PhilosophiePhilosophie

01 2014

Bernd Ladwig:
Wie praktisch kann die politische Philosophie sein? Ein Vorschlag

aus Heft 1/2014, S. 35-41

Mit Stellungnahmen von Barbara Bleisch, Corinne Duc, Oliver Hidalogo, Thomas Pogge


Vier Irritationen

Die politische Philosophie ist eine Unterabteilung der praktischen Philosophie, die uns im Handeln Orientierung geben soll. Die politische Philosophie soll dies mit Blick auf die politischen Kontexte unserer Zuständigkeit tun. Aber inwieweit kann sie das? Am Anfang der folgenden Überlegungen stehen vier Irritationen, die mich als politischen Philosophen zunehmend beunruhigen.

Erste Irritation: Unsere Universität unterhält einen „Expertendienst“. Dieser vermittelt mir immer wieder journalistische Anfragen zu Themen, die mit politischer Moral zu tun haben. Könne ich nicht zum Beispiel zu Hartz-IV-Regelsätzen oder zu Flüchtlingsprotesten als Experte etwas sagen? Wenn ich ehrlich sein will – ich will das, eitel wie ich bin, leider nicht immer –, antworte ich: „Soweit es ums ganz Grundsätzliche, um Fragen des Prinzips geht, gern; aber sofern Sie etwas zu Policy-Vorschlägen hören wollen, kann ich mich dazu bestenfalls als interessierter Bürger und Zeitgenosse äußern. Wenn Sie echtes Expertenwissen wollen, so müssen Sie Empiriker oder Juristen fragen – die uns die letztendliche Bewertung freilich auch nicht abnehmen können.“

Das Problem ist, dass neun von zehn Anfragen auf eben solche Policy-Vorschläge abzielen. Und die Erwartung scheint auch nicht unbillig zu sein, dass politische Philosophen, da sie ja mit ihrer Forschung praktische Ansprüche verbinden, zu drängenden Fragen der politischen Praxis etwas Fundiertes sagen können sollten. Ich merke aber immer wieder, dass dazu die Abstraktionshöhe meiner genuin politisch-philosophischen Arbeiten, etwa zu Gerechtigkeit oder zu Menschenrechten, viel zu groß ist. Und damit ist auch die Fallhöhe zwischen diesem Abstraktionslevel und den journalistischen Erwartungen erheblich.

Zweite Irritation: Man könnte nun aus der ersten Not eine Tugend machen. Man könnte die Erwartung, dass wir als Experten zu Fragen der politischen Moral auskunftsfähig sein sollten, für grundsätzlich verfehlt halten. Mit Habermas gesagt: „In einem Aufklärungsprozess gibt es nur Beteiligte“. Es gibt demnach keine Experten in Fragen normativ-praktischer Orientierung; ein solcher Anspruch wäre geradezu antiemanzipatorisch. Habermas fügt hinzu, dass wir gleichwohl noch etwas Besonderes zu bieten haben: Wir können uns als Philosophen um die Klärung des moralischen Standpunkts bemühen und die notwendigen Voraussetzungen namhaft machen, die daraus für die normativ-praktische Verständigung folgen. Wir sind sozusagen für die universale Grammatik moralischer Kommunikationen, nicht aber für deren besondere Gehalte zuständig – ausgenommen solche Gehalte, die sich aus der Grammatik selbst ergeben.

Aber genügt das? Journalisten und auch politische Aktivisten wollen gewöhnlich konkretere Dinge wissen: Sollen Sammellager für Flüchtlinge aufgelöst werden und Arbeitsverbote fallen; soll eine allgemeine Grundsicherung an die Stelle der Bedarfsprüfungen nach Hartz-IV treten usw. Und wiederum: Sollten wir nicht als praktische Philosophen, für deren Forschungen die Allgemeinheit Geld und Räume bereitstellt, mehr sagen können als: „Wir müssen unter fairen Randbedingungen als Bürgerinnen und Bürger in den argumentativen Streit eintreten“?

Dritte Irritation: Nun gibt es politische Philosophen, die über einen Habermasschen Prozeduralismus hinaus auch substantiell zu Fragen der Gerechtigkeit und der Rechte etwas zu sagen versuchen. Zwei für meine eigenen Arbeiten maßgebliche Beispiele bilden John Rawls und Ronald Dworkin. Beide wollten materiale Prinzipien gerechter Güter- oder Ressourcenverteilung begründen: Rawls das Differenzprinzip, Dworkin das Prinzip einer verantwortungssensitiven Gleichheit der Ressourcen. Beide benutzten dazu Modelle, die ihren Argumentationen den Anschein großer Nähe zu Arbeiten der spieltheoretischen Ökonomie gaben. Doch einmal angenommen, die daraus resultierenden Prinzipien sind überzeugend: Sind sie so spektakulär, dass sie den großen technischen Begründungsaufwand rechtfertigen?

Dworkin etwa gelangt im Zuge einer ungemein verwickelten Beweisführung zu dem Ergebnis, eine staatliche Pflichtversicherung mit Blick auf Krankheiten und Behinderungen wäre gerecht. Die Summe der Einzahlungen sollte allen Beteiligten die Möglichkeit geben, auch im schlechtesten Fall noch annehmbar leben zu können. Eine vollständige Kompensation dürften sie allerdings nicht erwarten, weil sonst die Kosten für die Menschen ohne Krankheiten und Behinderungen prohibitiv ausfielen.
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