Aussagen als notwendige Bedingungen des Begriffssystems zu begründen. Etwas, das wir uns durchaus anders denken können, ist nicht begrifflich notwendig, sondern nur faktisch und kontingenterweise wahr. Gedankenexperimente sind so für


Strawson ein Mittel zur Untersuchung transzendentalphilosophischer Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung.

 

Literatur:

 

Grice, Paul: Reply to Richards. In: R. E. Grandy / R.Warner (Hg.): Philosophical Grounds of Rationality. Oxford 1986

 

Strawson, Peter F.: Einzelding und logisches Subjekt (Individuals). Ein Beitrag zur deskriptiven Metaphysik. Stuttgart 1972

 

Strawson, Peter F.: Individuals. London 1959

 

Strawson, Peter F. (1995): My Philosophy. in: Sen, P.K./Verma, R.R. (Hg.), a.a.O., 1-18

 

Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe in acht Bänden, Band 1. Frankfurt/Main 1997 (11. Aufl.)

 

Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Band 1. Frankfurt/Main 1997 (11. Aufl.)

 

Sekundärliteratur

 

Brown, Clifford: Peter Strawson. McGill 2006

 

Glock, Hans-Johann (Hg.): Strawson and Kant. Oxford 2003

 

Hacker, Peter M.S.: Wittgenstein im Kontext der analytischen Philosophie. Frankfurt / Main 1997

 

Hahn, Lewis Edwin (Hg.): The Philosophy of P.F. Strawson. Chicago / Lasalle 1998

 

Sen, Pranab K. / Verma, Roop R. (Hg.): The Philosophy of P.F. Strawson. New Delhi 1995

 

UNSERE AUTORIN:

 

Anne Reichold ist Juniorprofessorin für Philosophie an der Universität Flensburg.