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Medizin: Das Autonomieprinzip in der Kritik

Das Autonomieprinzip in der Kritik

 

Interessanterweise haben die Ökonomisierung und die Ethisierung der Medizin zur gleichen Zeit begonnen, nämlich um 1980. Der Sozialpsychiater Klaus Dörner

vermutet in seinem Artikel

Dörner, Klaus: Alles dreht sich um den autonomen Patienten, aber was ist ein guter Arzt?, in: Illhardt, F.J.: Die ausgeblendete Seite der Autonomie, Kritik eines bioethischen Prinzips (2008, Lit-Verlag)

 

einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Phänomen. Im Jahre 1980, so Dörner, wäre niemand, welcher Weltanschauung auch immer, auf die Idee gekommen, das Leben von Menschen im Wachkoma in Frage zu stellen. Heute wird dies  im Namen der verfügten oder gemutmaßten Autonomie des Menschen zunehmend getan. Dabei ahnt jeder Praktiker, dass eine solche Freigabe einen Dammbrucheffekt auslöst, da für den Umgang mit der stark wachsenden Bevölkerungsgruppe der Dementen gleiches Recht gelten muss. Das Konzept der Autonomie des Patienten hat sich in der medizinischen Ethik etabliert und gilt allgemein als akzeptiert. Die Autonomie wird zunehmend mit der Würde des Menschen gleichgesetzt. Damit geht aber nach Dörner einher, dass Menschen, die nicht autonomiefähig sind, also Neu- und Ungeborene, Behinderte, Wachkomatiker, Demente und Sterbende als Menschen zunehmend weniger Anerkennung finden. Kuchenbauer, ein Münchner Richter, warnte deshalb vor einer Entwicklung, „die das menschliche Leben einer Bewertung unterzieht und in der Autonomie des Einzelnen, frei darüber zu entscheiden, ob und mit welchen ethischen Zielsetzungen er von seiner persönlichen Freiheit Gebrauch machen will, den höchsten Wert der Verfassung sieht. Wer diese Fähigkeit nicht oder nicht mehr vollständig besitzt, wäre gezwungen, sein Weiterleben in der Gemeinschaft begründen zu müssen“.

 

Ähnlich besorgt macht Dörner die Institutionalisierung des Spezialfaches Medizinethik mit allen betriebswirtschaftlichen und macht­politischen Eigeninteressen in den etablierten Betrieb der Medizin. Denn Medizinethik fördert nicht die Sensibilisierung der Behandelnden für die Belange des ‚mündigen Patienten’, wie es Gadamer noch sah, sondern die Etablierung von Autonomie als Prinzip. Zwar gibt es durchaus Gegenkonzepte zum Autonomiemodell (etwa dasjenige von Levinas), nur bekommen deren Vertreter für ihre Projekte keine finanziellen Mittel und keine Stellen. Die Verabsolutierung der Autonomie führt dazu, den Menschen einseitig zum isolierten, einsam entscheidenden Individuum zu verkürzen und die reiche Tradition der Medizin als Beziehungswissenschaft zu vernachlässigen. Entscheidungen über Leben und Tod sind in der Praxis oft künstliche Abstraktionen, die gar nicht entstehen würden, wenn die Entscheidung aus den Beziehungen um den konkreten Einzelfall herum entwickelt würde.

 

Der Prozess der Ökonomisierung, so die These Dörners, privilegiert einseitig die    Autonomie, nämlich den Menschen als souveränen Kunden. In dieser Rolle ist er am leichtesten zu manipulieren und zu täuschen; Menschen in Beziehungen sind daher eher marktresistent. Heute werden Leute, die zum Schutz des Menschenrechtes einstehen, gerne als Fundamentalisten abgetan; für Dörner hingegen steht denjenigen, die das Konzept der Autonomie verabsolutieren, viel eher die Bezeichnung „Fundamentalist“ zu. Die Etablierung der Medizinethik führt aber auch umgekehrt zu einer Ent-Moralisierung der Ärzte, die nun wissen, dass sie für solche Fragen die Spezialisten haben.

 

Auch der Theologe Franz Josef Illhardt, Geschäftsführer der Ethik-Kommission der Uni­versität Freiburg, äußert in seinem Beitrag

Illhardt, Franz Josef: Ungelöste Probleme der Autonomie: Unterwegs zu einem neuen Konzept, a. a. O.

Bedenken gegen das Autonomie-Konzept. Wer von der Autonomie des Normalen ausgeht, kann denjenigen, der diesem Normalmaß nicht entspricht, nur dann respektieren, wenn er dieses Defizit etwa durch intensive Zuwendung kompensiert. Deshalb kann   Autonomie nicht die einzige und zentrale Basis sein, von der aus die Therapieverzichtsentscheidung zu rechtfertigen ist. Der Mensch ist nicht nur ein kognitives Wesen, er muss die sozialen Kompetenzen des Patienten und die emotionalen Äußerungen seiner Not genauso berücksichtigen. Der Patient muss der sein dürfen, der er ist, und diese Autonomie kann man nur haben, wenn andere einen autonom sein lassen.

 

Illhardt setzt auf die partizipative statt auf die autonome Entscheidungsfindung. Dies setzt jedoch Dialogfähigkeit voraus: Die Entscheidung des Patienten darf nicht, will sie ethisch gerechtfertigt sein, auf Biegen oder Brechen autonom sein, sondern ist auch – Illhardt greift hier auf Aristoteles zurück – wohlberatene Entscheidung, die auf wechselseitiger Anerkennung basiert. Entscheidung ist danach nicht deshalb gut, weil sie autonom, sondern weil sie Teilhabe ist.

 

Das Konzept der Autonomie hat deshalb Karriere gemacht, weil der früher vorherrschende Paternalismus abgelehnt wurde. Für Illhardt gibt es aber weder Autonomie noch Paternalismus in Reinkultur. Autonomie hat immer Einschränkungen, und sei es nur aufgrund von Kultur und Bildung. Ziel der medizinischen Ethik muss deshalb nach Illhardt partizipative Entscheidungsfindung, letztlich Dialogfähigkeit, sein.